
Tief ins Gehirn eingebrannt
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Autor:
Dr. med. Felicitas Witte
30
Min. Lesezeit
04.05.2017
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<p class="article-intro">«Die will doch gar nicht zunehmen!» So klagen oft Angehörige von Magersüchtigen. «Normal zu essen kann doch nicht so schwierig sein!» Ist es aber, wie eine Studie der New York University zeigt.<sup>1</sup> Das ungesunde Essverhalten bei Magersucht ist demnach eine Gewohnheit, die sich tief in das Hirn einbrennt und wenn überhaupt nur mühselig und langsam zu ändern ist.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Die Forscher untersuchten das Gehirn von 21 Frauen mit Anorexia nervosa und von 21 Gesunden mit Magnetresonanztomografie (MRT), während diese 76 verschiedene Nahrungsmittel auswählten und beurteilten. Wie zu erwarten bevorzugten Frauen mit Magersucht eher fettarme und kalorienarme Lebensmittel gegenüber fetthaltigen oder hochkalorischen. Bei allen Teilnehmerinnen beobachteten die Forscher im MRT eine erhöhte Nervenaktivität im ventralen Striatum, wo wir Wohlbefinden und Glücksgefühle wahrnehmen. Bei den Magersüchtigen wurde jedoch auch das dorsale Striatum stark aktiviert, in dem das Hirn gewohnheitsmässiges Verhalten speichert. «Das strenge Diäthalten ist ein eingelerntes Verhalten, eine Gewohnheit, die sich stark in das Hirn einbrennt», sagt Prof. Dr. med. Wulf Rössler, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich. «Normal zu essen, ist für Magersüchtige extrem schwierig, weil sie sich das eingelernte Verhalten mühsam abgewöhnen müssen.»</p> <p>Durch das Abnehmen hat die Betroffene das Gefühl, «etwas wert» oder «stark» zu sein. «Schlank zu sein, wird in unserer Gesellschaft sehr wertgeschätzt und Übergewicht mit einem schwachen Charakter gleichgesetzt», sagt Rössler. «Die Betroffenen wollen durch das Abnehmen zu den ‹Erfolgreichen› gehören.» Eine grosse Rolle spiele zudem die Kontrolle von Emotionen, sagt Prof. Dr. med. Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, einer Fachklinik für Essstörungen. «Magersüchtige können so ihre Ängste kontrollieren, etwa vor Prüfungen, in einer neuen Lebensphase oder vor dem Frauwerden.»</p> <p>Die Gewichtsabnahme löst ein starkes Glücksgefühl im Hirn aus. Die Betroffene bekommt Komplimente, fühlt sich selbstbewusster, und ihre Angst verschwindet. «Irgendwann verselbstständigt sich dieser Prozess», erklärt Rössler. «Nicht mehr der Gewichtsverlust führt zum schönen Gefühl, sondern wenig zu essen.» Der Nahrungsverzicht wird zur Gewohnheit, was sich in Veränderungen der Nervenaktivität im dorsalen Striatum widerspiegelt. Gleichzeitig ändern sich die Konzentrationen von Botenstoffen, und es reagieren noch andere Hirnbereiche mit einer veränderten Aktivität. «All das könnte erklären, warum die Therapieaussichten besser sind, je früher man mit der Behandlung beginnt», sagt Rössler.</p> <p>1,2 % der Frauen und 0,2 % der Männer in der Schweiz erkranken irgendwann in ihrem Leben an Magersucht. Bis zu 40 % brechen die Therapie ab, und nur jede Dritte wird das Essproblem dauerhaft los. Angehörige halten Magersüchtige oft für willensschwach oder trotzig. «Der Zustand der selbst herbeigeführten Abmagerung ist für Aussenstehende erschreckend und nicht nachvollziehbar», so Voderholzer. Sie fühlen sich machtlos und möchten verständlicherweise alles tun, damit die Betroffene gesund wird. Doch das ständige Drängen und Kontrollieren des Essverhaltens sei meist kontraproduktiv, und viele der Betroffenen nähmen dann noch weiter ab. Die familiäre Situation sei häufig ziemlich aufgeheizt, bestätigt Rössler. «Deshalb braucht nicht nur die Magersüchtige eine gute Therapie, sondern auch die Angehörigen.»</p> <p>Je eher die Psychotherapie beginnt, desto besser seien die Aussichten auf Erfolg, sagt Voderholzer. «Wir motivieren die Betroffenen, gegen das eingelernte Verhalten anzukämpfen und sich den Ängsten zu stellen.» Zum einen sollte sie/er Körpergewicht, Essverhalten und gegebenenfalls auch zwanghaftes Sporttreiben schrittweise normalisieren. Zum anderen analysiert man mit ihr/ihm die auslösenden Faktoren der Essstörung sowie die Gründe dafür, dass an dieser festgehalten wird, und erarbeitet alternative Problemlösungsstrategien. Vermeiden solle man ein zu rigides Vorgehen. «Die Patientinnen und Patienten geben aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur kurzfristig nach, tauchen aber gleichzeitig in die Heimlichkeit ab und entziehen sich der Therapie.» Lange Zeit habe man die Angehörigen viel zu wenig eingebunden, findet Voderholzer. «Sie spielen aber eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Überwindung einer Essstörung. Ideal sind Psychoedukation, Familien- oder Paargespräche.» Je länger die Magersucht besteht, desto schwieriger ist es, dass die Betroffenen wieder lernen, normal zu essen. «Allein der Gedanke daran verursacht unangenehme Gefühle und Angst. Aber ich versuche sie zu motivieren: Wer sich auf eine intensive Therapie einlässt, kann dauerhaft geheilt werden.»</p></p>
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<p><strong>1</strong> Foerde K et al: Nat Neurosci 2015; 18: 1571-3</p>
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