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SGPP-Kongress 2021

Stellenwert des Intensive Hometreatment

Psychisch akut schwer zu erkranken, sich nach Langem zu einer Behandlung durchzuringen und dann in der Sicherheit und Geborgenheit der eigenen vier Wände behandelt werden zu können: eine Vorstellung, die es den meisten PatientInnen erleichtern würde, sich auf Unterstützung und Hilfe einzulassen. Aber ist das realistisch?

Was ist Intensive Hometreatment?

Generell versteht man unter Hometreatment die Begleitung psychiatrisch behandlungsbedürftiger Patienten in akuten Krankheitsphasen durch speziell ausgebildete, multiprofessionelle, ambulant tätige Behandlungsteams (Gühne et al.). Unter der Bezeichnung Hometreatment werden zahlreiche häusliche Angebote der ambulanten psychiatrischen Versorgung subsumiert. Das Spektrum dieser Angebote reicht von klassischen Hausbesuchen über die ambulante Betreuung durch multidisziplinäre Teams unterschiedlicher Zusammensetzung (Pflege, Sozialdienst, Psychologie, Psychiatrie) in unterschiedlicher Frequenz bis hin zur multidisziplinären Versorgung rund um die Uhr für ansonsten stationär aufzunehmende Patienten (Abb.1).

Abb. 1: Ambulante gemeindepsychiatrische Ansätze (modifiziert nach Becker et al.2008)

Intensive Hometreatment zeichnet sich dadurch aus, dass es eine primär aufsuchende Behandlung für akutpsychiatrisch erkrankte Patient*innen ist, die durch ein multiprofessionales Team von Ärzt*innen, Psycholog*innen und Pflegefachpersonen erfolgt, wobei entscheidend ist, dass die Behandlungskontinuität durch das Team auch in der Nacht und am Wochenende gewährleistet ist.

Entwicklung des Hometreatments

Hometreatment-Angebote sind ausserhalb der Schweiz in Europa unter anderem auch in England, Skandinavien und Deutschland vertreten. Seit 2018 ist das Intensive Hometreatment in Deutschland unter dem Begriff der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) als neue Form der Krankenhausbehandlung gesetzlich verankert. In der Schweiz existieren inzwischen in diversen Kantonen (Aargau, Basel, Bern, Luzern, Tessin, Zürich) intermediäre aufsuchende gemeindepsychiatrische Angebote.

Intensive Hometreatment im engeren Sinne gibt es allerdings selten. Diese Behandlungsform beinhaltet, dass die Behandlung durch ein Team an jedem beliebigen Wochentag rund um die Uhr gewährleistet wird. Aus unserer Sicht ist die Bereitschaft, den Patienten und ihren Angehörigen die Gewissheit zu geben, dass das Behandlungsteam jederzeit erreichbar ist, für die Versorgung von ansonsten stationär aufzunehmenden psychiatrischen Patient*innen elementar. Die Patient*innen werden täglich zu Hause besucht, diese Behandlung zu Hause ermöglicht In-vivo- Interventionen, ein Real-World-Transfer ist somit nicht mehr nötig. Der Einbezug der Angehörigen, ihre Beratung und Unterstützung finden natürlich und unkompliziert am Küchentisch statt.

Im Kanton Luzern wurde 2007 das erste Intensive Hometreatment (Gemeinde-integrierte Akutbehandlung, GiA) der Deutschschweiz für den Bereich der Stadt Luzern aufgebaut. Die Effektivität im Vergleich zum stationären Angebot konnte nachgewiesen werden, sodass Intensive Hometreatment im Jahr 2010 in den Regelbetrieb aufgenommen und im Jahr 2013 zusätzlich ein zweites Team für den ländlichen Bereich des Kantons aufgebaut wurde. Seither wird im Kanton Luzern eine flächendeckende akutpsychiatrische Versorgung im Hometreatment angeboten (Tab. 1). Es handelt sich um 2 multiprofessionelle Teams, die 40 akutbehandlungsbedürftige Patient*innen ab dem 16. Lebensjahr diagnoseunabhängig versorgen. Voraussetzung für die Aufnahme sind eine minimale Kooperations- und Absprachefähigkeit sowie die Akzeptanz der Angehörigen. Hieraus hat sich insbesondere auch ein notwendiges und beliebtes Behandlungsangebot für Patient*innen mit betreuungsbedürftigen Kindern im Haushalt entwickelt.

Tab. 1: Intensive Hometreatment im Kanton Luzern (FTE: full-time equivalent)

Evidenz von Hometreatment

Das Intensive Hometreatment hat in verschiedenen nationalen und internationalen Leitlinien den höchsten Evidenz- und Empfehlungsgrad für die Akutbehandlung bei schweren psychischen Erkrankungen (NICE, S3). In Studien zeigt sich eine Reduktion der stationären Behandlungsdauer, eine Erhöhung der Behandlungsbereitschaft und Zufriedenheit bei Patient*innen und Angehörigen und zudem konnten die direkten Kosten für die Akutbehandlung im häuslichen Umfeld reduziert werden.

Aufgrund der historischen Entwicklung stammen alle Studien, die in die zuletzt 2015 durchgeführte Cochrane-Review zur Wirksamkeit des Home Treatments (Murphy et al.) eingeschlossen wurden, aus englischsprachigen Ländern (Australien, Kanada, USA, Grossbritannien). Seit Kurzem liegen auch für die Schweiz Daten zur Evidenz des Hometreatment vor. Niklaus Stulz und Kollegen publizierten 2020 die Ergebnisse einer einjährigen Untersuchung an 707 Patient*innen der Psychiatrischen Dienste des Kantons Aargau, welche randomisiert dem Hometreatment oder einer klassischen stationären Therapie zugewiesen wurden. Es konnte eine Reduktion der Zahl der Kliniktage gezeigt werden, während die Daten zum klinischen und sozialen Outcome sowie die erhobene Patientenzufriedenheit in beiden Gruppen vergleichbar waren (Stulz et al.).

Zusammenfassung

Für den Einsatz des Intensive Hometreatments in der Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen liegt eine sehr gute Evidenz vor. Diese Behandlungsform entspricht dem Grundsatz «ambulant vor stationär», ermöglicht unmittelbare Lernprozesse in vivo und ist inzwischen in zahlreichen Regionen ein zentraler Baustein der allgemeinpsychiatrischen Akutversorgung. Patienten und Behandlungsteams werden herausgefordert, eingefahrene Rollen und Abläufe zu hinterfragen und zu verbessern. Für die Beurteilung von Kosten und Wirksamkeit ist es wichtig, zwischen den unterschiedlichen ambulanten aufsuchenden gemeindepsychiatrischen Angeboten zu differenzieren.

• Becker T et al.: Versorgungsmodelle in Psychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer, 2008 • DGPPN (Hrsg.): S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen, 2. Auflage. Version 2018 • Gühne U et al.: Psychiat Prax 2011; 38: 114-22 • National Collaborating Centre for Mental Health. Psychosis and Schizophrenia in Adults: Treatment and Management. 78. NICE, 2014. https://www.nice.org.uk/guidance/cg178/evidence • Murphy SM et al.: Cochrane Database Syst Rev 2015; 12: CD001087 • Stulz N et al.: Br J Psychiatry 2020; 216: 323

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