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SGSPP-Gesellschaftsnachrichten 25/1-2024

Förderung von Sport und Bewegung in der psychiatrischen Praxis

Das Integrieren regelmässiger Bewegung in den Therapieplan psychisch Erkrankter wirkt sich nicht nur auf deren physische, sondern auch auf die psychische Gesundheit positiv aus. Ansätze, um Sport und Bewegung auch in der Praxis zu fördern, werden hier dargestellt.

Für die positive Wirkung von Sport und Bewegung in der Behandlung psychischer Störungen mehrte sich in den letzten Jahren die Evidenz.1 Für die unipolare Depression zeigen zahlreiche Metaanalysen positive Effekte von Sportinterventionen auf die depressive Symptomatik2 sowie weitere Problembereiche wie z.B. das Arbeitsgedächtnis,3,4 sodass supervidierte Sportprogramme mittlerweile auch mit dem höchsten Empfehlungsgrad in die deutschen Behandlungsleitlinien aufgenommen worden sind.5 Auch für die Behandlung weiterer psychischer Störungen wie Angsterkrankungen,6 Abhängigkeitserkrankungen7 und Schizophrenie8 mehrt sich die Evidenz für positive Effekte von Sport und Bewegung als Teil der Behandlung. Neben den positiven Effekten auf die psychiatrische Symptomatik hat ein körperlich aktiver Lebensstil auch das Potenzial, die bei psychischen Erkrankungen signifikant erhöhte somatische Morbidität und Mortalität9 zu verbessern.10

Somit hat das Fördern von Sport und Bewegung ein hohes Potenzial, die psychische und physische Gesundheit psychisch erkrankter Menschen und damit auch ihre Lebensqualität zu steigern.8,11 Bisher ist dieser Ansatz in der klinischen Praxis aber noch wenig verbreitet. Während stationärer Behandlungen werden sport- und bewegungstherapeutische Ansätze in allen Deutsch-schweizer Kliniken angeboten12 und führen auch dazu, dass ein wesentlicher Teil der Patient:innen sich während des stationären Aufenthaltes ausreichend bewegt.13 Der Transfer in das ambulante Setting ist aber oftmals problematisch, sodass sich die körperliche Aktivität nach Klinikaustritt in der Regel wieder rasch verringert.14 Die Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP) strebt an, dass das Erreichen des Mindestumfangs gesundheitswirksamer Bewegung zu einem Behandlungsziel in der Psychiatrie wird. Mit wöchentlich 150 Minuten moderater und/oder 75 Minuten intensiver Bewegung15 wird dieses Ziel bereits erreicht.

Erheben der körperlichen Aktivität

Wir empfehlen, dass die körperliche Aktivität im Rahmen der Anamneseerhebung in der Erstkonsultation als wichtige Dimension mit erhoben wird. Um einerseits Zielwerte definieren zu können und andererseits die Veränderung im Verlauf erhoben werden kann, erfolgt dies idealerweise standardisiert. Dazu stehen verschiedene, unterschiedlich aufwändige Methoden zur Verfügung.

Physical Activity Vital Sign (PAVS)

Die Initiative «Exercise is Medicine» des American College of Sports Medicine ( exerciseismedicine.org ) empfiehlt das PAVS als einfachste Möglichkeit, die körperliche Aktivität von Patientinnen und Patienten zu quantifizieren. Dabei müssen nur zwei Fragen gestellt werden:16

a) An wie vielen Tagen pro Woche treiben Sie durchschnittlich mässig bis anstrengend Sport (z.B. zügiges Spazierengehen)?
b)Wie viele Minuten treiben Sie an diesen Tagen durchschnittlich Sport?

Daraus lässt sich (a x b) der wöchentliche Bewegungsumfang eruieren. Intensive Einheiten können – falls vorhanden – doppelt gezählt werden.

International Physical Activity Questionnaire – short form (IPAQ-sf)

Der IPAQ-sf erhebt ebenfalls die durchschnittliche körperliche Aktivität über eine Woche, allerdings mit 7 Fragen etwas detaillierter nach intensiven und moderaten Einheiten sowie Gehen und sitzender Zeit.17 Dadurch werden mehr Informationen erhalten, was für die konkrete Steigerung von Sport und Bewegung hilfreich sein kann. Die Befragung nimmt etwas mehr Zeit als das PAVS in Anspruch.

Simple Physical Activity Questionnaire (SIMPAQ)

Der SIMPAQ ist deutlich detaillierter und erfragt im Rahmen eines kurzen Interviews für jeden Tag einer Woche die körperliche Aktivität detailliert – inkl. der Zeit, die sitzend verbracht wurde, und der Zeit im Bett. Zudem werden auch körperliche Aktivitäten im Haushalt (z.B. Gärtnern) miterfasst.18 Das Interview eignet sich daher eher für eine vertiefte Analyse der körperlichen Aktivität eines Patienten/einer Patientin und weniger für ein kurzes Screening.

Motivationales Vorgehen

Bei Patient:innen, welche die 150 Minuten moderate Bewegung pro Woche nicht erreichen, wird empfohlen, den Bewegungsumfang schrittweise zu steigern. Neben dem Vermitteln sowohl von Informationen zur gesundheitswirksamen Bewegung und deren Effekten auf Körper und Psyche als auch zu den negativen Einflüssen sitzenden Verhaltens kann es hilfreich sein, eine Verhaltensänderung nach den Grundsätzen der Motivierenden Gesprächsführung («Motivational Interviewing»)19 anzugehen. Die Technik hat sich bezüglich diverser Verhaltensänderungen bewährt20 und ist einfach zu erlernen und anzuwenden. Weitere Ansätze involvieren auch volitionale Aspekte, um die Verhaltensänderung aufrechtzuerhalten sowie eine ausführliche Analyse möglicher Barrieren. MoVo-LISA (Motivationales, Volitionales, Lebensstilintegriertes Bewegungscoaching)21 ist ein Ansatz mit regelmässigen Telefonkontakten, der sich an Determinanten von nachhaltigen Verhaltensänderungen orientiert und bei psychisch gesunden Menschen einen guten Effekt auf die durchschnittliche körperliche Aktivität gezeigt hat.22 Ein solches Coaching-Programm mit Fokus auf Ernährung und Bewegung steht in der Schweiz mit der Saluta Coach AG – einem Spin-off der Universität Basel – zur Verfügung ( salutacoach.ch ). Die Kosten werden von verschiedenen Krankenkassen aus der Zusatzversicherung teilweise übernommen. Eine multizentrische Studie konnte jedoch bei Patient:innen mit Depression (mindestens mittelgradig, Rekrutierung im stationären Rahmen) Effekte eines solchen Coachings auf den Bewegungsumfang ein Jahr nach Austritt nicht bestätigen,23 sodass bei psychisch schwerer erkrankten Menschen ein reines Coaching wahrscheinlich nicht ausreichend ist und bspw. auch supervidierte Trainingsmöglichkeiten angeboten werden sollten.

Verschreibung von Sport & Bewegung

Möglichkeiten, supervidierte Sport- und Bewegungsprogramme ärztlich zu verschreiben gibt es bis heute leider kaum, resp. die Vergütung durch die Krankenkassen ist nicht gewährleistet. Zwar kann auch ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Physiotherapie zur Steigerung der Bewegung resp. medizinische Trainingstherapie anordnen, eine zweite Anordnung wird aber von den Krankenkassen bei psychiatrischer Indikation oft nicht akzeptiert.

Der Schweizerische Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie (SVGS) engagiert sich seit Jahren dafür, dass die Kosten für Sporttherapie in der Zukunft von Krankenkassen übernommen werden. Seit Januar 2024 ist die Methode «Sport- und Bewegungstherapeut:in SVGS» ins ErfahrungsMedizinischeRegister (EMR) aufgenommen und wird über Zusatzversicherungen der EGK übernommen. Mit weiteren Krankenkassen laufen Gespräche.

Eine weitere Möglichkeit der supervidierten Bewegung in Gruppen für Menschen mit psychischen Erkrankungen besteht mit den verschiedenen Gruppen von PluSport, dem Dachverband der schweizerischen Behindertensportorganisationen:24 In verschiedenen Regionen der Schweiz bestehen Sportgruppen unterschiedlicher Modalitäten wie Nordic Walking, Polysport, Klettern, Fussball etc.

Die Förderung von Sport und Bewegung erfordert somit eine gute interprofessionelle Kooperation im Rahmen von ambulanten Netzwerken. Neben den bereits erwähnten Berufsgruppen der Physiotherapie sowie der Sport- und Bewegungstherapie können auch psychologische Psychotherapeut:innen eine wichtige Rolle spielen. Ambulante psychiatrische Pflegefachpersonen mit entsprechendem Interesse und Kenntnissen könnten die Umsetzung von individuellen Bewegungszielen ebenfalls unterstützen. Idealerweise finden regelmässige Standortgespräche im ambulanten Rahmen statt, um die Bemühungen zu koordinieren und an denselben Themen zu arbeiten. Für ein koordiniertes Vorgehen innerhalb der psychiatrischen Versorgungslandschaft mit dem Ziel der Steigerung der körperlichen Aktivität sowie der Förderung einer gesunden Ernährung hat bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in einer holländischen Studie ein nachhaltiger Effekt auf die körperliche Aktivität sowie metabolische Risikofaktoren gezeigt werden können.25

Hindernisse in der Umsetzung

Neben den bereits erwähnten finanziellen Hindernissen im Rahmen der bisher mangelnden Vergütung von Bewegungscoaching und supervidierten Trainingsprogrammen werden von einem wesentlichen Teil der Gesundheitsfachpersonen in der Praxis auch fehlende Angebote und zu wenig Möglichkeiten, Sport und Bewegung zu verschreiben, als Barrieren genannt.26 Nicht zu unterschätzen sind auch spezifische Barrieren seitens der Patient:innen mit psychischen Erkrankungen. Gemäss einer Metaanalyse stellen schlechte Stimmung, Stress und fehlende soziale Unterstützung die häufigsten von Patient:innen wahrgenommenen Barrieren dar,27 eine qualitative Untersuchung fand Medikamentennebenwirkungen sowie somatische Komorbiditäten als weitere wichtige Barrieren.28 Bei Menschen mit Depression zeigt sich, dass Determinanten für körperliche Aktivität wie beispielsweise Selbstwirksamkeit, Ergebniserwartungen und intrinsische Motivation bei höherem Schweregrad der Depression signifikant ungünstiger sind.29

Schlussfolgerungen

Das Erreichen des empfohlenen gesundheitswirksamen wöchentlichen Bewegungsumfangs von 150 Minuten moderater und/oder 75 Minuten intensiver Bewegung15 hat für Menschen mit psychischen Erkrankungen viel Potenzial für die psychische und somatische Gesundheit. Um ausserhalb psychiatrischer Institutionen Sport und Bewegung von Patient:innen mit psychischen Erkrankungen zu fördern, ist es zentral, die körperliche Aktivität als gesundheitsrelevanten Faktor zu erheben. Dies erfordert spezifische Ansätze, welche Barrieren dieser Patient:innengruppe mitberücksichtigen, und neben motivationalen Strategien und Bewegungscoaching auch supervidierte Trainingsmöglichkeiten, Mobilisierung sozialer Unterstützung, gute Einstellung der Medikation inklusive Management potenziell limitierender Medikamentennebenwirkungen und ein gut koordiniertes interprofessionelles ambulantes Netzwerk.

1 Imboden C et al.: [The importance of physical activity for mental health]. Praxis (Bern 1994) 2022; 110(4): 186-91 2 Imboden C et al.: Physical activity for the treatment and prevention of depression: A rapid review of meta-analyses. Dtsch Z Sportmed 2021; 72 3 Imboden C et al.: Aerobic exercise or stretching as add-on to inpatient treatment of depression: Similar antidepressant effects on depressive symptoms and larger effects on working memory for aerobic exercise alone. J Affect Disord 2020; 276: 866-76 4 Contreras-Osorio F et al.: Effects of physical exercise on executive function in adults with depression: A systematic review and meta-analysis. Int J Environ Res Public Health 2022; 19(22) 5 Bundesärztekammer (BÄK) KBK, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale Versorgungs Leitlinie Unipolare Depression – Leitlinienreport, Version 3.0.2022 [cited 2023 05-15] 6 Ramos-Sanchez CP et al.: The anxiolytic effects of exercise for people with anxiety and related disorders: An update of the available meta-analytic evidence. Psychiatry Res 2021; 302: 114046 7 Giménez-Meseguer J et al.: The benefits of physical exercise on mental disorders and quality of life in substance use disorders patients. Systematic review and meta-analysis. Int J Environ Res Public Health 2020; 17(10) 8 Dauwan M et al.: Exercise improves clinical symptoms, quality of life, global functioning and depression in schizophrenia: a systematic review and meta-analysis. Schizophrenia bulletin 2016; 42(3): 588-99 9 Girardi P et al.: Causes of mortality in a large population-based cohort of psychiatric patients in Southern Europe. J Psychiatr Res 2021; 136: 167-72 10 Gerber M et al.: Cardiovascular disease and excess mortality among people with depression: Meta-analytic evidence and the potential role of physical activity as a game changer. Dtsch Z Sportmed 2021; 72 11 Schuch FB et al.: Exercise improves physical and psychological quality of life in people with depression: A meta-analysis including the evaluation of control group response. Psychiatry Res 2016; 241: 47-54 12 Brand S et al.: The current state of physical activity and exercise programs in German-speaking, Swiss psychiatric hospitals: Results from a brief online survey. Neuropsychiatric Disease and Treatment 2016; 12: 1309-17 13 Ehrbar J et al.: Psychiatric in-patients are more likely to meet recommended levels of health-enhancing physical activity if they engage in exercise and sport therapy programs. Frontiers in Psychiatry 2018; 9 14 Cody R et al.: Short-term outcomes of physical activity counseling in in-patients with Major Depressive Disorder: Results from the PACINPAT randomized controlled trial. Frontiers in Psychiatry 2023; 13: 3074 15 Bundesamt für Sport B. Gesundheitswirksame Bewegung bei Erwachsenen – Empfehlungen für die Schweiz. 2013. Contract No.: Report 16 Kuntz JL et al.: Validity of the exercise vital sign tool to assess physical activity. Am J Prev Med 2021; 60(6): 866-72 17 Booth ML et al.: International physical activity questionnaire: 12-country reliability and validity. Med sci sports Exerc 2003; 195(9131/03): 3508-1381 18 Rosenbaum S et al.: Assessing physical activity in people with mental illness: 23-country reliability and validity of the simple physical activity questionnaire (SIMPAQ). BMC psychiatry 2020; 20(1): 108 19 Miller W, Rollnick S: Motivierende Gesprächsführung. 4. Vollständige Übersetzung der 3. amerikanischen Auflage ed: Lambertus; 2015 20 Frost H et al.: Effectiveness of Motivational Interviewing on adult behaviour change in health and social care settings: A systematic review of reviews. PLoS One 2018; 13(10): e0204890 21 Göhner W, Fuchs R: Änderung des Gesundheitsverhaltens MoVo-Gruppenprogramme für körperliche Aktivität und gesunde Ernährung. 1. Auflage ed: Hogrefe; 2007 22 Fischer X et al.: Telephone-based coaching and prompting for physical activity: Short-and long-term findings of a randomized controlled trial (Movingcall). International journal of environmental research and public health 2019; 16(14): 2626 23 Kreppke J-N et al.: Long-term outcomes of physical activity counseling in in-patients with major depressive disorder: Results from the PACINPAT randomized controlled trial. Transl Psychiatry. under review 24 PluSport. Menschen mit psychischer Beeinträchtigung [Available from: https://www.plusport.ch/de/sport/nachwuchsfoerderung/nachwuchsfoerderung-projekte/menschen-mit-psychischer-beeintraechtigung/ #c15544 25 Deenik J et al.: Changes in physical and psychiatric health after a multidisciplinary lifestyle enhancing treatment for inpatients with severe mental illness: The MULTI study I. Schizophrenia research 2019; 204: 360-7 26 Imboden C et al.: Physical activity in psychiatry – current state and challenges: An online-survey on sports psychiatry in health professionals. Sports Psychiatry 2024; accepted 27 Firth J et al.: Motivating factors and barriers towards exercise in severe mental illness: a systematic review and meta-analysis. Psychol Med 2016; 46(14): 2869-81 28 Glover CM et al.: Barriers to exercise among people with severe mental illnesses. Psychiatr Rehabil J 2013; 36(1): 45-7 29 Cody R et al.: Depression severity and psychosocial determinants of physical activity behavior in in-patients with major depressive disorders. Psychology of Sport and Exercise 2022; 63: 102294

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