
„,Die subjektive Seiteʻ ist so anders – so lebendig und am Puls der Zeit“
Unsere Gesprächspartnerin:
Ao. Univ.-Prof. Dr. Michaela Amering
Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Universität Wien
Das Interview führte
Dr. Gabriele Senti
„Die subjektive Seite der Schizophrenie“ ist eine Veranstaltung, die ihresgleichen sucht. Sie bringt seit einem Vierteljahrhundert medizinisches und therapeutisches Fachpersonal, Patienten und Angehörige zum Austausch auf Augenhöhe zusammen und beleuchtet eben diese subjektive Seite aus verschiedenen Perspektiven. Der Zustrom ist Jahr für Jahr groß.
Ins Leben gerufen wurde „Die subjektive Seite der Schizophrenie“ (SuSe) Ende der 90er-Jahre von Prof. Michael Krausz, der heute an der University of British Columbia in Vancouver lehrt. Sein Einsatz für den trialogischen Austausch zur Schizophrenie ist nach wie vor unermüdlich. So ist er seit 25 Jahren Teil des Programmkomitees und bringt sich als Sprecher und Moderator aktiv in die Veranstaltung ein.
Fast ebenso lange ist auch Prof. Michaela Amering Teil des Kernteams, das die SuSe Jahr für Jahr mit Leben und Inhalt füllt. Im Gespräch erzählt sie uns von den Anfängen, den Perspektiven und dem Erfolgsrezept der SuSe.
Wann und wie haben Sie „Die subjektive Seite der Schizophrenie“ kennen-gelernt?
M. Amering: Als ich 2000 aus Birmingham/UK nach Österreich zurückkam, hatte ich Home Treatment, Assertive Outreach, die Einbeziehung von Betroffenen auf allen Ebenen und die Recovery-Bewegung der Menschen mit gelebter Erfahrung von Psychosen kennen- und schätzen gelernt. Damals wirkte das Erlebte im deutschsprachigen Raum schwer umsetzbar.
Aber dann war da die SuSe, die Tagung zur subjektiven Seite der Schizophrenie, die sich mit genau diesem und so vielen anderen wesentlichen Themen befasste. Die ganze Erfahrung, Motivation und Lebendigkeit von Michael Krausz und anderen Personen aus dem professionellen Feld, von Erfahrenen und von Angehörigen, für dringend notwendige Verbesserungen der psychiatrischen Versorgung standen einmal im Jahr in geballter Kraft zur Verfügung. Das machte einen riesigen Unterschied bezüglich der notwendigen Anstrengungen. Keine andere Tagung war dazu in der Lage. „Die subjektive Seite“ war damals und ist noch immer so anders, so lebendig, so am Puls der Zeit.
25 Jahre sind eine sehr lange Zeit. Warum gibt es die Veranstaltungnoch immer?
M. Amering: Vielen Teilnehmer:innen ging es wie mir. Die Erwartungen bezüglich der jährlichen Tagung waren groß und wurden nie enttäuscht. Wir hörten oft das Allerneueste und wussten danach mehr. Am Ende gingen wir immer gestärkt aus jedem Austausch. Wir wussten, dass wir richtig lagen mit unseren Bemühungen an unseren Arbeitsplätzen, in unseren lokalen, nationalen und internationalen Initiativen. Die Themen spiegelten wider, was wir im Alltag erlebten.
Ich würde sagen, dass es einerseits wichtig war, dass die Teilnehmenden sich darauf verlassen konnten, dass die SuSe die aktuellen Entwicklungen im Fach im jeweiligen Jahr aufnehmen und dafür sorgen würde, dass die besten Leute sie präsentieren und diskutieren. Andererseits war es Jahr für Jahr auch wesentlich zu wissen, dass die immer gleichermaßen signifikanten Themen wiederkehren würden und über die Zeit nichts verloren gehen würde.
Inwieweit haben sich die Inhalte der Veranstaltung über die letzten Jahrzehnte verändert?
M. Amering: Ganz sicher haben sich mit den Inhalten die Sprache und der Umgang miteinander verändert. Sowohl Psychose-Erfahrene als auch Angehörige sind heute auf hohem Niveau in der Lage, nicht nur ihre eigene Erfahrung in den Mittelpunkt zu stellen, sondern Konzepte und Modelle zu entwickeln bzw. darzustellen. Sie schöpfen aus reichhaltiger Erfahrung in Selbsthilfe und Interessenvertretung und immer öfter und mehr auch aus ihren Erfahrungen als Teammitglieder. Sie berichten über ihre Einblicke in die psychiatrische und psychosoziale Versorgung durch ihre professionelle Arbeit als Peers in Krankenhausteams, psychosozialen Diensten und Einrichtungen wie auch bei selbstständigen und selbstgeleiteten Beratungsstellen oder in Recovery Colleges.
Die traditionellen Profis sind heutebesser in der Lage, sich im Rahmen der Tagung auf Augenhöhe Diskussionen zu stellen mit Menschen, die sie in einem anderen Setting im klinischen Alltag als Patient:innen und Angehörige kennenlernen. Auch sie werden als Personen sichtbar, die um die beste Praxis, die geeignete Forschung und wirksame Policy ringen. Der Trialog funktioniert auch auf Tagungsebene.
Die diesjährige 25. Tagung ist geprägt vom Engagement von Matthäus Fellinger, Laura Fragner und den Young Psychiatrists Austria, die als nächste Generation die SuSe wesentlich mitgestalten und auch neue Wege durch die verstärkte Nutzung von Social Media Kanälen wie Instagram und Facebook, Video- und neuen Live-Formaten gehen.
Was sagen die Veränderungen in den Tagungsthemen über den Stellenwert der Erkrankung in der Gesellschaft, Gesundheitspolitik etc. aus?
M. Amering: Die traditionellen Profis haben zur Kenntnis genommen, dass die Datenlage heute klar ist: Das Sichtbarwerden von und der Kontakt mit Menschen, die aus eigener Erfahrung von psychischer Erkrankung und Genesungswegen berichten, sind die wichtigsten Bestandteile von Initiativen, die tatsächliche Veränderungen im Hinblick auf die Reduktion von Stigma und Diskriminierung bewirken können. Am meisten Effekt haben jene Hilfen, die Menschen mit sogenannten ‚schweren‘ psychiatrischen Gesundheitsproblemen dort unterstützen, wo sich ihr Alltagsleben abspielt, und sich an ihren individuellen Wünschen und Bedarfen orientieren. Auch ist klar, dass Behandlungen unter Zwang und Bevormundung nicht nur ethisch und rechtlich bedenklich sein können, sondern auch von unklarer Wirksamkeit sind, und dass es durchaus Methoden zur Reduktion von Zwang sowie Alternativen zur Krisenbehandlung im Krankenhaus gibt. Neu ist, dass mit der Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, der UN-BRK, eine neue Rechtslage entstanden ist. Historisch erstmalig hatten Menschen mit eigener Erfahrung vom Leben mit einer Behinderung die Konvention mitverhandelt und historisch erstmalig waren Personen mit Behinderungen aufgrund psychiatrischer Erkrankungen Teil der Verhandlungsteams und Teil der Lobby von und für Menschen mit Behinderungen.
Über welche Themen soll oder muss in den nächsten Jahren verstärkt diskutiert werden?
M. Amering: Also, da hat sich schon einiges getan und ist nun im Bewusstsein verankert. Aber es braucht auch Fort- und Weiterbildung bezüglich eines Menschenrechts-basierten Ansatzes wie z.B. auch von der WHO propagiert. Der Druck, der von Millionen von Menschen ausgeht, die um ihre Rechte auf volle Inklusion kämpfen und gegen die Behinderungen durch Gesellschaften, die dazu noch nicht in der Lage sind, stellt uns vor große und wunderbare Herausforderungen mit dem Ziel, das Verbot von Diskriminierung und die unbehinderte Teilhabe durchzusetzen wie in der UN-BRK vorgegeben. Und gerade in diesem Prozess der Auseinandersetzung und des Ringens um Menschenrecht-basiertes Arbeiten auf allen Ebenen dürfen ganz wesentliche Gruppen nicht übersehen werden. Das sind die Angehörigen und Freundinnen und Freunde, deren Beteiligung essenziell ist für die Umsetzung. Und es sind – wie auch die Betroffenenbewegung immer wieder hervorhebt – die Personen, die gerade nicht um ihre Rechte kämpfen können, weil sie entweder in Ländern leben, die das nicht zulassen wollen, oder weil sie gesundheitlich und sozial so sehr behindert sind und werden, dass sie Gefahr laufen, aus dem Blick und der Verantwortung zu verschwinden.
Wir müssen uns an den Personen mit den größten Vulnerabilitäten und dem am meisten erschwerten Zugang zu Unterstützung und Behandlung orientieren, um unseren Zielen und Erwartungen gerecht zu werden. In allen Bereichen – bei den Erfahrenen, den unterschiedlichen Angehörigen und den verschiedenen Berufsgruppen in der Psychiatrie – gibt es interessanten und interessierten Nachwuchs, für die und mit denen wir Situationen schaffen müssen, die deren Möglichkeiten deutlich macht und gestaltet.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
SuSe 2023 – ein persönliches Fazit
Professor Krausz, wie würden Sie die SuSe 2023 mit wenigen Worten zusammenfassen?
M. Krausz: Die subjektive Seite der Tagung ist ein besonders wichtiger Aspekt. Sie lebt von dem Engagement und der Erfahrung wichtiger Persönlichkeiten, verschiedener Generationen der deutschsprachigen Psychiatrie, der Offenheit gegenüber anderen, persönlichen und wissenschaftlichen Perspektiven und auch Erfahrungen in anderen Ländern, was zu einem besonderen Netzwerk beigetragen hat. Viele wichtige Meinungsmacher, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Klinikerinnen und Kliniker sowie Betroffene waren Gäste auf dieser Tagung und haben wesentlich zu ihrem Erfolg beigetragen. Vielleicht gelingt es ja, diese Erfahrungen noch einmal zusammenzufassen, damit sie nicht verlorengehen.
Psychiatrie geht auch anders – und das sollte Hoffnung geben.
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