Recoverybasierte, restriktionsfreie und zieloffene Suchtarbeit in der stationären Behandlung
Autorin:
Dr. med. Antje Monstein
Ärztliche Leitung Abhängigkeitserkrankung
Psychiatrische Dienste Thurgau
E-Mail: antje.monstein@stgag.ch
Wie kann Suchtbehandlung gelingen, wenn Verbote, Kontrollen und starre Abstinenzforderungen wegfallen? Das Münsterlinger Modell der Suchtbehandlung in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen zeigt: Recoveryorientierung, Zieloffenheit und restriktionsfreies Arbeiten führen zu mehr therapeutischer Tiefe, grösserer Zufriedenheit und nachhaltigerer Genesung – für Patient:innen wie auch für Fachpersonen.
Keypoints
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Recovery ist Haltung: Hoffnung, Beziehung und Autonomie sind wirksamer als Kontrolle.
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Zieloffenheit ermöglicht Individualisierung: Abstinenz ist nur eines von mehreren legitimen Behandlungszielen.
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Restriktionsfreiheit schafft Sicherheit: Transparenz und Vertrauen ersetzen Sanktionen und fördern echte Veränderung.
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Das Münsterlinger Modell wirkt nachhaltig: mehr Zufriedenheit, weniger Gewalt und ein authentischeres therapeutisches Miteinander.
Stationäre Suchtbehandlung war über Jahrzehnte durch Kontrollmechanismen, Abstinenzdogmen und hierarchische Strukturen geprägt. Diese Ansätze geraten zunehmend in die Kritik, da sie Scham, Rückzug und Behandlungsabbrüche begünstigen können. Parallel dazu wächst das Verständnis, dass Abhängigkeitserkrankungen komplexe biopsychosoziale Systemerkrankungen sind – Ausdruck dysfunktionaler Copingstrategien, belastender Lernerfahrungen und ungünstiger Entwicklungsbedingungen.
Vor diesem Hintergrund entstand in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen das Münsterlinger Modell der Suchtbehandlung: ein recoverybasiertes, restriktionsfreies und zieloffenes Behandlungskonzept, das Autonomie, Beziehung und Partizipation ins Zentrum stellt.
Theoretischer Hintergrund
Die Grundlage des Modells bildet die Recoveryorientierung, ein Ansatz aus der trialogischen Psychiatriebewegung. Recovery bedeutet nicht zwingend Symptomfreiheit, sondern einen subjektiv bedeutsamen Prozess des Gesundwerdens, der Selbstbestimmung und der sozialen Teilhabe.1
Darauf aufbauend ergänzen die drei zentralen Domänen Restriktionsfreiheit, Zieloffenheit und integrative Behandlung komorbider Störungen das Modell zu einem kohärenten Gesamtkonzept.
Restriktionsfreies Arbeiten
Das restriktionsfreie Arbeiten markiert einen paradigmatischen Bruch mit traditionellen Konzepten stationärer Suchtbehandlung.
Es verzichtet vollständig auf:
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Urin- und Atemalkoholkontrollen(ausser bei medizinischer Indikation wie bspw. der Installation einer Opioid-Agonisten-Therapie)
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Zimmer- und Gepäckkontrollen
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Sanktionen bei Konsumereignissen
Statt Kontrolle stehen Beziehung, Transparenz und Verantwortung im Mittelpunkt. Symptome der Suchterkrankung werden nicht bewertet oder bestraft, sondern als Kommunikations- und Beziehungseinladungen verstanden. Durch den Wegfall von Restriktionen wird die offene Reflexion von Konsumereignissen im Gruppen- und Einzelsetting möglich und therapeutisch nutzbar. Gleichzeitig gelten klare Sicherheitsrahmen: Gewalt, Drohungen, die Weitergabe von Substanzen oder Konsum auf Abteilung und Areal werden nicht toleriert.
Diese Haltung schafft ein sicheres, vertrauensvolles und partizipatives Klima, das authentische therapeutische Prozesse ermöglicht und Rückfälle als Teil des Lernprozesses integriert – statt sie als Scheitern zu definieren.
Zieloffenheit
In Anlehnung an die zieloffene Suchtarbeit nach Körkel et al.2,3 erfolgt im Münsterlinger Modell eine individuelle Zielklärung mit vier möglichen Konsumzielen:
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Abstinenz – vollständiges Sistieren der Einnahme
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Konsumreduktion – Verringerung der konsumierten Menge
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Schadensminderung – Stabilisierung und Minimierung von Risiken
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Kontrollierter Konsum – bewusster Umgang bei Begleitkonsum
Diese Offenheit ermöglicht einen ressourcenorientierten Zugang, der Rückfälle als Lernprozesse begreift und individuelle Genesungspfade anerkennt. Eine enge Begleitung erfolgt über Konsum- und Gefühlstagebücher, die Selbstwahrnehmung und Emotionsregulation fördern. Ziel ist das Erlernen einer selbstbestimmten Konsumkompetenz, die über den Klinikaufenthalt hinaus Bestand hat.
Integrative Behandlung komorbider Störungen
Die integrative Behandlung psychischer Komorbiditäten bildet den vierten zentralen Baustein des Modells. Im modularen Behandlungskonzept werden suchttherapeutische Interventionen mit weiteren Verfahren kombiniert – beispielsweise traumatherapeutischen Ansätzen wie der «narrativen Expositionstherapie» (NET) und der «imagery rescripting & reprocessing therapy» (IRRT).4 Im Vordergrund stehen beziehungsorientiertes Arbeiten, die Förderung von Selbstwert, Selbstfürsorge und Entscheidungskompetenz sowie das Erlernen gesunder Emotionsregulationsstrategien. Ergänzend werden achtsamkeitsbasierte Verfahren zur Stärkung der Selbststeuerung eingesetzt.
Evaluationsergebnisse
Zwischen Juni und September 2024 wurde eine qualitative Evaluation des Münsterlinger Modells durchgeführt. Patient:innen und Mitarbeitende wurden befragt, wie sie die Arbeit mit dem Modell erleben.
Patient:innen (n=23)
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100% gaben an, offen über Gefühle und Sucht sprechen zu können.
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95% berichteten grössere Authentizität und Hoffnung.
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81% fühlten sich zufriedener mit der Therapie.
Mitarbeitende (n=35)
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85% beschrieben einen offeneren Austausch.
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80% konnten Patient:innenwünschen besser gerecht werden.
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71% erlebten eine grössere Arbeitszufriedenheit.
Freitextantworten zeigten, dass Offenheit und der Verzicht auf Sanktionen zu mehr Ruhe, Vertrauen und Transparenz im Stationsalltag führten. Das Klima wurde als entspannter, ehrlicher und therapeutisch wirksamer erlebt. Seit der Einführung des Modells kommt es zudem zu weniger Fällen von gefährlichen Intoxikationen und deutlich weniger Gewaltereignissen, während das Sicherheitsgefühl auf den Stationen gestiegen ist. Dies wird auf die grössere Selbstbestimmung, die geringere Heimlichkeit beim Konsum und die zunehmende Eigenverantwortung zurückgeführt. Durch die erweiterten Selbstbestimmungsoptionen scheint sich reaktantes Verhalten zu erübrigen.
Diskussion
Das Münsterlinger Modell der Suchtbehandlung verdeutlicht, dass eine Haltung der Autonomie, Kooperation und Eigenverantwortung erfolgreicher sein kann als Kontrolle und Sanktion.5
Der Verzicht auf Restriktionen, die Förderung von Selbstverantwortung und die Zieloffenheit mit individuellen Genesungspfaden erweisen sich als zentrale Erfolgsfaktoren langfristiger Genesung. Die Ergebnisse der internen Evaluation zeigen, dass Patient:innen sich ernst genommen und ermutigt fühlen, während Mitarbeitende grössere Sinnhaftigkeit und Arbeitszufriedenheit erleben. Diese Veränderungen gehen über methodische Aspekte hinaus: Sie markieren einen Kulturwandel in der Suchtarbeit – weg von Disziplinierung, hin zu Beziehung, Vertrauen und echter Teilhabe.
Fazit
Das Münsterlinger Modell der Suchtbehandlung ist weniger eine konkrete Methode als eine «Art und Weise». Es verbindet Recoveryorientierung, Zieloffenheit, Restriktionsfreiheit und die integrative Behandlung komorbider Störungen zu einem ganzheitlichen Behandlungskonzept, das das Klima auf den Stationen verbessert, nachhaltige Veränderung fördert und sowohl Mitarbeitende als auch Patient:innen stärkt. Die positiven Evaluationsergebnisse sprechen für eine Übertragbarkeit auf andere stationäre Einrichtungen – vorausgesetzt, diese sind bereit, Machtstrukturen, Kontrollbedürfnisse und Abstinenzdogmen kritisch zu reflektieren.
Literatur:
1 Anthony WA: Recovery from mental illness: The guiding vision of the mental health service system in the 1990s. Psychosocial Rehabilitation Journal 1993; 16(4): 11-23 2 Körkel J et al.: Integrative Suchtarbeit – Konzepte, Methoden, Perspektiven. Freiburg: Lambertus 2008; 3 Körkel J et al.: Zieloffene Suchtarbeit: Ein neues Paradigma der Behandlung von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen. Suchttherapie 2011; 12(3): 109-14 4 Hien DA et al.: Project Harmony: A systematic review and network meta-analysis of psychotherapy and pharmacologic trials for comorbid posttraumatic stress, alcohol, and other drug use disorders. Psychological Bull 2024; 150(3): 319-53 5 Borg M, Kristiansen K: Recovery-oriented professionals: Helping relationships in mental health services. Journal of Mental Health 2004; 13(5): 493-505 6 Kemter A: Das Münsterlinger Modell – Recoverybasierte, restriktionsfreie und zieloffene Suchtarbeit in der stationären Behandlung. SGPP-Kongress Basel, 19.9.2025 7 Monstein A et al.: Evaluationsstudie «Zieloffene Suchtarbeit» – interne Ergebnisse der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen. Bislang unveröffentlichtes Manuskript 2024
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