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Ergebnisse der OSiA-Studie

Polypharmazie, potenziell inadäquate Medikamente und Psychopharmaka in österreichischen Pflegeheimen

<p class="article-intro">Daten zu Polypharmazie, potenziell inadäquaten Medikamenten (PIM) und Psychopharmaka in österreichischen Pflegeheimen existieren bis dato nur wenige. Mit dem Alter steigen die Multimorbidität und damit verbunden die Polypharmazie, wie in vielen internationalen Studien gezeigt werden konnte. Die OSiA-Studie liefert erstmals Daten zu Polypharmazie und PIM vor dem Hintergrund verschiedener Stadien kognitiver Beeinträchtigung bei Bewohnern von österreichischen Langzeitpflegeeinrichtungen.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Sowohl der Gebrauch verschreibungspflichtiger Medikamente als auch die Verschreibung von Psychopharmaka nehmen im ambulanten wie im station&auml;ren Bereich deutlich zu.</li> <li>Es existieren wenige Daten &uuml;ber den Zusammenhang zwischen Psychopharmaka und dem Ausma&szlig; kognitiver Beeintr&auml;chtigung sowie zwischen dem Ausma&szlig; kognitiver Beeintr&auml;chtigung und der Pr&auml;valenz von Polypharmazie und Verordnung von PIM in Langzeitpflegeeinrichtungen.</li> <li>Die OSiA-Studie zeigt f&uuml;r systemisch verordnete Dauermedikation einen Anteil an Polypharmazie von 75 % und an Hyperpolypharmazie von 43 % .</li> <li>Bei 72,4 % aller Bewohner fand sich mindestens 1 PIM, wobei Tranquilizer und Antipsychotika dominierten und gesamt ca. 57 % aller PIM ausmachten.</li> <li>Es zeigt sich eine anhaltend hohe Pr&auml;valenz von Polypharmazie und PIM in Einrichtungen der Langzeitpflege in &Ouml;sterreich; hier ist dringender Handlungsbedarf gegeben.</li> </ul> </div> <p>In &Ouml;sterreich leben ca. 72.700 Menschen in Langzeitpflegeeinrichtungen. Typischerweise treffen bei diesen in der Regel alten Menschen multiple chronische Erkrankungen zusammen, erschwerend kommen oft funktionelle und kognitive Defizite hinzu. Die Medikamentenverordnung bei diesen Patienten ist eine besondere Herausforderung und bedarf besonderer Sorgfalt im Bezug auf intendierten Nutzen und m&ouml;glichen Schaden. Aufgrund der Pr&auml;valenz von multiplen chronischen Erkrankungen ist Polypharmazie (&ge;5 Substanzen) ein h&auml;ufiges Ph&auml;nomen, als Folge ist das Risiko f&uuml;r unerw&uuml;nschte Arzneimittelereignisse erh&ouml;ht.</p> <h2>Mehr Schaden als Nutzen?</h2> <p>Der Gebrauch verschreibungspflichtiger Medikamente nimmt sowohl im ambulanten als auch im station&auml;ren Bereich deutlich zu. Daten aus fr&uuml;heren Studien zeigen, dass Pflegeheimbewohner mit kognitiver Beeintr&auml;chtigung zwischen 7 und 8 Medikamente t&auml;glich erhalten. Diese werden meist zur Behandlung chronischer Erkrankungen eingesetzt und nicht, wie es f&uuml;r solche Kollektive als sinnvoll erachtet wird, symptomorientiert verschrieben und sind &ndash; obwohl leitliniengerecht &ndash; oft von fraglichem Nutzen. Kognitiv beeintr&auml;chtigte Personen sind dabei besonders durch Substanzen gef&auml;hrdet, die kognitive Funktionen negativ beeinflussen oder Delirien ausl&ouml;sen. Auch die Verschreibung von Psychopharmaka hat in den letzten 15 Jahren bei Bewohnern von Pflegeeinrichtungen EU-weit signifikant zugenommen: Daten der SHELTER-Studie zeigen trotz inverser Beziehung zwischen kognitiver Leistungsf&auml;higkeit und Hyperpolypharmazie (&ge;10 Substanzen) einen vermehrten Gebrauch von psychoaktiven Substanzen mit einer exzessiven Verschreibung von Antipsychotika (35,6 % ), Tranquilizern (35,3 % ) und Antidepressiva (31,8 % ). Viele Psychopharmaka werden aber f&uuml;r alte, gebrechliche Menschen als potenziell inad&auml;quate Medikamente (PIM) betrachtet. Die Pr&auml;valenzzahlen von PIM in der Langzeitpflege in verschiedenen europ&auml;ischen L&auml;ndern unterscheiden sich deutlich, f&uuml;r das &ouml;sterreichische Bundesland Vorarlberg wurde eine Pr&auml;valenz von 70 % berichtet, aus dem Kollektiv der Studie OSiA (Optimiertes Schmerzmanagement in Altenpflegeheimen; siehe unten) gehen &auml;hnliche Zahlen hervor.</p> <h2>Beeintr&auml;chtigungen durch Polypharmazie</h2> <p>Kognitionseinschr&auml;nkungen sind nicht immer Konsequenz irreversibler Vorg&auml;nge &ndash; eine der wichtigsten vermeidbaren Ursachen reversibler kognitiver St&ouml;rungen im Alter sind Arzneimittel &ndash;, Psychopharmaka spielen in Bezug auf medikamentenbedingte kognitive Beeintr&auml;chtigungen die wichtigste Rolle. Die Psychopharmakologie im Alter ist in Kombination mit der assozierten Multimorbidit&auml;t und einer ver&auml;nderten Pharmakokinetik und -dynamik komplex. Beeintr&auml;chtigungen reichen von einfachen Kognitionseinschr&auml;nkungen bis hin zum Delir mit zus&auml;tzlichen Wahrnehmungs- und Bewusstseinseinschr&auml;nkungen. Obwohl Erstere h&auml;ufig auftreten und daher auch von gro&szlig;er Bedeutung sind, gibt es zum klinisch eindrucksvolleren Delir wesentlich mehr Daten.</p> <p>&Uuml;ber den Zusammenhang zwischen Psychopharmaka und dem Ausma&szlig; kognitiver Beeintr&auml;chtigung sowie zwischen dem Ausma&szlig; kognitiver Beeintr&auml;chtigung und der Pr&auml;valenz von Polypharmazie und PIM in Langzeitpflegeeinrichtungen existieren nur wenige Publikationen. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1606_Weblinks_seite41_1.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Ergebnisse der OSiA-Studie</h2> <p>Einen &Uuml;berblick &uuml;ber wesentliche Merkmale der Teilnehmer gibt die Tabelle 1. Die OSiA-Studie ist eine Interventionsstudie mit umfangreichen Daten zu Schmerzpr&auml;valenz, Schmerzmedikation und Medikation allgemein. Die hier beschriebene Untersuchung st&uuml;tzt sich auf die Baseline-Daten von insgesamt 425 Altenpflegeheimbewohnern.</p> <p>Die teilnehmenden Bewohner wurden eingeteilt in kognitiv leistungsf&auml;hige (KL) und kognitiv beeintr&auml;chtigte Patienten (KB), welche zur Selbstauskunft f&auml;hig waren (KBs) oder mittels Fremdeinsch&auml;tzung beurteilt wurden (KBf). Die Erhebung erfolgte mittels Befragung, Beobachtung und Analyse der Dokumentation. Die Fragestellung lautete, ob sich das Medikationsverhalten in Bezug auf Polypharmazie, PIM und Analgetika zwischen den kognitiv leistungsf&auml;higen Bewohnern und den Bewohnern mit kognitiver Beeintr&auml;chtigung unterscheidet.</p> <p>Die durchschnittliche Gesamtsumme der Medikamente betrug 14,37 &plusmn; 6,5 (mean &plusmn; SD), die Summe aller Dauermedikamente 10,35 &plusmn; 4,6. Polypharmazie (mehr als 5 systemische Dauermedikamente) fand sich in allen 3 Gruppen ann&auml;hernd gleich h&auml;ufig (Gruppe KL 76,1 % , Gruppe KBs 79,1 % , Gruppe KBf 74,1 % , n.s.). Mehr als 10 systemische Dauermedikamente (Hyperpolypharmazie) fanden sich insgesamt bei 43,1 % , in der Gruppe KL bei 48,7 % , in Gruppe KBs bei 42,6 % , in der Gruppe KBf war Hyperpolypharmazie mit 23,4 % signifikant seltener.</p> <p>Ein nicht unbetr&auml;chtlicher Prozentsatz entf&auml;llt auf ZNS-aktive Substanzen. Mindestens 1 PIM fand sich bei 72,4 % aller Bewohner. Unter den PIM dominierten in allen 3 Gruppen Tranquilizer und Antipsychotika, welche gesamt ca. 57 % aller PIM ausmachten (Abb. 1 und 2). Der Anteil der potenziell inad&auml;quaten Medikamente an der systemischen Gesamtmedikation betrug jeweils 11,3 % f&uuml;r die Gruppen KL und KBs und 10,74 % f&uuml;r die Gruppe KBf (n.s.). Dar&uuml;ber hinaus zeigte sich, dass diejenigen Probanden, die zumindest 1 PIM erhielten, im Durchschnitt 1,9 PIM bekamen.</p> <p>Die OSiA-Studie liefert erstmals Daten zu Polypharmazie und PIM vor dem Hintergrund verschiedener Stadien kognitiver Beeintr&auml;chtigung bei Bewohnern von &ouml;sterreichischen Langzeitpflegeeinrichtungen. Die Untersuchung zeigt, dass in der systemisch verordneten Dauermedikation der Anteil an Polypharmazie (75 % ) und Hyperpolypharmazie (43 % ) sehr hoch ist und Zahlen aus anderen Publikationen &uuml;bertroffen werden. In der europ&auml;ischen SHELTER-Studie beispielsweise wurde Polypharmazie bei 49,7 % der Teilnehmer gefunden, Hyperpolypharmazie bei 24,3 % . <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1606_Weblinks_seite41_2.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Potenziell inad&auml;quate Medikamente</h2> <p>Des Weiteren zeigt sich, dass die Zahl der systemisch verordneten Dauermedikation mit Zunahme der kognitiven Beeintr&auml;chtigung signifikant sinkt, der Anteil der potenziell inad&auml;quaten Medikamente an dieser Dauermedikation bleibt demgegen&uuml;ber im Wesentlichen unver&auml;ndert. Dies steht im Widerspruch zu anderen Studien, die zeigten, dass es mit Abnahme kognitiver oder funktioneller F&auml;higkeiten auch zu einem R&uuml;ckgang der PIM-Verschreibungen kam. Bei den potenziell inad&auml;quaten Medikamenten fand sich eine deutliche Tendenz zu psychoaktiven Substanzen, was deren anhaltend hohe Pr&auml;valenz bei &ouml;sterreichischen Pflegeheimbewohnern best&auml;tigt. Eine Trendwende im Verschreibungsverhalten als Folge zahlreicher internationaler Publikationen zu ung&uuml;nstigen Nebeneffekten psychotroper Medikamente in geriatrischen Kollektiven l&auml;sst sich jedenfalls nicht erkennen. <br />Die Ergebnisse best&auml;tigen die hohe Pr&auml;valenz von Polypharmazie, die bei zunehmender kognitiver Beeintr&auml;chtigung abnimmt. Einige Studien haben sich bis dato mit diesem Thema besch&auml;ftigt, allerdings kann keine dieser Studien Informationen &uuml;ber die Gr&uuml;nde f&uuml;r dieses Ph&auml;nomen liefern. Verschiedene Erkl&auml;rungen wurden in Betracht gezogen: Medikamente, welche die Kognition beeintr&auml;chtigen, sollten dementen Patienten nicht verabreicht werden, zudem ist die orale Medikamentenzufuhr in solchen Kollektiven zunehmend erschwert. Au&szlig;erdem ist eine zunehmende kognitive Beeintr&auml;chtigung mit einer limitierten Lebenserwartung assoziiert, weshalb oft abgewogen wird, welche Medikamente noch sinnvoll sind. Mit Zunahme des kognitiven Abbaus kommt es zu Problemen in der Kommunikation, wodurch m&ouml;glicherweise Symptome, aber auch unerw&uuml;nschte Medikamentenwirkungen nur eingeschr&auml;nkt mitgeteilt werden. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1606_Weblinks_seite42.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Es zeigt sich eine anhaltend hohe Pr&auml;valenz von Polypharmazie und PIM in Einrichtungen der Langzeitpflege in &Ouml;sterreich, und es besteht weiterhin Handlungsbedarf, um die medikament&ouml;se Versorgung dieser besonders vulnerablen Menschen zu optimieren. Es bedarf einer kritischen und vor allem pr&auml;ventiven Pr&uuml;fung von Medikamenten nach Kriterien einer rationalen und individualisierten Medizin (Beers, PIM-Listen, FORTA, Start-Stopp), um eine an die besonderen Bed&uuml;rfnisse dieser hoch vulnerablen Menschen angepasste Medikation zu gew&auml;hrleisten, da Leitlinien auf die sehr heterogene Gruppe der alten Patienten nur bedingt anwendbar sind. Es braucht Implementierungsstudien, die zeigen, dass Tools zur Reduktion von Polypharmazie und PIM in verschiedenen Settings, in denen alte Menschen betreut werden, erfolgreich eingesetzt werden k&ouml;nnen. Es bedarf zudem weiterer Studien mit der Fragestellung, inwieweit die Problematik neurokognitiver Defizite durch Optimierung pharmakologischer Therapien gelindert werden kann.</p> </div></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>bei den Verfassern<br /><br /></p> </div> </p>
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