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Neue Ansätze jenseits der Standards
Leading Opinions
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13.10.2016
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<p class="article-intro">Prof. Dr. med. Göran Hajak, Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Bamberg, präsentierte im Rahmen seines Vortrages «Neue Antidepressiva in der Praxis» das Intensiv-Modul-Programm für chronische, therapieresistente Depressionen (IMPD), welches in den letzten Jahren in seiner Klinik entwickelt wurde und bereits erstaunliche Erfolge erzielt hat.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Grundprinzipien des IMPD</li> <li>Keine Angst vor Therapiekombination – bei engem Monitoring!</li> <li>Verstehe den Wirkmechanismus, um sich ergänzende Mechanismen kombinieren zu können!</li> <li>Probiere innovative Produkte als Erster aus – auch First Line!</li> <li>Nutze auch adjuvante Verfahren aus dem Off-label-Bereich!</li> <li>Habe Mut zu High-End-Therapien (auch solchen, die erst in Entwicklung sind) – vor allem bei High-End-Patienten!</li> </ul> </div> <p>Gerade moderne Therapien sind nicht immer evidenzbasiert und oft risikobehaftet. Dass es sich trotzdem lohnt, diese Therapien einzusetzen, vermittelte Prof. Hajak anhand eines Fallbeispiels. «Der Durchschnittsdepressive mit Mehrfachverlauf in Deutschland bekommt pa­rallel in etwa drei bis vier Psychopharmaka», erläuterte er. So auch die Patientin aus dem Fallbeispiel: 39 Jahre, Belastung durch Doppelfunktion in Beruf und Haushalt, seit sieben Jahren schwere Depressionen (fünf Phasen zu je 6–12 Wochen) bei einem HAM-D 17 von 26. Nach einer pleio­tropen Vorbehandlung über die letzten Jahre umfasste die aktuelle Behandlung drei Antidepressiva, zwei sedierende Medikamente, Lithium und eine Psychotherapie. Im Rahmen des IMPD wurde die pharmakologische Behandlung auf 10mg Vortioxetin, 50mg Agomelatin, Lithium 0,7mmol/ml radikal reduziert und von einer intensiven multimodalen Therapiebatterie begleitet (Tab. 1). Mit Erfolg: Innerhalb von acht Wochen verbesserte sich der HAM-D-17-Score von 26 auf 8.</p> <h2>Die Behandlung ist nicht für jeden geeignet</h2> <p>«Dieses proaktive Programm ist natürlich nicht für jeden Patienten geeignet und wirkt auch nicht bei jedem. Wir fahren daher zwei Module: ein proaktives intensives Programm und ein Kontemplationsprogramm für jene Patienten, die reflektieren wollen und müssen. Im Kontemplationsprogramm arbeiten wir ausschliesslich mit Einzelpsychotherapien und einer Optimierung der Pharmaka. Ziel dabei ist es, die Einzeltherapie nachwirken zu lassen und dem Patienten Ruhe zu geben, um sich zu entwickeln», erörterte Prof. Hajak. Welches Modul für welchen Patienten geeignet sei, könne man derzeit noch nicht vorhersagen. Auch die Zusammensetzung der Therapiebatterie sei individuell auf den Patienten abgestimmt (Abb. 1). «Wir arbeiten mit einer multimodalen Therapie, für die es keinerlei wissenschaftliche Evidenz gibt, weil die Kombination dieser Methoden bisher nicht untersucht worden ist», räumt Prof. Hajak ein. «Gerade deshalb muss man sich dieser Sache einmal annehmen.» Dass dieses vielschichtige Therapiekonzept nicht einfach nur dem Modell «Viel hilft viel» folgt, sondern auf wohlüberlegten Grundprinzipien (siehe KeyPoints) basiert, erklärte der Referent anhand einiger Beispiele für neue oder aussergewöhnliche Therapieverfahren.</p> <h2>Wieder den richtigen Rhythmus finden</h2> <p>Um Therapien ergänzend kombinieren zu können, muss man über deren Wirkmechanismen Bescheid wissen. Versteht man beispielsweise, wie Biorhythmik im menschlichen Körper generiert wird, erkennt man auch, dass deren deregulierter Ablauf beim depressiven Patienten<sup>1, 2</sup> multimodal therapiert werden kann. Gesteuert wird diese durch rhythmische Genexpression in den Nuclei suprachiasmatici, die wiederum physiologische Abläufe (z.B. die Körpertemperatur) steuern. Dabei kommunizieren die Nuclei suprachiasmatici zum einen mit der Glandula pinealis, die durch das Ausschütten von Melatonin den abendlichen «Ruhemodus» aktiviert, zum anderen mit den Augen, über die der Lichteinfall am Morgen die Aktivierung des Körpers bewirkt.</p> <p>Eine deregulierte Biorhythmik kann also nicht nur durch pharmakologische Substanzen, die in den Melatoninkreislauf eingreifen, sondern auch durch Tageslicht<sup>3</sup> oder Sport/Aktivität<sup>4</sup> (= Erhöhung der Körpertemperatur) wieder normalisiert werden. In der Bamberger Klinik wird die Lichttherapie systematisch eingesetzt: «Bei uns bekommt jeder Patient eine Lichttherapie. Es wäre ein Fehler, es nicht zu tun, denn es gibt kaum eine Therapie, die harmloser und in der Wirkstärke effektiver ist», erklärt Hajak. Lichttherapie wirkt rein biologisch auf die innere Uhr.</p> <h2>Auch kognitive Dysfunktionen bekämpfen</h2> <p>Kognitive Dysfunktionen sind ein Kernsymptom der Depression und schwer zu behandeln.<sup>5–7</sup> Etwa 50 % aller austherapierten Patienten in Remission leiden noch immer unter kognitiven Problemen.<sup>6</sup> «Alleine die Stimmung zu heben, reicht also nicht aus. Wir müssen uns in Zukunft auch um die kognitiven Defizite kümmern», so der Psychiater Hajak, «Produkte, die jetzt auf den Markt kommen, können die Exekutivfunktionen der Kognition, welche bei depressiven Patienten am meisten beeinträchtigt sind, unterstützen.» Vortioxetin beispielsweise basiert auf einem multimodalen Wirkprinzip, das die Funktionen eines Serotonin-Wiederaufnahmehemmers sowie eines Serotonin-Antagonisten und -Agonisten vereint. Es wirkt an unterschiedlichen Rezeptoren, so auch am 5-HT7-Rezeptor, welchem die Regulation kognitiver Funktionen zugeschrieben wird. Vortioxetin füllt somit eine Nische, die von vielen anderen Produkten nicht bedient wird.</p> <h2>Repetitive transkranielle Magnetstimulation</h2> <p>Geht es nach Prof. Hajak, sollte die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) in der Behandlung der Depression einen grossen Stellenwert haben. Die Datenlage zur rTMS sei sehr gut: Metaanalysen von Studien, in welchen pharmakologisch vorbehandelte Patienten untersucht worden waren, zeigten hochsignifikante Effekte.<sup>8</sup> Die Responderraten lagen bei 29,3 % vs. 10,4 % im Placeboverfahren, die Remitterraten bei 18,6 % vs. 5 % . Die „number needed to treat“ lag bei diesen schwer chronisch kranken Patienten bei 6 (Responder) bzw. 8 (Remitter). „Dies ist eine geringe, aber signifikante Wirkstärke. Übliche pharmakologische Antidepressiva sind tendenziell sogar wenig effektiv mit Responderraten von 27,1 % und Remitterraten von 15 % .<sup>9</sup> In naturalistischen Studien sind die Responderraten der rTMS mit > 50 % und die Remitterraten mit > 30 % höher.<sup>10</sup> <br />Man kann daher sagen, dass die rTMS bei therapieresistenten Patienten ein wirksames Verfahren ist, wenn man sie mit einer pharmakologischen Behandlung kombiniert“, so Prof. Hajak. Eine moderne Klinik sollte rTMS seiner Meinung nach auf jeden Fall anbieten, aber auch in den Praxen sollte dieses Verfahren nach Möglichkeit öfter eingesetzt werden. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Neuro_1605_Weblinks_seite28.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Botulinumtoxin-Behandlung der Depression</h2> <p>Die «Facial feedback»-Theorie postuliert, dass Bewegungen der Gesichtsmuskulatur über einen Feedback-Mechanismus das eigene emotionale Erleben beeinflussen. So wird auch das Stirnrunzeln als Ausdruck des Unwohlseins an das limbische System übermittelt, das Gehirn wiederum leitet diese negative Empfindung an den Organismus weiter. Die Lähmung der Gesichtsmuskulatur im Stirnbereich durch Botulinumtoxin unterbricht diesen Feedbackmechanismus und kann dadurch langfristig und erfolgreich zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden.<sup>11, 12</sup> Obwohl der biologische Mechanismus und der Effekt in der Depressionsbehandlung nie zweifelsfrei bewiesen werden können, weil aufgrund des sichtbaren Effekts keine doppelt verblindeten Studien möglich sind, ist laut Prof. Hajak die klinische Wirkung eindrücklich.</p> <h2>Auf dem Prüfstand: Evidenz vs. Effektivität</h2> <p>Hohe Evidenz gibt es unter den neuen Methoden nur für die EKT, rTMS und die Lichttherapie, für alle anderen Verfahren ist die Evidenz wesentlich geringer. Im Gegensatz dazu liegen die Evidenzraten für Pharmakotherapien sehr viel höher, die Streueffekte in der Effektivität sind allerdings ebenso wie bei alternativen Methoden beträchtlich. Für die Psychotherapie bestehen hohe Streueffekte, sowohl was Effektivität als auch Evidenz betrifft, denn die Psychotherapie ist immer so gut wie der Psychotherapeut und der Patient, der sich darauf einlässt. Prof. Hajak resümiert: «Am Ende ist es aber nicht nur die Evidenz, die zählt. Wir Ärzte entscheiden darüber, welche Therapien der einzelne Patient erhält. Jede Entscheidung wird individuell getroffen und wir müssen mit unserem Patienten im Einzelnen festmachen, welche Therapie Erfolg hatte und welche nicht.»</p></p>
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<p><strong>1</strong> Souetre E et al: Am J Psychiatry 1988; 145: 1133-7 <strong>2</strong> Souetre E et al: Psychiatry Res 1989; 28: 263-78 <strong>3</strong> Tuunainen A et al: Cochrane Database Syst Rev 2004; 2: CD004050 <strong>4</strong> Cooney GM et al: Cochrane Database Syst Rev 2013; 9: CD004366 <strong>5</strong> Chen LS et al: Am J Psychiatry 2000; 157: 573-80 <strong>6</strong> Conradi HJ et al: Psychol Med 2011; 41: 1165-74 <strong>7</strong> Nierenberg AA et al: J Psychiatr Res 2007; 41: 214-21 <strong>8</strong> Berlim MT et al: Psychol Med 2014; 44: 225-39 <strong>9</strong> Rush AJ et al: Control Clin Trials 2004; 25: 119-42 <strong>10</strong> Carpenter LL et al: Depress Anxiety 2012; 29: 587-96 <strong>11</strong> Wollmer MA et al: J Psychiat Res 2012; 46: 574-81 <strong>12</strong> Hawlik AE G et al: Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82: 93-9</p>
</div>
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