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Neue Assessments und Therapieoptionen für Schizophrenie und Depression
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Laura Carlberg
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin<br> Krankenhaus Nord, Wien
30
Min. Lesezeit
05.06.2019
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<p class="article-intro">Mehr als 4000 Teilnehmer aus über 100 Nationen kamen in Warschau zusammen, um sich beim 27. European Congress of Psychiatry über die neuesten Ergebnisse aus der neuropsychiatrischen Forschung auszutauschen.</p>
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<p class="article-content"><h2>Tools zur Erhebung von Negativsymptomen der Schizophrenie</h2> <p>Die amtierende EPA-Präsidentin Silvana Galderisi gab zu bedenken, dass die Erfassung von primären und sekundären Negativsymptomen und deren klare Unterscheidung in der klinischen Routine noch immer eine Herausforderung darstellen, aber sowohl für die Behandlung als auch für die Erforschung pathophysiologischer Mechanismen und therapeutischer Ansätze wichtige Auswirkungen haben. Primäre Negativsymptome treten oftmals lange vor der ersten psychotischen Episode auf und können zwischen Episoden mit psychotischen Exazerbationen persistieren. Sie werden durch die derzeit verfügbaren Behandlungen nicht wesentlich verbessert, und bisher hat kein Medikament eine Zulassung für die Behandlung von Negativsymptomen. Sekundäre Negativsymptome sind Folgen anderer Krankheitssymptome (depressive Symptome, Positivsymptome) oder -faktoren (Antipsychotika, hypostimulierende Umgebung).<sup>1</sup> Aktuelle Daten von Strauss et al. zeigen dass die «Brief Negative Symptoms Scale» (BNSS), welche die Negativsymptome in 5 Bereiche (Anhedonie, Avolition, sozialer Rückzug, gedämpfter Affekt, Alogie) unterteilt, sie am besten erfasst. Die BNSS basiert auf dem 2005 für die Negativsymptome entwickelten Konsensus des National Institute of Mental Health (NIMH), ist jedoch wie die meisten Skalen zur Erhebung der Negativsymptome eine Fremdbeurteilung. Die Selbsteinschätzung kann eine zusätzliche Messung bieten und den Patienten besser in die Behandlung einbinden. Die Selbsteinschätzung ist wichtig, da sie die Analyse der eigenen Symptome erfordert und die Patienten somit ein Krankheitskonzept entwickeln können. Darüber hinaus ist die Selbsteinschätzung eine zeiteffiziente Methode zur Quantifizierung der Negativsymptome.</p> <p><strong>Fazit</strong><br /> Die von Sonia Dollfus<sup>2</sup> entwickelte und in mehreren Studien validierte Selbst-Rating- Skala «Self-assessment of Negative Symptoms» (SNS) erfasst entsprechend dem NIMH-Konsensus 5 Bereiche der Negativsymptome (Anhedonie, Avolition, sozialer Rückzug, gedämpfter Affekt, Alogie). Cut-off ≥ 7/40 Punkte (Sensitivität 92,7 % ; Spezifität 85,9 % ). Dauer 5 Minuten, 20 Items mit jeweils 3 Antwortmöglichkeiten (stimme voll zu: 2 Punkte, stimme teilweise zu: 1 Punkt, stimme nicht zu: 0 Punkte). Eine deutschsprachige Version existiert und kann per E-Mail angefordert werden (dollfus-s@chu-caen.fr).</p> <h2>Körperliche Aktivität als First-Line- Therapie der Major Depressive Disorder (MDD)</h2> <p>Für Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen ist es oft schwierig, ausreichend körperlicher Aktivität nachzugehen, der Stellenwert dieser therapeutischen Intervention steigt jedoch. In Schweden beispielsweise wird betreute körperliche Aktivität bereits von psychiatrischen Kollegen verordnet. In einem Meta-Review von Brendon Stubbs et al. wurde der Effekt von körperlicher Aktivität auf psychiatrische Erkrankungen untersucht.<sup>3</sup> Für MDD deuteten Daten darauf hin, dass körperliche Aktivität depressive Symptome verbessert. Die erzielte Wirkung ist mit der von Antidepressiva und Psychotherapie vergleichbar, unerwünschte Ereignisse wurden nicht häufiger als in der Kontrollgruppe berichtet. Bei MDD-Patienten wurden grössere Effektstärken beobachtet, wenn die körperliche Aktivität mit mässiger bis starker Intensität ausgeübt und von einem geschulten Trainer in der Gruppe betreut wurde. Bei Erkrankungen des Schizophrenie- Spektrums kann aerobe körperliche Aktivität für 150 Minuten/Woche die Symptome reduzieren, die Kognition und die kardiorespiratorische Fitness verbessern. Eine weitere Metaanalyse untersuchte den Effekt körperlicher Aktivität auf die Inzidenz der MDD. Es wurden prospektive Kohortenstudien inkludiert und von Felipe Schuch et al. ausgewertet.<sup>4</sup> Auch hier konnte körperliche Aktivität unabhängig von Alter und geografischer Region als protektiver Faktor für die Entstehung von MDD bestätigt werden.</p> <p><strong>Fazit</strong><br /> Empfohlen wird betreute aerobe/ anaerobe körperliche Aktivität bestehend aus 2–3 Sitzungen/Woche zu jeweils 45–60 Minuten, als zusätzliche Behandlung bei milder/moderater Depression (Evidenzklasse A). Protektiv wirken 1–2 Stunden körperliche Aktivität in der Woche.</p> <h2>Game Changer Ketamin – der schnelle Weg aus der Depression?</h2> <p>Die therapieresistente Depression (TRD) (definiert als fehlendes Ansprechen auf die Standarddosis von zwei unterschiedlich wirkenden Antidepressiva nach einer Behandlungsdauer von sechs bis acht Wochen) stellt eine grosse Herausforderung für den behandelnden Arzt und das Gesundheitssystem dar. Etwa 30–40 % der Patienten mit MDD sprechen auf die Behandlung mit Antidepressiva nicht an.<sup>5</sup> Andere hochpotente Therapieoptionen wie die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) werden nur an spezialisierten Zentren durchgeführt und sind dadurch limitiert. Zu den weiteren Problematiken zählen ein verzögerter Wirkungseintritt der bisher verwendeten Antidepressiva, eine erhöhte Suizidalität, insbesondere in der Jugend, und hohe Rezidivraten nach dem Absetzen. Ketamin und sein Enantiomer S-Ketamin sind vielversprechende Kandidaten, um eine schnell einsetzende antidepressive Wirkung zu erzielen. Die Hauptwirkung von Ketamin besteht als Antagonist am Glutamat- N-Methyl-D-Aspartat(NMDA)-Rezeptor, wobei der antidepressive Wirkmechanismus wesentlich komplexer scheint. Das Enantiomer S-Ketamin zeigt in vitro eine etwa vierfach höhere Affinität für den Glutamat-NMDA-Rezeptor als R-Ketamin. Bisher erfolgte die Therapie off-label mit Ketamin 0,5–1 mg/kg KG intravenös, basierend auf robusten Daten zu kurzfristiger signifikanter antidepressiver und antisuizidaler Wirkung. Die Ansprechrate lag bereits 4,5 Stunden nach Verabreichung der ersten Einzeldosis bei über 60 % , die anhaltende Wirkung nach 24 Stunden und nach 7 Tagen lag über 40 % .6 Diese Wirkung konnte bei regelmässigen Einzeldosen (2–3 x/Woche) über mehrere Wochen wiederholt erzielt werden.6 In der 2018 veröffentlichten Phase-III-Studie von Janssen wurde die antidepressive Wirkung für die intranasale Anwendung bei TRD erneut bestätigt. In der internationalen doppelblinden randomisiert-kontrollierten Multicenterstudie mit 346 TRD-Teilnehmern erfolgte die Behandlung mit S-Ketamin (56 mg/84 mg) oder Placebo plus einem neu begonnenen oralen Antidepressivum in Standarddosis. Das Assessment mit der Montgomery-Åsberg Depression Rating Scale (MADRS) wurde ab Tag 1 (vor Randomisierung) bis zum Ende der vierwöchigen Induktionsphase durchgeführt. Wie in den anderen Phase-II- und -III-Studien beobachtet, lagen die Ansprechraten (MADRS ≥ 50 % Symptomreduktion) und die Remissionsraten (MADRS-Gesamtwert ≤ 12) am Tag 28 für beide Gruppen mit S-Ketamin plus oraler Antidepressiva höher als für die Gruppe mit oralen Antidepressiva plus Placebo (Tab. 1).<br /> In einem kritischen Review von Molero P et al. wurde besonderes Augenmerk auf die Verträglichkeit gelegt. Es ist vor allem mit einer vorübergehenden Erhöhung des Blutdrucks sowie passager auftretenden leichten dissoziativen und psychotomimetischen Effekten zu rechnen.<sup>6</sup> Bedenken bestehen nach wie vor in Bezug auf die Langzeitsicherheit von Ketamin und S-Ketamin, insbesondere hinsichtlich neurologischer und urologischer Toxizität sowie einer möglichen Suchtentwicklung. Intranasales S-Ketamin hat im Vergleich zur intravenösen Anwendung insgesamt eine vergleichbare antidepressive Wirkung bei besserem Verträglichkeitsprofil.<sup>6</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Neuro_1902_Weblinks_lo_neuro_1902_s29_tab1_carlberg.jpg" alt="" width="550" height="159" /></p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 27<sup>th</sup> European Congress of Psychiatry, 6.–9. April 2019,
Warschau
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Strauss GP et al.: Network analysis reveals the latent structure of negative symptoms in schizophrenia. Schizophr Bull 2018; doi: 10.1093/schbul/sby133. [Epub ahead of print] <strong>2</strong> Dollfus S et al.: Self-evaluation of negative symptoms: a novel tool to assess negative symptoms. Schizophr Bull 2016; 42(3): 571-8 <strong>3</strong> Stubbs B et al.: EPA guidance on physical activity as a treatment for severe mental illness: a meta-review of the evidence and Position Statement from the European Psychiatric Association (EPA), supported by the International Organization of Physical Therapists in Mental Health (IOPTMH). Eur Psychiatry 2018; 54: 124-44 <strong>4</strong> Schuch et al.: Physical activity and incident depression: a meta-analysis of prospective cohort studies. Am J Psychiatry 2018; 175(7): 631-48 <strong>5</strong> Ionescu DF, Papakostas GI: Experimental medication treatment approaches for depression. Transl Psychiatry 2017; 7(3): e1068 <strong>6</strong> Molero P et al.: Antidepressant efficacy and tolerability of ketamine and esketamine: a critical review. CNS Drugs 2018; 32(5): 411-20</p>
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