
Nicht invasive elektrische Hirnstimulationsmethoden in der Psychiatrie
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Autor:
Prof. Dr. med. Daniela Hubl
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie<br> Bern<br> E-Mail: daniela.hubl@upd.unibe.ch
30
Min. Lesezeit
29.08.2019
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<p class="article-intro">Die Therapie der ersten Wahl besteht bei vielen psychiatrischen Krankheitsbildern aus einer individuell angepassten Behandlungskombination aus Psychotherapie und Psychopharmakologie. Schätzungsweise 30 % der Patientinnen und Patienten sind jedoch resistent oder können aus anderen Gründen nicht bis zur Remission behandelt werden. In solchen Fällen kann der Einsatz von Hirnstimulationsverfahren helfen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Nicht invasive Hirnstimulation kann Hilfe bei Therapieresistenz bringen.</li> <li>Die am häufigsten verwendeten Methoden sind die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) und die transkranielle Gleichstrombehandlung (tDCS).</li> <li>Am häufigsten wird die Indikation bei Depression oder Schizophrenie gestellt.</li> <li>Die Behandlung ist gut verträglich und nebenwirkungsarm.</li> </ul> </div> <h2>Hintergrund</h2> <p>In der psychiatrischen Praxis werden häufig Patienten behandelt, die unter affektiven oder psychotischen Störungen leiden. Der Goldstandard einer Behandlung ist, sofern man das grob zusammenfassen darf, eine Kombination aus Psychotherapie und Psychopharmakologie, welche individuell angepasst wird. Bei manchen Patienten aber reichen diese Behandlungsstrategien nicht aus; d. h., es besteht oder entwickelt sich eine Therapieresistenz, was bei schätzungsweise 30 % der Patienten zu beobachten ist. Manchmal können die Standardtherapien auch aus bestimmten Gründen nicht oder nur unzureichend eingesetzt werden. Zum Beispiel weil bei bereits gering dosierter Medikation starke Nebenwirkungen auftreten oder Gespräche im Rahmen von Psychotherapie abgelehnt werden. In solchen Fällen kann der Einsatz von Hirnstimulationsverfahren in Betracht gezogen werden.</p> <h2>Hirnstimulationsmethoden</h2> <p>Wenn man heute von nicht invasiven Hirnstimulationsverfahren spricht, werden darunter v. a. die beiden Methoden der repetitiven transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) und der transkraniellen Gleichstrombehandlung (tDCS) zusammenfasst. Eine Reihe weiterer nicht invasiver Stimulationsverfahren wie tACS, tVNS oder auch Neurofeedback-Verfahren werden bereits intensiv in wissenschaftlichen Situationen erprobt. Die neueren Verfahren werden durch den geschlossenen gesunden Schädel ohne Chirurg und ohne Anästhesie bei guter Verträglichkeit und wenig Nebenwirkungen durchgeführt. Nicht zu vergessen ist jedoch in dieser Auflistung die Elektrokrampftherapie (EKT), welche bereits seit den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolgreich Anwendung findet. EKT muss unter Anästhesie und Muskelrelaxation durchgeführt werden.</p> <h2>Die translationale Idee</h2> <p>Die neueren Methoden haben sich aus translationalen Ideen heraus entwickelt. Man kann mit den Hirnstimulationsmethoden modulierend auf umschriebene Hirnareale einwirken. Ein Beispiel: Man weiss, dass bei akustischen Halluzinationen das Sprachnetz überaktiviert ist. Durch eine sehr gezielte Hemmung mittels rTMS eines beteiligten Hirngebietes wird diese Überaktivierung auf neurobiologischer Ebene normalisiert, was auf der psychopathologischen Ebene mit einer Reduktion des Stimmenhörens einhergeht.<br /> Es ist ein quasi universelles Prinzip bei der Anwendung der neuen Stimulationsverfahren, dass man eine wissenschaftlich getriebene Hypothese entwickelt, welches Hirngebiet eine bestimmte Störung unterhält, und man dann gezielt dieses Hirngebiet moduliert. Das Wissen um das bei einer Störung betroffene oder zumindest beteiligte Gehirngebiet ist nötig, um den Ort der allfälligen Stimulation festzulegen. Aufgrund von im Allgemeinen fixen Faserverbindungen bevorzugt verbundenen entfernteren Hirngebieten kann es auch ausreichen, über einen Knotenpunkt auf das in Dysbalance geratene Netzwerk einzuwirken und dadurch die Balance wiederherzustellen.<br /> Dieses Prinzip muss bei der rTMS aufgrund der mit der Methode verbundenen starken Fokussierung auf einen bestimmten ca. 1 cm<sup>2</sup> grossen Stimulationsort bei einer ebenfalls im 1–2-cm-Bereich liegenden Eindringtiefe zuverlässig angewendet werden. Bei der tDCS hingegen fliesst ein kleiner Strom zwischen (mind.) zwei Elektroden, sodass neben den direkt stimulierten Gebieten auch das dazwischenliegende Hirngewebe moduliert wird. Hypothesen für die Positionen der Elektroden sind auch bei der tDCS nötig. Am wenigsten fokussiert erfolgt die Stimulation bei der EKT. Hier – aus der Erfahrung heraus entstanden, dass epileptische Anfälle zu einer durch «forcierte Normalisierung» bezeichneten Besserung bei Psychose führen können – wird ein generalisierter, aber kontrollierter und limitierter Krampfanfall ausgelöst. Auch wird der im Prinzip gleiche Krampfanfall bei unterschiedlichen Indikationen hervorgerufen.</p> <h2>Anwendung der Methoden</h2> <p>Vorteile von rTMS und tDCS liegen darin, dass sie relativ einfach in der psychiatrischen Praxis realisiert werden können. Diagnostik und Indikationsstellung, Initiierung und Abschluss der Behandlung erfolgen durch eine in der Methodik erfahrene Psychiaterin. Die dann folgende tägliche Durchführung kann durch geschulte Mitarbeiter anderer Berufsgruppen, z. B. Fachpersonen für Neurophysiologische Diagnostik (FND), erfolgen. rTMS und tDCS werdenstets im Sinne einer mehrwöchigen Kur mit täglichen Therapieeinheiten angewendet. Die Behandlungen werden meist an den Wochentagen mit Pause am Wochenende durchgeführt. Je nach Protokoll, welches anhand der zu behandelnden Symptomatik gewählt wird, dauert eine einzelne Sitzung 15–45 min. Inzwischen werden aus wissenschaftlichen Erkenntnissen heraus neue Protokolle vorgeschlagen, die mit kürzeren Stimulationszeiten je Sitzung oder mehreren Sitzungen pro Tag einhergehen. Diese haben aber noch nicht die tägliche Routine erreicht. Als Nachteile der Methoden könnten die teils sehr häufige und tägliche Anwendung (mind. 1–2 Wochen, teils 4–6 Wochen) gelten sowie die bis anhin fehlende Aufnahme der Leistung in den TARMED-Katalog.<br /> Die Behandlung ist symptomatisch und kann nicht einen imaginären Schalter von «krank» auf «gesund» umlegen. Damit ist es nachvollziehbar, dass nach einer gewissen Zeit von im Allgemeinen einigen Monaten die Störung wieder aufflackern kann. Wiederholte Erhaltungsbehandlungen sind dann indiziert. Die Möglichkeit eine rTMS oder tDCS Behandlung zu erhalten, sind eher mit Privileg als mit Stigma verbunden.</p> <h2>Indikationen der nicht invasiven Hirnstimulationsmethoden</h2> <p>Die neuen elektrischen Stimulationsmethoden werden am häufigsten bei affektiven und bei psychotischen Krankheitsbildern eingesetzt. Hinzu kommen Indikationen bei Abhängigkeitserkrankungen.<br /> Eine Ausweitung des Indikationsspektrums auf andere Störungen ist denkbar. Es gibt gewisse Evidenzen für die Anwendung bei Manie, Zwang, Essstörungen, Panikstörungen, Stressstörungen und Depersonalisation wie Besserungen bei Alzheimerdemenz. Unabhängig vom Anwendungsbereich zeigt sich, dass rTMS und tDCS sicher und nebenwirkungsarm eingesetzt werden können, sogar bei sehr jungen oder alten Patienten.<br /> (Inter-)Nationale Behandlungsempfehlungen nennen inzwischen die rTMS als mögliche Behandlungsmethode bei Depressionen und Psychosen. Beim Einsatz in der Depression wird auf die depressive Kernsymptomatik gezielt. Durch den Einsatz bei psychotischen Patienten kann sowohl das «Stimmenhören» als auch die Negativsymptomatik durch die entsprechenden Behandlungsprotokolle behandelt werden. Keine der beiden Methoden rTMS oder tDCS wird – in welcher Indikation auch immer – heute als Mittel der ersten Wahl empfohlen. Derzeit augmentieren die nicht invasiven Methoden die herkömmlichen Methoden, ohne sie zu ersetzen.</p> <h2>Einsatz und Nebenwirkungen im Vergleich</h2> <p>Die EKT ist indiziert in lebensbedrohlichen Situationen wie schwerster und therapieresistenter Depression oder Psychose sowie bei ausgeprägten katatonen Zuständen. Auch bei bipolaren Erkrankungen mit manischen Phasen, bei suizidalen, deliranten und alten Patienten kann EKT erfolgreich eingesetzt werden. EKT ist stark und sicher wirksam. Bei der EKT-Behandlung benötigt man Anästhesie und eine allgemeine somatische Eignung eben dafür. Auch sind kürzlich stattgehabte Herz- oder Hirnerkrankung ein Ausschlussgrund. Der Patient muss bei der EKT nicht aktiv mitarbeiten, auch ist er nicht verbal gefordert. Unterstützung beim Transport zur Behandlung ist unabdingbar. Kognitive Nebenwirkungen treten teils auf.<br /> Die rTMS ist weniger stark wirksam und hat nicht die Qualitäten als Reserve-Behandlung wie die EKT. Im Einsatzbereich der Depression wirkt die rTMS am besten bei den Patienten, die auch auf andere Methoden wie z. B. Medikamente ansprechen. Eine Anwendung bei psychotischer Depression wird nicht empfohlen. Zur rTMS-Behandlung können die Patienten selbstständig in die Praxis kommen und danach auch wieder nach Hause gehen. Es sind weniger systemische Nebenwirkungen zu erwarten und keine kognitiven Defizite im Vergleich zur EKT. rTMS kann nicht durchgeführt werden, wenn metallische, elektrische oder anders aktive Implantate im Kopf oder nahe des Kopfes vorhanden sind sowie direkt nach Schädel-Hirn-Verletzung oder -OP oder Hirninfarkt.<br /> Die tDCS ist am wenigsten effektiv und ist von den erwähnten Methoden die am wenigsten häufig angewendete. Das Potenzial der Methode jedoch, eine einfache und kostengünstige Anwendung zu bieten, welche nach Schulung auch allein durch den Patienten quasi überall durchführbar wäre, und das gute Nebenwirkungsprofil sprechen dafür, weitere Studien mit tDCS durchzuführen. Hinsichtlich der Wirkstärke ist EKT am stärksten und effektivsten zu werten, gefolgt von rTMS, mit tDCS als Schlusslicht. Das Nebenwirkungsspektrum verhält sich entgegengesetzt.</p> <p> </p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Neuro_1903_Weblinks_lo_neuro_1903_s30_zitat_hubl.jpg" alt="" width="550" height="303" /></p></p>
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