
Wer trägt die Verantwortung?
Autor:innen:
Dr. iur. et dipl. sc. nat. Stefan Kohler
Rechtsanwalt
Angelina Rau, BSc, MLaw
Rechtsanwältin und Doktorandin
PhD Biomedical Ethics and Law,
Universität Zürich
VISCHER AG, Zürich
Korrespondierender Autor:
Dr. iur. et dipl. sc. nat. Stefan Kohler
E-Mail: skohler@vischer.com
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Off-Label-Verschreibungen, also der Einsatz medikamentöser Therapien ausserhalb ihrer Zulassung durch die Arzneimittelbehörde, sind eine wichtige Säule der ärztlichen Therapieentscheidung. Mit dem Off-Label-Einsatz von Medikamenten verbunden sind rechtliche Grundsätze und Sorgfaltspflichten, die jeder Mediziner kennen sollte.
Der Einsatz von Medikamenten ausserhalb ihrer behördlich genehmigten Anwendung, besser bekannt als «Off-Label Use», ist in der Pharmakotherapie von grosser praktischer Bedeutung. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass für die Behandlung gewisser psychischer Erkrankungen keine indizierten Medikamente zur Verfügung stehen1 oder dass die Indikation zugelassener Medikamente die zu behandelnde Population nicht umfasst.2
Wenngleich vom Heilmittelrecht der Schweiz nicht ausdrücklich vorgesehen, erlaubt die Rechtsprechung Off-Label Use im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit unter bestimmten Voraussetzungen. Dass diese im Einzelfall erfüllt werden, steht in der alleinigen Verantwortung der behandelnden ärztlichen Fachperson.
Dieser Artikel beleuchtet die rechtlichen Grundsätze und Sorgfaltspflichten, welche von Ärztinnen und Ärzten in der Schweiz beim Einsatz von Medikamenten im Off-Label Use zu beachten sind, und gibt einen Überblick über die damit einhergehenden rechtlichen Risiken.
Formen und Abgrenzungen
Unter Off-Label Use wird gemeinhin die Anwendung eines Fertigarzneimittels ausserhalb des durch die Arzneimittelbehörden zugelassenen Gebrauchs – d.h. ausserhalb der Vorgaben der Fachinformation – bezeichnet. Hauptformen sind Anwendungen, die von der zugelassenen Indikation, Dosierung oder Patientenpopulation abweichen. Weitere Formen von Off-Label Use sind Anwendungen, die von den zugelassenen technisch-pharmazeutischen Vorgaben oder der zugelassenen Darreichungsform abweichen. Begrifflich abzugrenzen ist Off-Label Use von individuellen therapeutischen Studien (auch «experimenteller Off-Label Use» genannt), klinischen Studien und vom «Compassionate Use».3
Zulässigkeit und Sorgfaltspflicht
Gemäss den Vorgaben des Heilmittelgesetzes (HMG)4 dürfen in der Schweiz nur Arzneimittel abgegeben werden, die von der Arzneimittelbehörde Swissmedic auf ihre Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität geprüft und zugelassen wurden (Art. 9 Abs. 1 HMG). Wenngleich im HMG nicht explizit geregelt, lässt die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts5 den Off-Label Use im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit zu. Voraussetzung ist aber die Einhaltung der für den Umgang mit Arzneimitteln gebotenen allgemeinen Sorgfaltspflicht, wonach alle Massnahmen getroffen werden müssen, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlich sind, damit die Gesundheit nicht gefährdet wird (Art. 3 HMG). Insbesondere müssen bei der Verschreibung und der Abgabe von Arzneimitteln gemeinhin die anerkannten Regeln der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften beachtet werden (Art. 26 Abs. 1 HMG).
Beim im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit angeordneten Off-Label Use tritt die ärztliche Sorgfaltspflicht somit an die Stelle der behördlichen Arzneimittelzulassung. Die ärztliche Sorgfaltspflicht dient gleichsam als «Zulassungssurrogat». Mithin soll die ärztliche Sorgfaltspflicht sicherstellen, dass der Einsatz von Arzneimitteln ausserhalb der behördlichen Zulassung nur dann erfolgt, wenn nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft und Praxis von deren Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität ausgegangen werden darf.
Die Verantwortung für Off-Label Use liegt alleine bei der behandelnden ärztlichen Fachperson. Führt Off-Label Use zu einem gesundheitlichen Schaden, steht sie hinsichtlich der Einhaltung der gebotenen Sorgfalt in der Beweispflicht. Namentlich obliegt es der ärztlichen Fachperson, den Nachweis der vorgängigen Vornahme einer Nutzen-Risiko-Abwägung nach dem Stand der Wissenschaft und Praxis und einer vorgängigen Eingriffs- und Risikoaufklärung der Patientin oder des Patienten zu erbringen. Zu bedenken ist jedoch auch der wirtschaftliche Schaden, den der Off-Label Use bei der Patientin oder dem Patienten verursachen kann. Die krankenversicherungsrechtliche Vergütung von Arzneimitteln im Off-Label Use ist an strenge Kriterien geknüpft (Art. 71a–d KVV).6 Ohne vorgängige Kostengutsprache ist der Patient oder die Patientin dem Risiko ausgesetzt, die Behandlung aus der eigenen Tasche bezahlen zu müssen. Auch auf dieses Risiko hat sich die vorgängige Aufklärung durch die ärztliche Fachperson zu beziehen.
Die Vornahme der vorgenannten Sorgfaltspflichten ist von den ärztlichen Fachpersonen in geeigneter Form zu dokumentieren. Die Dokumentation soll die korrekte Behandlung sicherstellen, die Wahrnehmung der ärztlichen Rechenschaftspflicht ermöglichen und schliesslich auch der Beweissicherung dienen.7
Haftung und Verantwortlichkeit
Zivil- und öffentlich-rechtliche Haftung
Das HMG sieht keine spezifische gesetzliche Haftung für Schäden aus ärztlichen Behandlungen vor. Zur Anwendung kommen im Zivilrecht die allgemeinen Haftungsgrundlagen gemäss Obligationenrecht (OR)8 oder – im Kontext öffentlich-rechtlicher Behandlungsverhältnisse9 – kantonale Staatshaftungsgesetze.
Die geschädigte Patientin oder der geschädigte Patient muss den Schaden aus der infrage stehenden Behandlung und den ursächlichen Behandlungsfehler – den sog. «Kunstfehler» – nachweisen. Ein Kunstfehler liegt dann vor, wenn die «Regeln der ärztlichen Kunst» verletzt wurden, d.h. die gesetzliche Sorgfaltspflicht unter Berücksichtigung der allgemein anerkannten Grundsätze der medizinischen Wissenschaft nicht ordnungsgemäss wahrgenommen wurde. Das (nicht begründete) Abweichen von Richtlinien z.B. von Fachverbänden stellt ein Indiz für die Verletzung der Regeln der ärztlichen Kunst dar. Kunstfehler treten typischerweise in Form von Diagnose- oder Behandlungsfehlern oder von Verletzungen von Aufklärungs-, Informations- und Dokumentationspflichten auf.
Für gesundheitliche Schäden aus Off-Label Use kann sich eine Haftpflicht der behandelnden ärztlichen Fachperson namentlich dann ergeben, wenn sie vorgängig zur Behandlung keine sachgerechte Nutzen-Risiko-Abwägung nach dem Stand der Wissenschaft und Praxis durchführte oder die vorgängige Eingriffs- und Risikoaufklärung unterliess. Eine Haftpflicht für Behandlungskosten kann die behandelnde ärztliche Fachperson dann treffen, wenn sie die Patientin oder den Patienten nicht vorgängig auf das Kostenrisiko hinwies.
Strafrechtliche Haftung
Die unsachgemässe Anwendung von Off-Label Use kann, je nach Grad der Verletzung der körperlichen oder psychischen Integrität der Patientin oder des Patienten, zu strafrechtlichen Sanktionen führen. Hierbei stehen insbesondere die fahrlässige Körperverletzung (Art. 125 StGB)10 oder die fahrlässige Tötung (Art. 117 StGB) im Vordergrund. Im Falle einer Verurteilung unter diesen Tatbeständen droht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe von maximal 180 Tagessätzen, wobei ein Tagessatz bis zu 3000 Franken betragen kann.
Die Verletzung der Sorgfaltspflicht beim Umgang mit Arzneimitteln kann ferner unter den verwaltungsstrafrechtlichen Bestimmungen des HMG relevant sein. So setzt Art. 86 Abs. 1 Bst. a HMG unter Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, wer Arzneimittel entgegen den vorgeschriebenen Sorgfaltspflichten anwendet oder verschreibt.
Berufsrechtliche Disziplinar-massnahmen
Das Medizinalberufegesetz (MedBG)11 bezweckt im Interesse der öffentlichen Gesundheit unter anderem die Förderung der Qualität der Berufsausübung von ärztlichen Fachpersonen. Der Vollzug des MedBG obliegt den kantonalen Gesundheitsbehörden. Stellen diese Verstösse gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht fest, werden gegen die verantwortlichen Ärztinnen oder Ärzte aufsichtsrechtliche Verfahren eingeleitet, die zur Anordnung von administrativen Massnahmen zwecks Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands führen können. Das Spektrum dieser Massnahmen reicht von einer blossen Verwarnung, Bussen bis zu CHF 20000 bis hin zum Entzug der Berufsausübungsbewilligung.
Fazit
Die Rechtsprechung der Schweiz erlaubt Off-Label Use im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit. Voraussetzung ist aber die Einhaltung der im Umgang mit Arzneimitteln gebotenen allgemeinen Sorgfaltspflicht. Dieser Grundsatz gilt auch für die Pharmakotherapie.
Zur Minimierung der Haftungs- und Verantwortlichkeitsrisiken, denen ärztliche Fachpersonen bei der Behandlung im Off-Label Use ausgesetzt sind, umfasst die gebotene Sorgfaltspflicht insbesondere
-
die einzelfallbezogene Nutzen-Risiko-Abwägung nach dem Stand der Wissenschaft und Praxis und
-
die Einholung der Zustimmung der Patientin oder des Patienten zur Behandlung nach vorgängiger Aufklärung zu den gesundheitlichen Behandlungsrisiken und zu den wirtschaftlichen Risiken.
Die Vornahme dieser Sorgfaltspflicht ist von den ärztlichen Fachpersonen zwecks Sicherstellung der korrekten Behandlung, der ärztlichen Rechenschaftspflicht und der Beweissicherung im Einzelfall zu dokumentieren.
Anmerkungen:
1 Als Beispiel zu nennen ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Es existieren keine Medikamente mit der Indikation BPS. Zum Einsatz kommen Medikamente, welche stabilisierend und unterstützend eingesetzt werden können. Dazu gehören Stimmungsstabilisierer, bestimmte Antipsychotika und – im Zusammenhang mit zusätzlichen Angststörungen oder Depressionen – selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) (vgl. dazu www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/borderline-stoerung/therapie/ , aufgerufen am 10. Juli 2023) 2 Im Vordergrund stehen Limitationen betreffend Alter oder Geschlecht 3 Unter Compassionate Use wird die Anwendung eines möglicherweise wirksamen, jedoch (noch) nicht zugelassenen Arzneimittels im Einzelfall bei Patienten in lebensbedrohlichen Situationen oder mit schwerwiegenden nicht oder nicht mehr anderweitig therapierbaren Erkrankungen im Rahmen der ärztlichen Behandlungspflicht und Therapiefreiheit verstanden 4 Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte vom 15. Dezember 2000 (SR 812.21) 5 BGE 134 IV 175, S. 179, E. 4.1 6 Verordnung über die Krankenversicherung vom 27. Juni 1995 (SR 832.102) 7 Dazu auch der Leitentscheid BGE 141 III 363 des Schweizerischen Bundesgerichts 8 Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) vom 30. März 1911 (SR 220) 9 Lässt sich die Patientin oder der Patient in einem öffentlichen Spital behandeln, untersteht die Rechtsbeziehung zum Spital dem (kantonalen) öffentlichen Recht 10 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0) 11 Bundesgesetz über die universitären Medizinalberufe (Medizinalberufegesetz vom 23. Juni 2006 (SR 811.11)
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