© SOMOSA

Ein sicherer Rahmen für Jugendliche

«Wir wollen nicht zum nächsten Abbruch werden»

Seit zwei Jahren ist Dr. med. univ. Leonhard Funk der ärztliche Leiter der Modellstation SOMOSA. Die Einrichtung in Winterthur war bei ihrer Gründung eben das: ein Modell, angesiedelt zwischen sozialpädagogischer Heimeinrichtung und jugendpsychiatrischer Klinik. Mittlerweile hat sie sich als Zufluchtsstelle für männliche Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren etabliert. Dort leben sie in kleinen Wohngruppen zusammen und bereiten sich darauf vor, Alltag und Arbeitsleben zu meistern.

Dr. Funk, was genau ist das «Modell», das Sie in der SOMOSA verfolgen?

L. Funk: Ursprünglich wurde unsere Station für Jugendliche mit dissozialen Auffälligkeiten gegründet. Damals, vor rund 25 Jahren, war es eine grosse Schwierigkeit, diese jungen Menschen nachhaltig zu behandeln. Für psychiatrische Kliniken waren solche Patienten zu intensiv und unangepasst und für Jugendheime zu stark psychisch belastet. Das Ergebnis war, dass sie zwischen den Einrichtungen hin- und hergeschoben wurden. Mit der Gründung der SOMOSA wollte man dem entgegenwirken. Hier sollten Sozialpädagogik und Jugendpsychiatrie hybrid eingesetzt werden, sodass beide vom regen intersystemischen Austausch profitieren.

Im Grunde läuft die SOMOSA auch heute noch nach diesem Prinzip. Wir haben drei zentrale Bereiche: die Sozialpädagogik im Wohnbereich, die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Therapie- und Medizinbereich und die Arbeitsagogik für die Tagesstruktur. Alle drei arbeiten sehr eng und auf Augenhöhe zusammen.

Wie sieht die Betreuung der Jugendlichen konkret aus?

L. Funk: Für jeden Klienten haben wir ein Fallteam mit je einer Person aus den drei Bereichen. Diese Teams betreuen die Jugendlichen möglichst autonom, sodass auch die Kollegen eine Art «empowerment» erfahren. Schwierigkeiten besprechen wir aber natürlich gemeinsam.Unsere grösste Herausforderung ist, dass die Fälle in der SOMOSA besonders komplex sind. Die Klienten haben im Durchschnitt schon 8 Platzierungen hinter sich – sind aber erst um die 16 Jahre jung. Die meisten haben also schon viel erlebt und ausprobiert. Zu uns kommen sie häufig ohne grosse Erwartungen.

Wie entscheiden Sie, ob Sie einen Jugendlichen aufnehmen?

L. Funk: Dazu gibt es ein Indikationsgespräch mit dem Jugendlichen und seiner Beiständin oder seinem Beistand und wenn möglich auch mit den Eltern. In diesem Gespräch gehen wir ebenfalls interdisziplinär vor. Einerseits klären wir, ob der pädagogische Rahmen angemessen ist. Unter anderem bedeutet das sicherzugehen, dass der Jugendliche nicht gleich die Flucht ergreift, wenn er zu uns kommt. Von medizinischer Seite müssen wir die Spitalbedürftigkeit nachweisen, um gegenüber der Krankenkasse zu begründen, weshalb eine ambulante Behandlung nicht ausreicht. Zum Schluss ist noch wichtig, dass wir in der SOMOSA keine Akutstation haben und daher ausschliessen müssen, dass derjenige akut suizidal oder hochpsychotisch ist.

«SOMOSA» …

steht für «sozialpädagogisch-psychiatrische Modellstation für schwere Adoleszentenstörungen».
Einen Rundgang durch die SOMOSA gibt es hier: www.somosa.ch/video

Ob wir einen Jugendlichen bei uns aufnehmen, ist keine leichtfertige Entscheidung. Wir haben den Anspruch, auch wirklich dranzubleiben, wenn wir einmal zugesagt haben. Wir wollen nicht zum nächsten Abbruch werden.

Eine Behandlung in der SOMOSA ist für alle Beteiligten eine Verpflichtung.

L. Funk: Ja, das ist sie. Bei einem Standardfall erwarten wir zwischen 9 und 12 Monaten stationärer Behandlung. Diese lange Dauer ist heutzutage sehr ungewöhnlich, für unser Vorgehen aber notwendig. Unsere Klienten haben meist schon viel hinter sich und wollen in der SOMOSA endlich stabil werden, um dann eine Ausbildung zu beginnen. Dafür lernen sie durch die Tagesstruktur in der SOMOSA Fähigkeiten wie Zuverlässigkeit, Ausdauer und zwischenmenschlichen Umgang. All das braucht seine Zeit. Oft sind die Jugendlichen im ersten Gespräch selbst schockiert, wenn sie hören, wie lange so eine Behandlung dauert.

Welche Jugendlichen lassen sich dann darauf ein?

L. Funk: Viele unserer Klienten sind zwar sehr belastet und öfter gescheitert, aber haben die Hoffnung nicht ganz verloren. Sie sind bereit, sich die Behandlung und die vielen Einschränkungen, die damit einhergehen, «anzutun».

Dann gibt es eine zweite Gruppe, die meinen, dass es für sie belanglos wäre, ob sie nun zu Hause im Zimmer rumsitzen oder bei uns. Diese Klienten sind für uns zwar schwieriger zu aktivieren, allerdings besteht hier weniger die Gefahr, dass sie davonlaufen.

Eine dritte – sehr kleine – Gruppe sind jene, die sich gut führen lassen und wenige Probleme bereiten.

Wie gehen Sie mit Jugendlichen um, die alles, inklusive der Therapie, kategorisch ablehnen?

L. Funk: Nun, es kommt darauf an, ob sie aktiv oder passiv ablehnend sind. Es gibt Klienten, bei denen man sich noch so sehr auf den Kopf stellen kann, und sie machen trotzdem, was sie wollen – etwa abends ausgehen, um einen Joint zu rauchen. Wir halten sie dann nicht physisch fest, haben aber pädagogische Mittel, um dem zu begegnen. Bei Drogenkonsum zum Beispiel, oder wenn jemand keine Urinprobe abgeben möchte, gehen gewisse Privilegien verloren.

Neulich hatten wir ein Krisengespräch mit einem Klienten, der an 17 der 27 Tage, die er bei uns ist, unerlaubt im Ausgang war. In solchen Fällen ist es nötig, klar zu vermitteln, dass die nächste Stufe möglicherweise eine geschlossene Einrichtung sein wird, aus der er zunächst auch physisch nicht herauskann.

Worauf kommt es bei solchen Situationen an?

L. Funk: Zentral ist bei unserer Arbeit immer die Frage, was jemand kann und was er will. Das führt durchaus auch intern zu Diskussionen, ob man nun pädagogisch klarer sein muss oder das aufgrund der Belastung des Störungsbildes gar nicht möglich ist. Die Jugendlichen geben meistens an, etwas nicht zu wollen. Das ist mit dem Selbstwert besser zu vereinbaren, als etwas nicht zu können.

Haben Sie persönlich auch viel Kontakt zu den Jugendlichen?

L. Funk: Das hängt von der Situation ab. Bei dem angesprochenen Krisengespräch etwa war ich dabei. Mir ist in solchen Fällen wichtig, zwischen den Eltern bzw. Beiständen und dem Klienten zu vermitteln. Oft dringen die Erwachsenen in ihrer Not sehr auf den Jugendlichen ein. Das ist besonders tragisch, wenn der Vorwurf der Schuld mitschwingt. Dieser Druck funktioniert anfangs vielleicht, ist aber mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden. Auf lange Sicht führen Schuldgefühle eher zu Vermeidungsverhalten, wie Passivität, Weglaufen oder Drogenkonsum.

Es ist wie bei einem Kind, das Angst hat, weil man es zu früh ins tiefe Becken schickt. Da hilft es auch nicht, zu sagen: «Das ist deine Chance, schwimmen zu lernen, also nütz sie bitte.»

Eines der grossen Schlagworte der SOMOSA ist «intersystemisch». Was haben Sie selbst von den anderen Berufsgruppen gelernt?

L. Funk: Ganz viel! Bei uns weicht die strikte Trennung der Berufsgruppen zwangsläufig auf. In einer Einrichtung wie unserer arbeiten Therapeuten, Pflegende und Pädagogen Hand in Hand. Unser Team versteht sich als eine Art «Kulturvermittler» für die Jugendlichen. Gemeinsam versuchen wir, Kontexte zu klären, und müssen auch unseren Umgang mit den Jugendlichen untereinander abstimmen. Dabei konnte ich viel von meinen Kollegen und Kolleginnen lernen.

Dass wir im Alltag so vernetzt arbeiten, ergibt sich vor allem daraus, dass bei unserer Klientel Probleme oft aus frühen Störungen resultieren und insbesondere die Impulskontrolle fehlt. Deshalb müssen wir direkt im Alltag ansetzen. Wenn Probleme auftreten, kann ich sie nicht für die nächste Therapiestunde aufheben, sondern muss sie im Moment behandeln.

Wie kann man sich solche Situationen konkret vorstellen?

L. Funk: Viele unserer Klienten verlieren sich schnell in starken Gefühlen und sind davon vollkommen überwältigt. Die zentralen Stichworte aus therapeutischer Sicht sind die fehlende Emotionsregulation, Affekttoleranz und Impulssteuerung. All diese Fähigkeiten müssen unsere Klienten basal üben.

In der SOMOSA versuchen wir intensiv, Dingen auf den Grund zu gehen, für die den Betroffenen selbst die Worte fehlen. Für mich ist das einer der spannenden Aspekte meiner Arbeit. Ich kann unsere Klienten in der Regel nicht einfach fragen, wie es ihnen gerade geht. Sie sind vollkommen in ihrem Erleben. Das therapeutische Setting im engeren Sinn, in dem man sich der Introspektions- und Reflexionsfähigkeit widmet, erreichen wir mit unseren Klienten erst sehr viel später.

Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

L. Funk: Solche Fälle gibt es einige. Ein besonders eindrücklicher war ein Jugendlicher, der zu uns kam, nachdem er schon 1½ Jahre sehr zurückgezogen gelebt hatte. Zu Hause kam er aus seinem Zimmer nur heraus, um aufs Klo zu gehen, und das Essen brachten ihm die Eltern. Nachdem er zunächst in einer Klinik zur Behandlung gewesen war, kam er zu uns in die SOMOSA. Der Klient selbst war aber der festen Überzeugung, psychisch vollkommen gesund zu sein, weshalb er sich zu Beginn auch weigerte, eine Therapie zu machen. Das ist allerdings bei uns nicht optional.

Wie haben Sie den Klienten erlebt?

L. Funk: Es war eine intensive Erfahrung. Obwohl er für die SOMOSA noch recht jung war, hat er alle angesprochen wie ein Schuldirektor, der ein schlimmes Kind rügt. Er hat Befehle gebrüllt, die wirklich durch Mark und Bein gingen. Und das, obwohl er vom Aussehen eigentlich ein eher unauffälliger, schmächtiger Jugendlicher war.

Besserte sich sein Verhalten durch die Behandlung?

L. Funk: Zunächst blieb es monatelang konstant. Er wollte mit niemandem sprechen, ganz besonders nicht mit den Therapeuten. Dann stellte sich aber heraus, dass er sich für Musik interessiert und sogar in seinem Zimmer Klavier übt. Ich habe ihm dann angeboten, ihn «in Ruhe» zu lassen, wenn er in eine Musiktherapie geht. Das war ein erster kleiner Durchbruch. Nach einem Dreivierteljahr kam der zweite Durchbruch. Eine der Mitarbeiterinnen aus dem Wohnbereich fand damals heraus, dass er das Zimmer auch deshalb nicht verlassen wollte, weil er sich für seine Kleidung schämte. Als er einwilligte, mit ihr neue Sachen einzukaufen, konnten wir das alle nicht glauben. Obwohl wir von da an endlich Fortschritte machten, mussten wir den Klienten aufgrund eines Zwischenfalls leider auf die Psychiatrie verlegen. Das war damals wirklich sehr unglücklich, weil wir gerne weitergearbeitet hätten.

Insgesamt war dieser Klient über ein Jahr lang bei uns. Solche gewaltigen Zeiträume sind ein Aspekt unserer Arbeit, der für Aussenstehende sehr ungewöhnlich wirkt. Nicht zuletzt auch für die Krankenkassen.

Wie läuft die Entlassung, wenn ein Fall positiv ausgeht?

L. Funk: Die Klienten kommen bei uns gegen Ende in eine sogenannte Austrittsphase. Die ist sehr intensiv, mitunter konfliktreich und oft mit scheinbaren Verschlechterungen verbunden. Für die Jugendlichen fängt es danach aber erst richtig an. Sie können über die Invalidenversicherung einen Arbeitsplatz mit Unterstützung bekommen, was vom Job-Coaching bis zur Vollbetreuung reichen kann. Dadurch haben sie die Chance auf eine vollwertige Ausbildung.

Ich habe gelesen, dass Sie als Kind Pfarrer oder Landwirt werden wollten. Gibt es Momente, in denen Sie Ihre Berufswahl bereuen?

L. Funk: Nein, die gibt es überhaupt nicht. Ich habe mich zwar immer für Naturwissenschaft interessiert, bin im Herzen aber in Wirklichkeit Geisteswissenschaftler. Weil ich mich nicht entscheiden konnte, kam am Ende die Psychiatrie als gute Mischung heraus.

Als mich aber meine kleinen Söhne einmal in der SOMOSA besuchten, fragten sie mich, warum ich eigentlich in meinem langweiligen Büro arbeite, wenn es doch im Medienlabor eine VR-Brille und einen 3D-Drucker gibt. Für sie war meine Wahl ganz unverständlich.

Was macht die SOMOSA einzigartig?

L. Funk: Das ist vor allem die viele Zeit, die wir den Patienten widmen können. Mittlerweile wird auch in der Psychiatrie immer mehr Tempo gefordert, so wie wir es aus anderen medizinischen Fachbereichen kennen. Die SOMOSA ist dagegen eine eigene kleine Insel, auf der wir zeigen können, dass es Mehrwert hat, wenn man sich Zeit nimmt.

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