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Übersehener Autismus - Teil 1

Neuropsychologische Profile des Autismus im Erwachsenenalter: Kriterien im Hinblick auf gutachterliche Verfahren

«Hochfunktionale» Autist:innen wie Asperger-Autist:innen können trotz ihres Leidensdrucks ein unauffälliges Dasein führen. Dies kann sich sowohl in unauffälligen neuropsychologischen Tests zeigen, als auch darin, dass die Betroffenen erst spät in ihrem Leben eine Diagnose erhalten. Bewusstsein für die Besonderheiten von Autismus im Erwachsenenalter kombiniert mit hierfür spezifischen Tests könnte Abhilfe schaffen.

Ziel des Beitrages

Der Beitrag soll aufzeigen, welche neuropsychologischen Profile bei Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) trotz formaler Unauffälligkeit Hinweise auf das Bestehen einer ASS geben können. Das Ziel des Beitrags ist es, Psychiater:innen und Neuropsycholog:innen eine gemeinsame Grundlage für die Diagnostik zu bieten, ohne dass das «Monopol» der Diagnose wenigen Expert:innen vorbehalten bleibt. Damit soll eine Kultur ermöglicht werden, in der klassische Testbatterien im Lichte der ASS neu betrachtet werden können.

Einleitung

Mein Beitrag bezieht sich zwar vor allem auf das Asperger-Syndrom (AS), er soll jedoch die Kriterien auf hochfunktionale Autistinnen und Autisten erweitern. In diesem Beitrag werden die Begriffe Asperger und Autismus-Spektrum-Störung synonym verwendet.

Aktueller Stand

Neben den Anmeldungen zu Autismusabklärungen über alle Altersgruppen hinweg steigt die Anzahl bidisziplinärer Gutachten bei Verdachtsdiagnose ASS. Wiederholt zeigte sich dabei ein Paradox: Neuropsychologische Profile (NP-Profile) bleiben formal unauffällig, während die psychiatrische Untersuchung ein Asperger-Syndrom diagnostiziert. Dies möchte ich zum Anlass nehmen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Blickwinkel zu vergleichen und zusammenzuführen. So wie bei anderen Diagnosen typische neuropsychologische Muster beschrieben werden, soll auch für ASS ein typisches NP-Profil herausgearbeitet werden.

Bei Depressionen zeigt sich im NP-Profil häufig ein antriebsloser, verlangsamter Ausführungsstil. Aufgaben werden zwar korrekt, aber mit geringer Geschwindigkeit und reduzierter Initiative bearbeitet. Betroffene wirken oft, als ob jede Handlung eine zusätzliche Anstrengung erfordert. Auch die Verarbeitungsgeschwindigkeit ist verlangsamt, was sich sowohl in standardisierten Tests als auch in alltäglichen Abläufen zeigt. Bei ADHS dominiert ein chaotisches und drängendes Arbeitsverhalten. Betroffene beginnen Aufgaben schnell und impulsiv, lassen sich leicht ablenken und brechen Arbeitsschritte oft abrupt ab. Eine gestörte Zeitwahrnehmung führt dazu, dass die benötigte Zeit für Tätigkeiten massiv unterschätzt oder überschätzt wird. Auffällig ist zudem die inkonstante Verarbeitungsgeschwindigkeit: In Bereichen hoher Motivation zeigen sie schnelle, manchmal übereilte Leistungen, während bei Routineaufgaben die Bearbeitung unregelmässig und sprunghaft bleibt.

Analog dazu soll für das NP-Profil der ASS ein konsistentes Muster beschrieben werden, das über formale Testergebnisse hinausgeht und sich im klinischen Alltag widerspiegelt.

Neurobiologische Erklärungsmodelle Es gibt verschiedenste neurobiologische Ansätze, um die ASS zu erklären:
  • gestörte Exekutivfunktionen

  • Defizite der Theory of Mind (ToM)

  • Defizite bei Gesichts- und Emotionserkennung

  • verminderte zentrale Kohärenz

Dennoch lassen diese theoretischen Ansätze wesentliche Fragen offen. Das Bayes’sche Modell, insbesondere in Form des Predictive-Coding-Ansatzes, versucht, diese Defizite zu adressieren. Demnach strebt das Gehirn nach einem Zustand dynamischer Homöostase, indem es kontinuierlich sensorische Eingänge mit internen Vorhersagemodellen abgleicht. Dieser Prozess wird als probabilistische Inferenz beschrieben: Wahrnehmungen entstehen aus dem Zusammenspiel zwischen antizipierten (prädizierten) und tatsächlich eintreffenden sensorischen Signalen. Diskrepanzen zwischen Erwartung und Input – sogenannte Vorhersagefehler – fungieren als zentrale Steuerungsimpulse zur Revision der internen Modelle. Auf diese Weise werden Lernprozesse wie auch die Wahrnehmung adaptiv reguliert.

Bei ASS zeigt sich eine reduzierte Fähigkeit, zwischen irrelevanten und relevanten Reizen zu differenzieren. Dies resultiert in einer vermehrten Verarbeitung von Detailinformationen, einer erhöhten Vulnerabilität für sensorische Überlastung sowie in Schwierigkeiten, neue Informationen in bestehende Wissensstrukturen zu integrieren.

ASS-Besonderheiten im Rahmen klassischer Testbatterien

Die zentrale Frage lautet, ob klassische NP-Testverfahren die spezifischen Auffälligkeiten bei Personen mit ASS zuverlässig erfassen können. Zwar zeigen sich in standardisierten Tests mitunter subtile Hinweise, jedoch werden diese häufig erst durch qualitative Verhaltensbeobachtungen während der Testdurchführung sichtbar. Typische Besonderheiten sind:

Fauxpas-Test:

Der Fokus liegt bei ASS-Betroffenen weniger auf der emotionalen Dimension, sondern stärker auf dem beobachteten Verhalten. Auffällig sind zudem die Tendenz zur Wiederholung ganzer Geschichten sowie die Bezugnahme auf eigene Erfahrungen anstelle der intendierten Perspektivübernahme.

Fluency-Aufgaben:

Es treten Blockaden auf sowie wiederholte Nennungen bereits genutzter Begriffe oder Ideen (Perseverationen).

Symbol-Zuordnungen:

Charakteristisch ist eine übermässig exakte Bearbeitung mit deutlicher Verlangsamung, was auf Perfektionismus und Schwierigkeiten im Speed-Accuracy-Trade-off hinweist.

Visuell-konstruktive Aufgaben (z.B. Figurenlegen):

Betroffene zeigen oft Schwierigkeiten im Strategiewechsel bei Fehlern oder suboptimalen Lösungen. Zudem können visuelle Verarbeitungsdefizite die Leistung zusätzlich beeinträchtigen.

Autistische Merkmale im Erwachsenenalter

Im Folgenden möchte ich die autistischen Merkmale im Erwachsenenalter im Kontext der drei Kernbereiche des Autismus behandeln:

  • Schwierigkeiten im wechselseitigen sozialen Umgang und Austausch, insbesondere beim Verständnis und Aufbau von Beziehungen

  • Auffälligkeiten in der sprachlichen und nonverbalen Kommunikation (z.B. Blickkontakt, Prosodie, Mimik, Gestik)

  • eingeschränkte Interessen mit repetitiven und stereotypen Verhaltensweisen

Bei normbegabten Erwachsenen mit Autismus, insbesondere beim AS, sind die Symptome oftmals nur schwer erkennbar. Viele Betroffene leben in Partnerschaften, sind beruflich integriert und pflegen Interessen, die gesellschaftlich verbreitet oder sogar als «modern» angesehen werden. Dennoch geraten sie nicht selten in ungewollte soziale Missverständnisse. Menschen mit ASS verwenden Redewendungen und Gestik, ohne wahrzunehmen, wann sie anecken. Manche lernen Redewendungen in grosser Zahl auswendig – teils in grösserem Umfang als neurotypische Personen. Was ihnen jedoch häufig fehlt, ist die Fähigkeit zur Kontextualisierung. Im Erwachsenenalter – insbesondere bei Frauen – treten die diagnostischen Kernkriterien oft weniger offensichtlich zutage. Nonverbale Auffälligkeiten oder eingeschränkte Interessen haben sich im Laufe der Zeit verändert oder sind so weit kompensiert, dass sie kaum mehr auffallen. Zurück bleibt meist eine chronische Problematik im wechselseitigen sozialen Umgang und Austausch, die sich häufig im beruflichen oder privaten Kontext manifestiert, wodurch die Arbeitsstelle gefährdet oder die Partner:innenschaft belastet oder bedroht sein kann.

Gerade dort, wo Betroffene durch ihre autistischen Merkmale beruflich erfolgreich sind, kommt es im privaten Umfeld häufig zu Missverständnissen. Partnerinnen oder Partner übernehmen nicht selten die Rolle der «Überfordernden» oder «Strengen», wodurch sich das Risiko für Konflikte zusätzlich erhöht. Es zeigt sich regelmässig, dass Erwachsene mit ASS erst spät diagnostiziert werden, was an der angesprochenen Problematik der oft unauffälligen neuropsychologischen Tests liegt. Die späte Diagnose stellt Betroffene und Institutionen vor besondere Herausforderungen: Institutionen begegnen einer späten Diagnose nicht selten mit Skepsis, da Betroffene zuvor viele Jahre berufstätig waren und nicht als beeinträchtigt erschienen. Erst im Verlauf – etwa nach wiederholter beruflicher oder privater Überlastung – treten die Schwierigkeiten deutlich hervor. Belastungen wie die Geburt eines weiteren Kindes, ein Wechsel der Vorgesetzten oder neue Arbeitsbedingungen (z.B. Arbeit im Grossraumbüro) können zu massiven Dekompensationen führen. Die späte Diagnose kann hier eine retrospektive Erklärung biografischer Brüche und wiederholter Überlastungen bieten.

Die diagnostische Erfassung autistischer Merkmale bei Erwachsenen gestaltet sich somit als komplexe Aufgabe. Einerseits sind die Symptome in standardisierten Testsituationen oft kaum sichtbar, andererseits zeigen sich die Einschränkungen im Alltag in subtilen, aber chronischen Interaktionsproblemen, die sich in sozialen Nahbeziehungen oder in hochbelasteten beruflichen Kontexten kumulieren.

Umwelteinflüsse auf ASS

Aus wissenschaftlicher Perspektive ist zu berücksichtigen, dass autistische Merkmale nicht statisch sind, sondern in Interaktion mit Umweltanforderungen stehen. Während die Symptomatik im Kindesalter primär durch Auffälligkeiten in Sprache, Spielverhalten oder sozialer Gegenseitigkeit erkennbar ist, verlagert sich das klinische Bild im Erwachsenenalter auf funktionale Überlastungen, emotionale Erschöpfung und sekundär entstehende psychische Begleiterkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen.

Insbesondere im Rahmen der geschlechtsspezifischen Diagnostik zeigt sich, dass Frauen mit ASS überproportional spät diagnostiziert werden. Dies hängt mit einer stärkeren sozialen Anpassungsleistung sowie mit einer ausgeprägteren Imitationsfähigkeit zusammen, wodurch die Symptome weniger deutlich hervortreten. Gleichwohl führt das dauerhafte Anpassen zu einem erhöhten Risiko für Burn-out-Syndrome und psychosomatische Beschwerden.

Von klinischer Relevanz ist zudem, dass autistische Erwachsene trotz intakter kognitiver Leistung und beruflicher Integration erhebliche Einschränkungen in der sozialen Teilhabe erfahren können. Dies betrifft insbesondere den Aufbau stabiler Freundschaften, die Pflege intimer Partnerschaften sowie die Fähigkeit, Konflikte adäquat auszutragen (Tab. 1).

Tab. 1: Ein Bewusstsein für die neuropsychologischen Besonderheiten von Menschen mit ASS kann helfen, dass die ASS nicht übersehen wird

Die Diskrepanz zwischen retrospektiver Erklärung von Lebensbrüchen und Skepsis seitens der Betroffenen durch eine späte ASS-Diagnose macht deutlich, dass eine rein defizitorientierte Perspektive den Lebensrealitäten von Erwachsenen mit ASS nicht gerecht wird. Vielmehr ist ein kontextsensibler, ressourcenorientierter Zugang notwendig, der sowohl die individuellen Stärken als auch die strukturellen Barrieren im Umfeld berücksichtigt.

Vor und um die Abklärung herum: Soft Signs

Unter Soft Signs versteht man unspezifische, leichte neurologische Auffälligkeiten, die bei verschiedenen Entwicklungs- und psychiatrischen Störungsbildern auftreten können, so auch im Rahmen von ASS. Sie sind weder pathognomonisch noch eindeutig diagnostisch, können aber wichtige Zusatzinformationen liefern.

Zu den häufigsten Soft Signs gehören
  • Situative Reaktionen im Untersuchungssetting

  • Stuhlplatzierung

  • Unaufgefordertes Helfen

  • Aufräumsituation

  • Kontextualisierungsprobleme

  • Exploration des Sprachverständnisses über Metaphern und Beispiele

  • Humor und soziale Resonanz

  • Verständnis verschachtelter Sätze (doppelte Aufträge)

  • Missing the point – Schwerpunktverlagerung

  • Reaktion auf Aufforderung zur Beschleunigung

Beispielhafte Aufgaben für Soft Signs
  • Fluency-Aufgaben (verbal oder figürlich): Beobachtung von Blockaden und Repetitionen

  • Zahlen-Symbol-Zuordnung: Auftreten von Übergenauigkeit oder Verlangsamung

  • visuell-konstruktive Aufgaben (z.B. Figurenlegen, Mosaik): Strategiewechsel bei Misserfolg

  • Planungs- und Problemlöseaufgaben (z.B. Turm von Hanoi, Labyrinth): Erfassung von Inhibition und Umstellfähigkeit

  • klassische neuropsychologische Tests wie Trail Making Test (TMT), Stroop-Test oder Wisconsin Card Sorting Test (WCST): Untersuchung von Set-Shifting und Interferenzkontrolle

Eine neuropsychologische Evaluation bei Menschen mit ASS erfordert daher eine umfassende, individuell angepasste Testauswahl. Neben den formalen Testleistungen ist die genaue Beobachtung der Testperson während der Untersuchung von zentraler Bedeutung. Aspekte wie nonverbale Ausdrucksweise, auffallend kontrolliertes Verhalten, Steifheit, Besonderheiten in der Sprachmelodie oder ein ungewöhnlicher Blickkontakt können Hinweise auf Soft Signs geben.

Die eingesetzten Tests sollten so ausgewählt und dokumentiert werden, dass sie nicht nur für Autismusfachexpert:innen verständlich sind, sondern auch für Fachpersonal anderer Disziplinen nachvollziehbar bleiben. Soft Signs lassen sich häufig erst in der konkreten Interaktion erfassen. Neben formalen Testverfahren sind daher gezielte Beobachtungen während der Untersuchung von grosser Bedeutung. Im Folgenden einige methodische Zugänge und typische Beobachtungsfelder:

Situative Reaktionen im Untersuchungssetting

Stuhlplatzierung

Sobald sich die Probandin gesetzt hat, wird erwähnt, man hätte eigentlich den nächstgelegenen Stuhl verwenden wollen. Beobachtet wird, ob die Probandin die Situation bemerkt und den Stuhl wechselt oder nicht reagiert.

Unaufgefordertes Helfen

Die Untersuchungsleiterin weist darauf hin, ein Fenster schliessen zu wollen, das näher bei der Probandin liegt. Wird die Initiative ergriffen, das Fenster selbst zu schliessen, oder wird die Handlung der Leiterin überlassen?

Aufräumsituation

Die Probandin wird informiert, dass noch aufgeräumt werden müsse (z.B. Gegenstände in Körbe nach Farbe oder Grösse sortieren). Beobachtet wird, ob sie von sich aus Hilfe anbietet oder erst nach direkter Aufforderung tätig wird.

Kontextualisierungsprobleme

Viele Menschen mit ASS haben Schwierigkeiten, Beispiele, Metaphern oder Redewendungen adäquat zu verstehen. Typisch ist eine wörtliche Fokussierung, während der übergeordnete Sinnzusammenhang nicht erfasst wird. Beispiel: Auf die Aussage «Das ist Schnee von gestern» erfolgt eine sachliche Korrektur.

Exploration des Sprachverständnisses über Metaphern und Beispiele

Es ist sinnvoll, gezielt Metaphern oder Redewendungen einzusetzen
  • «Ihr Spezialinteresse – ist das für Sie wie der Honig für den Bären?»

  • «Gibt es etwas, das Sie so beherrschen wie Stradivari seine Geige?»

  • «Wenn Sie Ihrer Lieblingstätigkeit nachgehen, vergessen Sie dann alles andere?»

Beobachtet wird, ob die Bedeutung erkannt, verallgemeinert und in einen emotionalen Kontext gestellt wird – oder ob die Person strikt am konkreten Wortlaut festhält.

Humor und soziale Resonanz

Erzählen eines harmlosen Witzes oder absichtliches Fallenlassen eines Gegenstands. Beobachtung: Reagiert die Probandin mit einem Schmunzeln oder einem spontanen Hilfsimpuls?

Verständnis verschachtelter Sätze(doppelte Aufträge)

Beispiel: «Bitte nehmen Sie Platz, ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.»

Beobachtung: Wird ein «Danke» geäussert oder nur der erste Satzteil umgesetzt?

Beispiel: «Bevor wir anfangen, möchte ich die Türe schliessen.» Wenn die Untersuchungsleiterin weiter entfernt ist als die Probandin, wird geprüft, ob diese anbietet, den Wunsch umzusetzen.

«Missing the point» – Schwerpunktverlagerung

Menschen mit ASS fokussieren oft auf Nebenaspekte, ohne den Kern der Aussage zu erfassen. Beispiel: Im Small Talk erzählt die Untersuchungsleiterin folgende Geschichte: «Ein Grossvater schenkte seinem Enkel einen alten Mantel mit den Worten: ‹Pass gut darauf auf, das ist dein Erbe.› Der Enkel nahm den Mantel, benutzte ihn aber kaum. Jahre später, als der Grossvater im Sterben lag, brauchte der Enkel Platz im Schrank und gab den Mantel in die Altkleidersammlung. Erst nach dem Tod stellte sich heraus, dass im Futter des Mantels eine Million Franken eingenäht war.» Anschliessend kommentiert die Untersuchungsleiterin: «Das ist ja wie ein Lottogewinn, bei dem man den Tippschein verliert!»

Ein neurotypischer Zuhörer würde die Pointe erfassen und schmunzeln. Eine Person mit ASS kann hingegen sachlich erwidern: «Ich spiele nie Lotto. Das könnte mir nicht passieren.» – Hier zeigt sich, dass die metaphorische Bedeutung der Geschichte verfehlt und stattdessen eine wörtliche, konkrete Interpretation gewählt wird.

Reaktion auf Aufforderung zur Beschleunigung

Wird die Testperson gebeten, eine Aufgabe schneller zu bearbeiten, steigern neurotypische Personen in der Regel ihr Arbeitstempo. Personen mit ASS hingegen beharren auf ihrem bisherigen Tempo oder verlangsamen dieses sogar, anstatt die Aufforderung umzusetzen.

Tür-Test

Die Untersuchungsleiterin befindet sich mit der Klientin in einem geschlossenen Raum, nimmt zwei Gläser in die Hände und sagt deutlich: «Ich gehe in den Nebenraum, um frisches Wasser zu holen.» Da beide Hände besetzt sind, kann die Untersuchungsleiterin die Türe nicht selbst öffnen. Neurotypische Personen erkennen die Situation sofort und stehen in der Regel ohne Aufforderung auf, um die Türe zu öffnen. Personen mit ASS hingegen reagieren meist nicht oder erst mit einer deutlich verlängerten Latenz.

Schwierigkeiten beim Verallgemeinern

Auf einem Tisch werden zwanzig identische Stifte ausgelegt und die Frage gestellt: «Was sehen Sie hier?» Neurotypische Personen antworten unmittelbar mit einer globalen Kategorisierung (z.B. «viele gleiche Stifte»). Personen mit ASS hingegen beschreiben häufig Detailunterschiede, etwa den Erhaltungszustand («einige sind neuer als die anderen») oder Unterschiede in der Marke, anstatt eine zusammenfassende Antwort zu geben.

Fazit

Die geschilderten Vorgehensweisen ermöglichen eine gezielte Exploration subtiler, im Test nicht erfassbarer Merkmale. Sie eröffnen Einblicke in Kontextualisierungsfähigkeiten, soziale Resonanz, Sprachverständnis und Alltagslogik. Damit ergänzen sie standardisierte Verfahren um eine klinisch wertvolle Dimension, ohne die Betroffenen zu überfordern oder auf der Ebene blossen Wortlauts stehenzubleiben.

Test der Verschwendung

Der sogenannte «Test der Verschwendung» stellt ein qualitatives Beobachtungsverfahren dar, das weniger auf eine quantitative Auswertung abzielt, sondern auf die Analyse des Umgangs mit Fehlern. Im Fokus stehen kognitive Flexibilität, Fehlerbewusstsein, Strategieanpassung sowie der Speed-Accuracy-Trade-off. Damit dient er der Untersuchung jener subtilen neuropsychologischen Auffälligkeiten, die in standardisierten Testergebnissen nicht immer adäquat erfasst werden.

Prinzip

Zeigt sich, dass die Testperson eine Aufgabe wiederholt fehlerhaft bearbeitet – beispielsweise im Fauxpas-Test, bei dem nur die Hälfte der Items korrekt beantwortet wird –, erfolgt eine explizite Erklärung der zugrunde liegenden Regel oder ein direkter Hinweis auf die Fehlerursache. Anschliessend wird beobachtet, ob die Person ihre Strategie ändert, den Fehler selbstständig erkennt oder trotz Einsicht an der bisherigen Vorgehensweise festhält. Beobachtet wird insbesondere, ob die Testperson:

• ihre Strategie wechselt und Fehler abstellt,

• Fehler eigenständig erkennt und korrigiert,

• trotz Einsicht perseveriert und an der bisherigen Strategie festhält.

Die Auswertung erfolgt nicht nach klassischen Testkriterien, sondern als qualitative Zusatzbeobachtung zur Einschätzung metakognitiver und exekutiver Funktionen.

Auswertungskriterien

• Perseveration versus Flexibilität: Anpassung oder Festhalten an der alten Strategie

• Übergenauigkeit versus funktionale Genauigkeit: Verlangsamung mit Perfektionismus gegenüber effizienter Fehlerkorrektur

• Habituation: wiederholtes Auftreten von Fehlern trotz Regelerklärung

• Metakognition: Fähigkeit, Fehler zu verbalisieren und die neue Strategie bewusst zu benennen

bei der Verfasserin

In Ausgabe 01/2026 erwartet Sie ein weiterführender Beitrag mit spezifischen Fallbeispielen zu dem Thema.

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