
Sprechen über psychische Erkrankungen: Drüber reden! Aber wie?
Autorinnen:
Dr. med. Anke Maatz, MA1
lic. phil. Yvonne Ilg2
Henrike Wiemer, BSc1
1 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
2Deutsches Seminar
Universität Zürich
Korrespondierende Autorin:
Dr. med. Anke Maatz, MA
E-Mail: anke.maatz@puk.zh.ch
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Über psychische Erkrankungen zu sprechen, gilt allgemein als hilfreich und wird derzeit in diversen Gesundheitskampagnen beworben. Gleichzeitig ist das Sprechen über die Erfahrung einer psychischen Erkrankung anerkanntermassen schwierig, besonders ausserhalb des klinisch-therapeutischen Settings. Wie können wir Ressourcen ausfindig machen, die Betroffenen, Angehörigen, Freund:innen, Arbeitgeber:innen, aber auch Therapeut:innen das Sprechen über psychische Erkrankungen und allgemein psychische Schwierigkeiten erleichtern?
Keypoints
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Besonders ausserhalb des klinisch-therapeutischen Kontexts über psychische Erkrankungen zu sprechen, ist schwierig, aber hilfreich in Bezug auf Recovery und soziale Inklusion.
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Kommunikative Ressourcen zur Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe sind vorhanden, es existieren diesbezüglich jedoch kaum systematische Untersuchungen.
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Ein partizipatives Forschungsdesign bietet die Möglichkeit, durch den und im Forschungsprozess selbst das Sprechen über psychische Schwierigkeiten zu fördern.
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Spezifische kommunikative Strategien sind nie richtig oder falsch, sondern kontextabhängig mehr oder weniger passend.
Spätestens seit Freuds «Redekur» gilt Reden als zentraler Bestandteil der Therapie psychischer Erkrankungen. Aktuell stellen auch öffentliche Kampagnen zu psychischer Gesundheit das Sprechen in den Mittelpunkt: In der Schweiz etwa titelt das Bündnis für Suizidprävention «Reden kann retten», und der letztjährige Nationale Aktionstag «Psychische Gesundheit» stand unter dem Motto «Drüber reden. Hilfe finden». In Grossbritannien ermutigte jüngst der Time to Talk Day 2021: «A small conversation on mental health has the power to make a big difference.» Dabei anerkennen alle Kampagnen, dass das Reden über psychische Gesundheit und Krankheit oft schwierig ist: etwa weil soziale Normen und gesellschaftliche Stigmatisierung psychische Krankheiten nach wie vor tabuisieren und Betroffene und ihre Angehörigen allzu leicht verstummen lassen, weil dies zu Selbststigmatisierung führt und weil das weitere Umfeld wie auch professionelle Helfer:innen sich oft hilflos fühlen. Neben diesen gesellschaftlichen und psychischen Aspekten, die das Reden über eine psychische Erkrankung erschweren, gibt es sprachlich-kommunikative Hindernisse. Wie der Soziologe Arthur Frank über seine eigene Erfahrung schwerer körperlicher Krankheit anschaulich schreibt: «[...] as the language of the story seeks to make the body familiar, the body eludes language. [...] The ill body is certainly not mute – it speaks eloquently in pains and symptoms – but it is inarticulate.»1
Die hier beschriebene Schwierigkeit trifft in mindestens ebenso starkem Masse auf die Versprachlichung der Erfahrung einer psychischen Erkrankung zu. Auch das Psychische «entzieht sich» leicht beim Versuch einer sprachlichen Annäherung; Betroffene beschreiben häufig, ihnen fehlten die Worte, um ihr inneres, unsichtbares Erleben zu vermitteln.
Zwar gibt es an diversen Stellen Tipps, wie man diesen Schwierigkeiten begegnen kann, aber systematische Untersuchungen zum Sprechen über psychische Erkrankungen fehlen weitgehend. Wenn das Potenzial des Sprechens für den Recovery-Prozess, die Entstigmatisierung und soziale Inklusion aber genutzt werden soll, sind ein systematisches Wissen sowie praktisches Know-how über Möglichkeiten der Versprachlichung und Kommunikation der Erfahrung einer psychischen Erkrankung notwendig. Wie können wir also kommunikative Ressourcen ausfindig und verfügbar machen, die das Reden über psychische Schwierigkeiten erleichtern?
Expert:innen reden
Im Forschungsprojekt «Drüber reden! Aber wie?» widmen wir uns dieser Frage und Aufgabe aus psychiatrischer, linguistischer und erfahrener Perspektive. Wir laden Betroffene, Angehörige, Therapeut:innen und andere Personen mit Bezug zum Thema ein, mit uns und untereinander über ihre Erfahrungen mit psychischer Gesundheit und Krankheit ins Gespräch zu kommen. Diese Gespräche zeichnen wir auf und transkribieren sie nach einem standardisierten System, das neben den gesprochenen Wörtern auch Rezeptionssignale, Pausen, Betonungen, nonverbale (z.B. Gestik, Mimik, Sitzposition) und weitere Aspekte des Sprechens systematisch erfasst.2 Anschliessend analysieren wir die Gespräche inhalts- und konversationsanalytisch,3,4 also in Bezug auf das Was und das Wie des Sprechens. Dabei laden wir alle Gesprächsteilnehmenden ein, sich an den Analysen zu beteiligen und den Fortgang des Projekts wie auch die Entwicklung von Implementierungsstrategien mitzugestalten. Aus den Beforschten werden so Mitforschende. Dieser partizipative Ansatz5 führt dazu, dass im Projekt selbst das Reden über psychische Schwierigkeiten nicht nur erforscht, sondern auch praktiziert wird. Personen mit unterschiedlichen Bezügen zum Thema und unterschiedlichem Erfahrungshintergrund sind stets miteinander im Gespräch – über die aufgenommenen Gesprächsdaten und über das Thema selbst.
Nicht systematisch untersucht, aber gemäss Aussagen der involvierten Expert:innen aus Erfahrung in unserem Projekt wird die – zumindest teilweise auch bezahlte – Mitarbeit im Projekt als Möglichkeit empfunden, Verantwortung zu übernehmen und die Welt mitzugestalten. Auch berichten Erfahrungsexpert:innen, die Betrachtung des eigenen Gesprächs aus der Metaperspektive eröffne neue Perspektiven auf sich selbst und die eigene Geschichte. So trägt der Forschungsprozess selbst bereits zu Empowerment und Recovery bei und stellt für alle Beteiligten eine Möglichkeit dar, das Sprechen über eine psychische Erkrankung – auch ausserhalb des allenfalls vertrauten therapeutischen Kontexts – zu üben.
Beobachten, sammeln, teilen
Die Inhaltsanalyse und die Konversationsanalyse gehen zunächst deskriptiv vor. Die Inhaltsanalyse sammelt die geschilderten Erfahrungen. Die Konversationsanalyse beschreibt möglichst detailliert, wie gesprochen und kommunikativ interagiert wird, ohne die kommunikative Handlung als gut oder schlecht zu bewerten. Dabei geht sie davon aus, dass Specher:innen grundsätzlich kompetent sind6 und über vielfältige multimodale – also nicht nur verbale, sondern auch nonverbale – Ressourcen verfügen, um an Gesprächen als «primordial site for human social life» (ebd.) teilzuhaben. So gehen wir auch davon aus, dass Ressourcen, also kommunikative Strategien, um über psychische Schwierigkeiten zu sprechen, reichlich vorhanden sind. Diese müssen also nicht erst erfunden werden, sondern können gesammelt und dann geteilt werden.
In den im Rahmen unseres Projekts bisher aufgezeichneten Gesprächen können wir beobachten, dass viele den Wunsch zum Ausdruck bringen, mehr, detaillierter oder offener über ihre Krankheitserfahrung zu sprechen. Die meisten schildern zudem die Erfahrung, dass über ihre Krankheitserfahrung bzw. über die Krankheitserfahrung einer nahestehenden Person mit dieser Person gemeinsam zu sprechen hilfreich war. Aber auch die Schwierigkeiten, dies zu tun, werden benannt.Manche schildern, es sei für sie ein langer Übungsprozess gewesen, bis sie ihre Geschichte hätten erzählen können. Formulierungen wie «es ist eben schwierig zu erklären» finden sich häufig. Dabei bedeutet aus Sicht der Konversationsanalyse die Bezugnahme auf diesen «Topos der Unbeschreibbarkeit»7 nicht, dass das Gespräch unmöglich weiterzuführen sei, vielmehr vermittelt sie dem Gegenüber einen Aspekt der zumeist erlebten Widersprüchlichkeiten und Spannungen zwischen unterschiedlichen Wirklichkeiten (ebd.), etwa zwischen Wahn und Alltagswirklichkeit. Eine weitere allgemeine kommunikative Strategie, die die Gesprächsteilnehmer:innen anwenden, sind Beispielerzählungen,8 die die Auswirkung ihrer Erkrankung in einer konkreten Alltagssituation, etwa beim Schulbesuch, schildern. Auch wird deutlich, dass Erfahrungen zumeist multimodal inszeniert werden, also nicht nur mit Worten beschrieben, sondern auch durch non- und paraverbale Mittel in der Gesprächssituation für das Gegenüber ein Stück weit erfahrbar gemacht werden: So wird der Ausdruck «es ist eben schwierig zu erklären»z.B. nonverbal von einem Schulterzucken begleitet.
Reden Sie mit!
Keine dieser Strategien ist richtig oder falsch. Diese und die vielen anderen kommunikativen Strategien können immer nur im Kontext eines spezifischen Gesprächs mehr oder weniger passend sein. Sie zu sammeln und zu teilen birgt die Chance, unsere kommunikativen Kompetenzen sichtbar zu machen, für den oder die eine:n oder andere:n neue Ideen für das Reden über psychische Schwierigkeiten bereitzustellen und so Gespräche zu ermutigen. Wenn Sie möchten, reden Sie mit.
Weiterführende Informationen:
● https://www.drueberreden.ch ● http://www.reden-kann-retten.ch/ ● https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/aktuell/medienmitteilungen.msg-id-81446.html ● https://www.time-to-change.org.uk/get-involved/time-talk-day
Literatur:
1 Frank AW: The wounded storyteller: body, illness, and ethics. 2nd edition. Chicago: University of Chicago Press, 2013. S. 2 2 Selting M et al.: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). Gesprächsforschung 2009; 10: 353-402 3 Pope C et al.: Analysing qualitative data. BMJ 2000; 320: 114-6 4 Birkner K, Auer P, Bauer A, und Kotthoff H. Einführung in die Konversationsanalyse. De Gruyter, Berlin/Boston 2020 5 Bergold JB: Partizipative Forschung und Forschungsstrategien. eNewsletter Wegweiser. Bürgergesellschaft 1-10; 2013 6 Goodwin C: A competent speaker who can’t speak: the social life of aphasia. J Linguist Anthropol 2004; 14: 151-70 7 Gülich E: Unbeschreibbarkeit: Rhetorischer Topos – Gattungsmerkmal – Formulierungsressource. Gesprächsforschung 2005; 6: 222-44 8 Brünner G, Gülich E: Verfahren der Veranschaulichungin der Experten-Laien-Kommunikation. In: Brünner, G., Gülich, E. (Hrsg.): Krankheit verstehen. Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdarstellungen. Bielefeld: Aisthesis-Verlag, 2002. S. 17-93
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