
Somatische Versorgung und Lebensstilinterventionen
Autorinnen:
Dr. biol. hum.Annabel Sandra Mueller-Stierlin Dipl. Ernährungswissenschaften, M.Sc. Medical Biometry
Universität Ulm
Dr. oec. troph. Johanna Breilmann
M.Sc. Ernährungswissenschaften
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II
Universität Ulm
Korrespondenz:
Dr. biol. hum. Annabel Sandra Mueller-Stierlin
Personen mit psychischen Erkrankungen haben eine deutlich verminderte Lebenserwartung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, die vor allem auf körperliche Komorbiditäten zurückzuführen ist. Die somatische Gesundheitsversorgung kommt im psychiatrischen Kontext häufig zu kurz. Internationale Erkenntnisse und Empfehlungen werden im deutschsprachigen Raum bislang ungenügend umgesetzt.
Keypoints
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Menschen mit psychischen Erkrankungen leiden häufig an somatischen Begleiterkrankungen und einer damit verbundenen verminderten Lebenserwartung.
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Dem körperlichen Gesundheitszustand soll in der psychiatrischen Versorgung mehr Beachtung beigemessen werden.
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Interdisziplinäre Maßnahmen zum Gewichtsmanagement sind erforderlich, um die vorzeitige Sterblichkeit zu reduzieren.
Insbesondere aufgrund von körperlichen Komorbiditäten, wie Adipositas, Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen, haben Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen eine um zehn Jahre verminderte Lebenserwartung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung.1,2 Die körperlichen Komorbiditäten sind auf Nebenwirkungen von psychoaktiven Medikamenten,3 ungünstige Lebensstilfaktoren,4 aber auch die Vernachlässigung der somatischen Gesundheitsversorgung im psychiatrischen Kontext5,6 zurückzuführen. Um dem entgegenzuwirken, sind Versorgungskonzepte zur Förderung der körperlichen Gesundheit, insbesondere hinsichtlich einer Gewichtsoptimierung, und der Prävention somatischer Begleiterkrankungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der Wissenschaft gerückt. So wurde 2019 ein Positionspapier der Lancet Psychiatry Commission „zum Schutz der körperlichen Gesundheit von Menschen mit psychischen Erkrankungen“ veröffentlicht. Hierin werden ernährungsbezogene Interventionen in Kombination mit körperlicher Aktivität, Raucherentwöhnung, der Verschreibung bewährter psychotroper Medikamente und dem Einsatz von Metformin in Prävention und Behandlung als Schlüsselstrategien zur Verringerung dieser gesundheitlichen Ungleichheiten und der Sterblichkeitslücke empfohlen.7
Behandlungsleitlinien
In Österreich gibt es bislang jedoch kaum entsprechende Empfehlungen der Fachgesellschaften. So enthält das aktuelle Konsensuspapier der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB) zur Behandlung von Depressionen zwar Hinweise auf die mögliche gewichtssteigernde Wirkung einer medikamentösen Therapie, jedoch keinerlei Empfehlungen, welche Therapiekonsequenzen sich davon ableiten.8 Auch in der Behandlungsempfehlung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) mit dem Titel „Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen: Update 2016“ werden keine Empfehlungen zum Gewichtsmanagement ausgesprochen.9 Die Bezeichnung „somatische Behandlung“ dient hier lediglich der Abgrenzung zur psychotherapeutischen Behandlung und adressiert nicht die körperliche Gesundheit der Menschen mit Depressionen. Dagegen enthalten Leitlinien zur Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zunehmend Empfehlungen zur Reduzierung einschlägiger Risikofaktoren von Übergewicht und somatischen Komorbiditäten.10,11 Entsprechend der aktualisierten S3-Leitlinie „Schizophrenie“ werden ein Screening und Monitoring von somatischen Komorbiditäten empfohlen und Empfehlungen zu Konsequenzen bzgl. der psychiatrischen Versorgung werden ausgesprochen.11 In der aktualisierten S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ wurde außerdem eine neue Empfehlung zum Angebot multimodaler gesundheitsfördernder Interventionen mit den Schwerpunkten gesunde Ernährung und körperliche Aktivität aufgenommen (Empfehlungsgrad A).10 Es fehlen jedoch auch in Deutschland konkrete Handlungsempfehlungen und Weiterbildungsangebote für psychiatrische Fachkräfte,12 um solche gesundheitsfördernden Leistungen zielgruppenadäquat im Rahmen der psychiatrischen Versorgung in Deutschland anzubieten.
Praktische Umsetzung von Versorgungskonzepten
In einigen Ländern zählen ernährungsbezogene Interventionen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen zwischenzeitlich zur Routineversorgung. Ein Beispiel für ein solches Interventionsprogramm ist das „Keeping the Body in Mind“-Programm aus Australien. In diesem Programm arbeiten Vertreter und Vertreterinnen verschiedener Fachrichtungen und Disziplinen in einem multiprofessionellen Team zusammen und führen Lebensstilinterventionen bezogen auf Ernährung und Bewegung bereits im Frühstadium der Behandlung einer Psychose durch.13 Eine Ernährungsfachkraft verwendet einen individualisierten Ansatz bei der Wissensvermittlung sowie bei der Initiierung von Verhaltensänderungsprozessen und kombiniert dies mit der Vermittlung praktischer Alltagskompetenzen wie Einkaufen, Essensplanung und Kochen.14 Die Machbarkeit und Wirksamkeit des „Keeping the Body in Mind“-Programmes wurden in ersten Pilotstudien demonstriert.15,16 Interventionsprogramme und Forschungsergebnisse zu Lebensstilinterventionen aus anderen Ländern können jedoch nicht ohne Weiteres auf andere Versorgungssysteme und Kulturen übertragen werden, da die Machbarkeit, aber auch die Effektivität stark von nationalen und regionalen Gegebenheiten abhängen. Es müssen zum einen rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems berücksichtigt werden, zum anderen wird der Lebensstil im besonderen Maße von kulturellen und sozialen Faktoren geprägt.
Bereits vor etwa zehn Jahren wurde durch ein europäisches Netzwerk zur Förderung der Gesundheit von Bewohnern in psychiatrischen und sozialen Einrichtungen das HELPS-Toolkit entwickelt.17,18 Eine besondere Herausforderung bestand auch damals darin, ein Programm zu entwickeln, das in unterschiedlichen europäischen Ländern, teils mit geringen finanziellen Ressourcen, eingesetzt werden kann und daher flexibel genug ist, an die lokalen und regionalen Gegebenheiten angepasst zu werden. Das entwickelte HELPS-Toolkit zielt zum einen auf das Screening und Monitoring der körperlichen Gesundheit der Klienten und zum anderen auf die Anwendung der „motivierenden Gesprächsführung“ zur Förderung der Bereitschaft zur Veränderung gesundheitsschädlicher Verhaltensweisen im Bereich der Ernährung, des Bewegungsverhaltens, des Tabak- und Alkoholkonsums sowie der Oralhygiene von Betroffenen ab.
Im Rahmen einer Pilotstudie wurde die Anwendbarkeit des Programms in psychiatrischen Behandlungseinrichtungen in zehn europäischen Ländern positiv beurteilt.18 Auch wenn die Wirksamkeit in einer prospektiven, kontrollierten Pilotstudie bei Bewohner und Bewohnerinnen sozialpsychiatrischer Wohneinrichtungen in Deutschland (DRKS-ID: DRKS00011659) nicht gezeigt werden konnte (noch nicht veröffentlicht), lieferte dieses Projekt, insbesondere die qualitativen Interviews mit teilnehmenden sozialpsychiatrischen Fachkräften, wertvolle Informationen zu förderlichen und hinderlichen Faktoren der Implementierung von Lebensstilinterventionen.
Derzeit werden außerdem qualitative Interviews mit Betroffenen in Ulm, Graz und Sydney durchgeführt, um Erfahrungen, Gedanken und Überzeugungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen rund um deren Ernährungsverhalten zu erforschen, insbesondere in Bezug auf Barrieren und Herausforderungen im Zusammenhang mit ihrer Krankheit und Medikamentennebenwirkungen. Darauf aufbauend soll ein Screening-Tool (Nutrimental-Screener) entwickelt werden, um frühzeitig Betroffene zu identifizieren, welche von gesundheitsfördernden Leistungen profitieren könnten. Im Rahmen einer präventiven Gesundheitsförderung von Menschen mit psychischen Erkrankungen könnte man somit unerwünschten Gewichtsveränderungen zu Beginn der psychiatrischen Behandlung gezielt entgegensteuern und somatischen Komorbiditäten vorbeugen. Durch die frühzeitige Adressierung von Lebensstilfaktoren und somatischen Nebenwirkungen im Rahmen der psychiatrischen Behandlung anhand des HELPS-Toolkits sollen der Zugang von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu bestehenden Möglichkeiten und Angeboten der Gesundheitsförderung und deren Nutzung intensiviert werden. Es wird erwartet, dass ein solches Versorgungskonzept zu einem gesundheitsfördernden Effekt (primär bezogen auf das Körpergewicht) führt. Dies ginge mit einer Verbesserung bei patientenrelevanten Kriterien, wie der Patientenzufriedenheit und der Lebensqualität, einher.
Literatur:
1 De Hert M et al.: Physical illness in patients with severe mental disorders. I. Prevalence, impact of medications and disparities in health care. World Psychiatry 2011; 10(1): 52-77 2 Walker Elizabeth et al.: Mortality in mental disorders and global disease burden implications: a systematic review and meta-analysis. JAMA Psychiatry 2015; 72(4): 334-41 3 Casey DE et al.: Antipsychotic-induced weight gain and metabolic abnormalities: implications for increased mortality in patients with schizophrenia. J Clin Psychiatry 2004; 65(Suppl 7): 4-18 4 Kilian R: Health behavior in psychiatric in-patients compared with a German general population sample. Acta Psychiatr Scand 2006; 114(4): 242-8 5 Becker T et al.: Somatische Krankenversorgung bei den psychischen Diensten. Psychiatrie 2012; 9(3): 143-51 6 Dornquast C et al.: To what extent are psychiatrists aware of the comorbid somatic illnesses of their patients with serious mental illnesses? - A cross-sectional secondary data analysis. BMC Health Serv Res 2017; 17(1): 162 7 Firth J et al.: The Lancet Psychiatry Commission: a blueprint for protecting physical health in people with mental illness. Lancet Psychiatry 2019; 6(8): 675-712 8 Kasper K et al.: Depression – Medikamentöse Therapie. Konsensus-Statement – State of the Art 2019. CliniCum Neuropsy (Sonderausgabe November 2019) 9 Holsboer-Trachsler E et al.: Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen. Update 2016. In: Swiss Medical Forum 2016; 16(35): 716-24 10 DGPPN (2018a): S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. S3-Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Unter Mitarbeit von Uta Guehne, Stefan Weinmann, Steffi G. Riedel-Heller und Thomas Becker 11 DGPPN (2018b): S3-Leitlinie Schizophrenie. Konsultationsfassung. Unter Mitarbeit von Thomas Wobrock, Wolfgang Gaebel, Alkomiet Hasan und Peter Falkai 12 Cordes J et al.: Therapeutic options for weight management in schizophrenic patients treated with atypical antipsychotics. Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 76(12): 703-14 13 Curtis J et al.: Evaluating an individualized lifestyle and life skills intervention to prevent antipsychotic-induced weight gain in first-episode psychosis. Early Intervention in Psychiatry 2016; 10(3): 267-76 14 Teasdale SB et al.: A nutrition intervention is effective in improving dietary components linked to cardiometabolic risk in youth with first-episode psychosis. In: Br J Nutr 2016; 115(11): 1987-93 15 Curtis J et al.: 2-year follow-up: Still keeping the body in mind. The Australian and New Zealand journal of psychiatry 2018; 52(6): 602-3 16 Teasdale SB et al.: The effectiveness of the Keeping the Body in Mind Xtend pilot lifestyle program on dietary intake in first-episode psychosis: Two-year outcomes. Obesity research & clinical practice 2019; 13(2): 214-6 17 Weiser P et al.: European network for promoting the physical health of residents in psychiatric and social care facilities (HELPS): background, aims and methods. BMC Public Health 2009; 9: 315 18 Weiser P et al.: Rationale, component description and pilot evaluation of a physical health promotion measure for people with mental disorders across Europe. J Community Med Health Educ 2014; 04(04)