Ein Überblick über eine versteckte, aber stark betroffene Bevölkerungsgruppe
Autorin:
Dr. med. Claudia Bernardini
Leitende Ärztin Innere Medizin & Infektiologie
Arud, Zentrum für Suchtmedizin
Zürich
E-Mail: c.bernardini@arud.ch
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Frauen, die Substanzen konsumieren, gehören zu den am stärksten durch HIV gefährdeten Personen, sowohl durch unsichere Injektionen als auch durch ungeschützten Sex. Sie gehören auch zu den am meisten versteckten Betroffenen, da sie stärker stigmatisiert sind als Männer.
Keypoints
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Die Bedürfnisse von HIV-positiven Patientinnen, die unter Opioid-Agonisten-Therapie sind oder Substanzen konsumieren, werden oft nicht beachtet wegen fehlender wissenschaftlicher Daten und geschlechtsspezifischer Dienste.
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Ausserdem treffen sie Schwierigkeiten beim Zugang zu Bedürfnis-zugeschnittenen Schadensminderungsdiensten und sie sind stärker von Stigmatisierung und Diskriminierung betroffen.
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Es sollten Massnahmen unternommen werden, um geschlechtsspezifische Dienste anzubieten, die den Bedürfnissen von Frauen, die Substanzen konsumieren, entgegenkommen, einschliesslich der Berücksichtigung der sexuellen und reproduktiven Gesundheitsbedürfnisse.
Frauen und HIV
Im Jahr 2021 wurden in 29 Ländern der EU insgesamt 16624 neue HIV-Diagnosen gemeldet. Die um Meldeverzögerungen bereinigte Rate der HIV-Neudiagnosen lag bei 4,3 pro 100000 Einwohner. Dabei war die Rate bei Männern (5,8 pro 100000 Einwohner) höher als bei Frauen (1,6 pro 100000 Einwohner). Das Verhältnis von Männern zu Frauen betrug insgesamt 3,6. In den Ländern, in denen das Männer-Frauen-Verhältnis am höchsten war, wurde die Übertragung des Virus hauptsächlich durch Geschlechtsverkehr zwischen Männern festgestellt. Frauen stellen einen kleinen, aber wichtigen Anteil der von HIV betroffenen Menschen dar, in der Regel zwischen 10% und 30%.
Es gibt verschiedene Faktoren, die bei Frauen das Risiko für eine HIV-Übertragung erhöhen können. Beim vaginalen oder analen Geschlechtsverkehr sind Frauen einem höheren Risiko ausgesetzt, sich mit HIV zu infizieren, da der rezeptive Geschlechtsverkehr im Allgemeinen riskanter ist als der insertive Geschlechtsverkehr. Auch eine altersbedingte Ausdünnung und Trockenheit der Vaginalschleimhaut kann das Risiko für eine HIV-Infektion bei älteren Frauen erhöhen, da es beim Geschlechtsverkehr zu Rissen in der Vaginalschleimhaut kommen kann, die eine Übertragung von HIV begünstigen.
Das HIV-Risiko einer Frau kann auch steigen, wenn ihr Sexualpartner riskantes Verhalten aufweist, z.B. Drogenkonsum mit Spritzen oder Sex mit anderen Partnern ohne Verwendung von Kondomen. Die antiretrovirale Therapie (ART) wird allen HIV-Infizierten empfohlen. Sie trägt dazu bei, dass Menschen mit HIV länger und gesünder leben. Es ist ratsam, so bald wie möglich nach der HIV-Diagnose mit der Einnahme von HIV-Medikamenten zu beginnen. Eine gute Compliance ist die Grundlage für eine erfolgreiche Therapie. Grundlage für eine gute Compliance ist die geringe Anzahl von Nebenwirkungen. In klinischen Studien werden üblicherweise keine geschlechterbezogenen Untergruppenanalysen hinsichtlich Nebenwirkungen durchgeführt. Aufgrund der limitierten Anzahl weiblicher Teilnehmer sind Ergebnisse nicht aussagekräftig genug, um signifikante Unterschiede festzustellen. Die Nebenwirkungen bei Männern und Frauen sind jedoch ähnlich. Es ist aber möglich, dass das Geschlecht das Auftreten, die Häufigkeit und den Schweregrad einiger therapiebedingter Nebenwirkungen beeinflussen kann.
Verglichen mit Männern berichten Frauen von höheren Raten an Hautausschlag und Hepatotoxizität, einer stärkeren Gewichtszunahme sowie geringeren Raten an Fettabbau. Des Weiteren können Verhütung und Schwangerschaft die HIV-Behandlung bei Frauen beeinträchtigen, da manche HIV-Medikamente die Wirksamkeit hormoneller Verhütungsmittel wie der Antibabypille, Pflaster, Ringe oder Implantate verringern können. Frauen, die bestimmte HIV-Medikamente einnehmen, sollten möglicherweise eine zusätzliche oder andere Form der Geburtenkontrolle anwenden. Während der Schwangerschaft und Geburt nehmen Frauen mit HIV HIV-Medikamente ein, um das Risiko einer perinatalen HIV-Übertragung zu verringern und ihre eigene Gesundheit zu schützen.
Die Auswahl des Behandlungsschemas für HIV während der Schwangerschaft ist von verschiedenen Faktoren abhängig, wie zum Beispiel der aktuellen oder vorherigen Einnahme von HIV-Medikamenten und anderen Krankheiten der Frau, was die Wahl der Therapie und ihre Nebenwirkungen erschwert und die Compliance beeinträchtigen kann.
Frauen, HIV und Substanzen
Menschen, die Drogen konsumieren und intravenös injizieren, gehören zu den Gruppen mit dem höchsten Risiko für eine HIV-Infektion. Das Risiko ist 29-mal höher als bei der übrigen Bevölkerung. Trotzdem werden sie weiterhin ausgegrenzt und haben nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten. Die Bedürfnisse von HIV-positiven Frauen unter Opioid-Agonisten-Therapie, die Substanzen konsumieren, werden oft missachtet. Es mangelt an wissenschaftlichen Daten und geschlechtsspezifischen Angeboten.
Abb. 1: Mädchen und Frauen machen mehr als die Hälfte der 37,7 Millionen Menschen mit HIV aus. Um Aids bis 2030 ein Ende zu setzen, ist es notwendig, sich mit den unterschiedlichen Rollen von Mädchen und Frauen zu befassen und sie in den Mittelpunkt der Massnahmen zu stellen.
Die Literaturstudien weisen darauf hin, dass Frauen, die Substanzen konsumieren, häufiger als Männer mit einer HIV-Infektion leben und häufiger verurteilt und inhaftiert werden. Zudem haben Frauen Schwierigkeiten, auf ihre spezifischen Bedürfnisse abgestimmte Schadensminimierungsdienste in Anspruch zu nehmen, und sind stärker von Stigmatisierung und Diskriminierung betroffen. Die Prävalenz von Gewalt durch Intimpartner und geschlechtsspezifischer Gewalt ist bei Frauen, die Substanzen konsumieren, bis zu fünfmal höher im Vergleich zu Frauen, die keine Substanzen konsumieren. Zudem unterscheiden sich Männer und Frauen bezüglich der Ätiologie und Manifestation von Substanzstörungen in biologischer, psychologischer und sozialer Hinsicht. Frauen können aufgrund ihrer Stoffwechselrate schon von deutlich geringeren Dosen abhängig werden. Sie zeigen eine höhere Prävalenz von Angststörungen, Depressionen, Essstörungen und sexuellem Missbrauchserleben. Zudem sind sie auch häufiger von HIV-Infektionen betroffen. Ihre Betreuungsbedürfnisse sind anders, möglicherweise aufgrund ihrer Erziehungsverantwortung, die eine Rolle bei den beschriebenen Unterschieden im Zugang zur Behandlung spielen könnte.
Amenorrhö tritt oft auf, jedoch schliesst dies eine Schwangerschaft nicht aus, da eine Ovulation trotzdem stattfinden kann. Der Ovulationszyklus normalisiert sich unter einer Opioid-Agonisten-Therapie häufig, selbst wenn es nicht zu regelmässigen Monatsblutungen kommt. Es ist häufig der Fall, dass Frauen mit einer Opioid-Abhängigkeit keine Kontrazeptiva verwenden und ungeplant schwanger werden.
Frauen, HIV, Substanzen und Sex
Geschlechtskrankheiten und HIV sind oft miteinander verbunden. Dies liegt daran, dass Verhaltensweisen, die das Risiko für eine HIV-Infektion erhöhen, oft auch das Risiko für andere Infektionen erhöhen. Besonders bei Frauen, die Drogen konsumieren, übt oft der Partner eine erhebliche Kontrolle über die Sexarbeit, die Verwendung von Kondomen und Injektionspraktiken aus. Dies führt zu einer höheren Häufigkeit von sexuell übertragbaren Infektionen (STI). Deren Diagnose ist ebenfalls schwieriger: Im Vergleich zu Männern ist bei Frauen die Wahrscheinlichkeit geringer, Symptome häufiger sexuell übertragbarer Krankheiten wie Chlamydien und Gonorrhö zu bekommen. Wenn Symptome auftreten, können sie verschwinden, obwohl die Infektion bestehen bleiben kann. Oft verwechseln Frauen die Symptome einer Geschlechtskrankheit mit etwas anderem, was häufiger vorkommt als bei Männern. Ausserdem haben HIV-infizierte Frauen im Vergleich zu HIV-negativen Frauen ein sechsfach erhöhtes Risiko, an Zervixkrebs zu erkranken.
Unerfüllte Bedürfnisse und mögliche Lösungen
Frauen, die Substanzen konsumieren, stehen vor zahlreichen Herausforderungen, die ihre Anfälligkeit für HIV und STI erhöhen können. Dazu zählen die Sexarbeit zur Finanzierung ihrer Bedürfnisse und gelegentlich auch die ihres Partners, psychische Belastungen, Fragen der reproduktiven Gesundheit, Kinderbetreuung, Stigmatisierung, Gewalt sowie der mangelnde Zugang zu Gesundheitsversorgung.
Was tun dann?
Zuerst eine geschlechtsspezifische Behandlung anbieten. Das bedeutet, durch die Auswahl des Standorts, des Personals, der Programmentwicklung, der Inhalte und des Materials ein Umfeld zu schaffen, das die Lebenswirklichkeit von Frauen widerspiegelt und auf die Probleme der Klientinnen eingeht. Das sollte die enorme Vielfalt von Frauen anerkennen, streben nach kultureller Kompetenz in Bezug auf Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Pflege, Berufsstatus, Familienstand, Gesundheit und andere Faktoren, die Frauen beeinflussen. Es braucht beziehungsorientierte Ansätze, da Frauen in Verbindung, nicht in Isolation, sich erholen. Es muss traumabewusst sein, mit Verständnis der Beziehung zwischen Substanzkonsum und Trauma. Die Literaturstudien weisen darauf hin, dass ein integriertes Behandlungsmodell die beste Lösung ist, dazu gehören: Kinderbetreuung, psychische Gesundheit, medizinische und soziale Dienste und ein starkes Überweisungsnetzwerk.
Frauen, die Substanzen konsumieren, benötigen geschlechtsspezifische Angebote, die auch ihre sexuellen und reproduktiven Gesundheitsbedürfnisse berücksichtigen.
Literatur:
bei der Verfasserin
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