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DGPPN-Kongress 2016

Über den Tellerrand schauen

<p class="article-intro">Eine psychische Erkrankung steht nicht isoliert im Raum. Komorbiditäten sind zu beachten, das Umfeld ist einzubeziehen. Darauf weisen Untersuchungen hin, die anlässlich des Jahreskongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) im November 2016 in Berlin vorgestellt wurden.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Wenn Frauen mit psychischen Erkrankungen schwanger werden, machen sie sich zu Recht Sorgen. M&ouml;gliche Auswirkungen einer Medikation auf das Ungeborene sind ebenso zu bedenken wie m&ouml;gliche Verschlechterungen der Erkrankung durch die Schwangerschaft und die Geburt, gerade bei phasenhaftem Verlauf. Dr. Valenka Dorsch aus Essen betonte in Berlin, dass auch das hohe Rezidivrisiko in der Postpartalzeit ber&uuml;cksichtigt werden m&uuml;sse. Die Inzidenz einer postpartalen Psychose liege in der Allgemeinbev&ouml;lkerung bei nur 0,1 % , bei Frauen mit bipolarer St&ouml;rung oder Psychose in der Anamnese liege das Rezidivrisiko in der Postpartalzeit aber bei 75 bis 80 % . Daher sei bei diesen Frauen immer die Indikation zu einer station&auml;ren Behandlung gegeben. Die Beratung d&uuml;rfe nicht nur auf Teratogenit&auml;t und Fetotoxizit&auml;t der psychiatrischen Medikamente beschr&auml;nkt bleiben, es sei mindestens genauso wichtig, den Einfluss der Schwangerschaft auf die psychische Erkrankung zu besprechen und mit der Vorstellung, dass eine psychische Erkrankung durch eine Schwangerschaft besser werde, aufzur&auml;umen. Die S3-Leitlinien f&uuml;r die verschiedenen psychischen Erkrankungen geben mittlerweile klare Empfehlungen f&uuml;r die Behandlung, betonte Dorsch und nannte in den Leitlinien &uuml;bereinstimmend genannte allgemeine Prinzipien, die zu beachten sind (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1701_Weblinks_s38_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="1359" /></p> <h2>Individueller Geburtsplan</h2> <p>In der Gyn&auml;kologischen Psychosomatik der Universit&auml;tsfrauenklinik Bonn umfasst das peripartale Management laut Dorsch ein spezialisiertes Beratungsprogramm von der Kinderwunschberatung bis zur Postnatalzeit. Sechs bis acht Wochen vor dem errechneten Geburtstermin erfolgt eine ausf&uuml;hrliche Vorbesprechung, ein Geburtsplan wird entwickelt. Damit werden nicht nur Entscheidungen dokumentiert, sondern auch konkrete Handlungsanweisungen f&uuml;r Patientin, Angeh&ouml;rige und alle an der Geburt beteiligten Professionen niedergelegt. Die Medikation wird auf das krankheitsabh&auml;ngige und individuelle Rezidivrisiko abgestimmt. So sollte die M&ouml;glichkeit einer Reduktion zwei oder eine Woche vor dem Geburtstermin &uuml;berpr&uuml;ft werden, nicht aber bei Psychose, bipolarer St&ouml;rung oder Zwangsst&ouml;rung. Intrapartal kann bei Panikst&ouml;rung oder Reaktivierung von Trauma/Missbrauch ggf. Lorazepam zum Einsatz kommen. Postpartal ist eine reduzierte Medikamentendosis wieder auf die Dosis vor oder in der Schwangerschaft zu erh&ouml;hen. Bei bipolarer St&ouml;rung und Psychose sollte ab dem Tag der Entbindung eine prophylaktische Erh&ouml;hung auf die therapeutische Dosis erfolgen. Etwa 50 % der entsprechenden Episoden beginnen bereits am 1. bis 3. Tag postpartal, betonte Dorsch. Selbst bei bislang gesunden Frauen sei die Zeit nach Geburt eines Kindes die Zeit mit dem h&ouml;chsten Risiko, wegen einer psychischen St&ouml;rung behandelt werden zu m&uuml;ssen. F&uuml;r die Zeit nach der Entbindung sollte die soziale und famili&auml;re Unterst&uuml;tzung schon im Vorfeld organisiert werden &ndash; sehr konkret und pragmatisch zugeschnitten auf die individuelle Situation.</p> <h2>Seele wund &ndash; Knochenschwund</h2> <p>Nahezu jede psychiatrische Erkrankung und deren pharmakologische Behandlung ist mit einem erh&ouml;hten Osteoporoserisiko behaftet, betonte Priv.-Doz. Dr. Annamaria Painold aus Graz. Dabei wirkt h&auml;ufig eine Vielzahl von Faktoren zusammen. Bei einer Depression oder Schizophrenie f&uuml;hrt beispielsweise ein Lebensstil mit R&uuml;ckzug aus dem gesellschaftlichen Leben zu weniger Lichtexposition und Bewegung, Alkohol- und Tabakabusus wirken sich ebenfalls ung&uuml;nstig auf die Knochengesundheit aus.<br /> Bei Depression finden sich aber auch krankheitsspezifische und medikationsbedingte Effekte auf den Knochenstoffwechsel. So scheint Serotonin &uuml;ber eine Hemmung der sympathikotonen Erregung g&uuml;nstig auf den Knochenstoffwechsel zu wirken, ein Mangel dagegen die Osteoklastenaktivit&auml;t zu verst&auml;rken. Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) f&uuml;hren entsprechend zu einer 45 % igen Erh&ouml;hung des Osteoporoserisikos. Das Frakturrisiko ist laut Painold dosis- und einnahmedauerabh&auml;ngig. Trizyklika haben keine metabolischen Effekte auf den Knochen, erg&auml;nzte sie, gehen allerdings in den ersten 14 Tagen der Einnahme mit einem noch deutlich st&auml;rker erh&ouml;hten Sturzrisiko einher als SSRI. Das hei&szlig;t aber nicht, dass bei Osteoporoserisiko eine antidepressive Behandlung zu verweigern sei, betonte sie. Letztlich sei ein besseres Management beider Erkrankungen &ndash; der Depression und der Osteoporose &ndash; anzustreben.</p> <h2>Indikator Kopfschmerz</h2> <p>Eine Auswertung von Versicherungsdaten in Deutschland zeigt, dass Kopfschmerz ein wichtiger Indikator in der Prim&auml;rpr&auml;vention von psychischen Erkrankungen ist. Kommen Darm- oder/und R&uuml;ckenschmerzen hinzu, werden psychische Belastungen und Erkrankungen noch einmal deutlich h&auml;ufiger, berichtete Amelie Rouche vom Zentralinstitut f&uuml;r die kassen&auml;rztliche Versorgung in Berlin. Die Diagnosen Depression, Angstst&ouml;rungen, Belastungsst&ouml;rungen, Konzentrationsst&ouml;rungen und Unruhe sowie somatoforme St&ouml;rungen treten dann deutlich h&auml;ufiger auf als bei Menschen ohne Kopfschmerzen, Angstst&ouml;rungen sind bei Vorliegen von Kopfschmerzen zusammen mit Darmund R&uuml;ckenschmerzen sogar um 315 % h&auml;ufiger als bei Personen ohne diese Beschwerdekonstellation.</p> <h2>Borderline for ever?</h2> <p>Eine lang anhaltende Remission einer Borderline-Pers&ouml;nlichkeitsst&ouml;rung (BPS) scheint nach dem Konzept der Erkrankung als Pers&ouml;nlichkeitsst&ouml;rung per Definition unm&ouml;glich, die Persistenz der Symptome war bislang ein Paradigma. Die McLean Study of Adult Development<sup>1</sup> stellte dies erstmals infrage. Eine Arbeitsgruppe des Zentralinstituts f&uuml;r seelische Gesundheit in Mannheim und der Klinik f&uuml;r Allgemeine Psychiatrie in Heidelberg begann daraufhin mit der Untersuchung von Remission bzw. Recovery bei Patienten aus dem Rhein-Neckar-Raum. Beim DGPPN-Kongress 2016 stellten sie erste Ergebnisse vor, bei denen 32 Frauen mit einer aktuellen BPS-Diagnose, 32 Frauen mit einer remittierten BPS und 28 gesunde Frauen verglichen wurden. H&auml;ufig nahmen dabei die Patientinnen mit einer remittierten BPS in Tests eine mittlere Position zwischen akut erkrankten und gesunden Frauen ein, z.B. bei Symptomzahl oder Symptomschwere oder im State-Trait-Anger- Test, aber auch beim Test zu dem Gef&uuml;hl der Fremdheit des eigenen K&ouml;rpers und dem Schmerzerleben. Weiterhin deutlich erh&ouml;hte Werte fanden sich aber auch in Remission noch f&uuml;r die selbstberichtete emotionale Dysregulation, Depressivit&auml;t und &uuml;berdauernden &Auml;rger. Das spiegelte sich im EEG bei der Auswertung ereigniskorrelierter Potenziale wider. Der Vergleich der Ableitung P100 zeigte eine verringerte fr&uuml;he Hyperreagibilit&auml;t bei Remission und sogar eine Normalisierung fr&uuml;her struktureller Gesichtsverarbeitung (Ableitung N170), aber keine Ver&auml;nderungen gegen&uuml;ber Akutpatienten hinsichtlich der sp&auml;teren attentionalen und kognitiven Prozesse der Emotionsklassifikation (Ableitung P300).</p> <h2>PTSD und soziale Integration mehr beachten</h2> <p>Laut Prof. Dr. Martin Bohus vom Zentralinstitut f&uuml;r seelische Gesundheit in Mannheim war die Kohorte der McLean Study of Adult Development extrem selektiert, die Definition der Remission in der Studie sei zu hinterfragen. Trotz Normalisierung in einigen Symptombereichen blieb doch meist eine Vielzahl von Achse- I-Diagnosen, die Patienten seien h&auml;ufig nicht mit dem Leben zufrieden und die meist vorhandene posttraumatische Belastungsst&ouml;rung (PTSD) &uuml;berdauere die sogenannte Remission. Er empfahl, bei der Therapie der BPS st&auml;rker die persistierende PTSD und die soziale Integration in den Mittelpunkt zu stellen.</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: DGPPN-Kongress 2016, 23. bis 26. November 2016, Berlin </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>Zanarini MC et al: Prediction of time-to-attainment of recovery for borderline patients followed prospectively for 16 years. Acta Psychiatr Scand 2014; 130: 205-13</p> </div> </p>
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