Wie können Suizide verhindert werden?
Bericht:
Dr. Jürgen Sartorius
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Das Suizidrisiko ist in den vergangenen Jahren vor allem bei jüngeren Menschen in Krisen gestiegen. Grund dafür sind nicht nur psychiatrische Komorbiditäten, sondern auch wirtschaftliche Belastungen. Was braucht eine gelungene Suizidprävention? Wie sieht die Datenlage zu Kliniksuiziden aus? Und welche Rolle spielen soziale Medien?
Diese Fragen wurden im Rahmen eines Symposiums auf dem 23. Weltkongress der World Psychiatric Association (WPA) behandelt.
Zu Beginn berichtete Dr. med. Thomas Kapitany, ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention, aus der Praxis der Krisenintervention. «Während man früher Menschen in ihrer Suizidalität angesprochen und betreut hat, bemüht man sich heute, bereits in der vorhergehenden Krisensituation zu intervenieren», so der Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin. Eine psychosoziale Krise ist keine Krankheit, sondern ein krankheitswerter Zustand, der als eine Reaktion auf eine akute Belastung folgt.
Suizidprävention erfordert Krisenintervention
Eine Krise bedeutet ein Ungleichgewicht zwischen äusseren belastenden Lebensumständen und momentanen persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten und Ressourcen. Eine Krisenbewältigung erfolgt im günstigen Normalfall in der Familie oder im Bekanntenkreis, in anderen – ungünstigeren – Krisensituationen besteht allerdings eine akute Gefährdung durch Suizid oder Gewalt gegen andere. In weniger gravierenden Fällen droht die Gefahr einer Chronifizierung, die zu Alkoholismus oder anderen Krankheiten führen kann. Kann eine Krise aber bewältigt werden, komme es in der Regel zu einer positiven Weiterentwicklung, erklärte Kapitany.
Jedes Angebot einer Krisenintervention muss rasch, leicht erreichbar und kostenneutral verfügbar sein. «Wir müssen flexibel sein. Braucht es ein organisch-medizinisches oder eher ein psychotherapeutisches Gesprächsangebot? Welche Ressourcen kommen infrage? Eine gute Vernetzung ist für unsere Arbeit absolut notwendig», konstatierte Kapitany und stellte das Handlungsprinzip BELLA vor (Abb. 1).
Abb. 1: Das Handlungsprinzip BELLA
Junge sind besonders betroffen
Von den Menschen in Krisen tragen nur etwa 2% ein schweres, 8% ein mittleres und 19% ein leichtes Suizidrisiko. Bei jüngeren Krisenklient:innen besteht leider eine steigende Tendenz zur Suizidalität: Im Jahr 2020 wiesen 29% der 18- bis 25-Jährigen ein Suizidrisiko auf, 2022 erhöhte sich die Zahl auf 47%, berichtete Kapitany. Natürlich spielt auch der wirtschaftliche Hintergrund eine Rolle. Menschen mit wirtschaftlichen Problemen tragen ein etwa 2,5-fach erhöhtes Suizidrisiko im Vergleich zu Menschen ohne finanzielle Not. Insofern spielen auch die Teuerung, die pandemische Situation und die Klimakrise eine Rolle.
Das Suizidrisiko ist bei Anpassungsstörungen (F43) 12- bis 14-fach erhöht, bei posttraumatischen Belastungsstörungen bis zu 6-fach, bei Depression bis zu 20-fach, bei Dysthymie 12-fach und bei Schizophrenie 8-fach. Auch bei Patienten mit Suchterkrankungen besteht ein erhöhtes Suizidrisiko (Heroin: 14-fach, Alkohol: 6-fach).1 Abschliessend forderte Kapitany einen flächendeckenden Ausbau der Angebote zur Krisenintervention sowie die Entstigmatisierung der Suizidproblematik in der Öffentlichkeit.
Datenbank für Kliniksuizide ermöglicht statistische Aussagen
Dr. phil. Dipl.-Ing. Katharina König, Vorstandsmitglied des Werner-Felber-Instituts für Suizidprävention und interdisziplinäre Forschung im Gesundheitswesen, Dresden, stellte zum Thema Suizidprävention in psychiatrischen Kliniken Ergebnisse aus der Kliniksuizid-Datenbank der DACH-Region vor.
Im Jahr 2021 wurden 9215 Suizide gezählt, was einer Rate von 11.1 pro 100000 Einwohnern entspricht. Etwa die fünffache Fallzahl (50 pro 100000) tritt unter in psychiatrischen Kliniken Aufgenommenen auf. Diese Suizide sind häufig vermeidbar, aber es fehlt vor allem in Deutschland eine Datenbasis. Um diese zu schaffen, wurde die Kliniksuizid-Datenbank gegründet, die webbasiert Suizide und Suizidversuche in Kliniken erfasst. Die Daten werden so angelegt, dass sie von verschiedenen Forschungsbereichen genutzt werden können. Kliniken, die sich beteiligen, erhalten eine jährliche Auswertung und bei Bedarf die eigenen Rohdaten als Excel- oder SPSS-Datei für ihr Qualitätsmanagement.
Bisher 940 Datensätze von 119 Kliniken
Die Auswertung von 940 Datensätzen aus 119 teilnehmenden Kliniken ergab für den Zeitraum von 2019 bis 2023, dass beide Geschlechter etwa gleich häufig vertreten waren. Bei Frauen blieb es doppelt so häufig bei einem Suizidversuch wie bei Männern, ebenso in den geschlechtsneutralen Altersgruppen unter 30 Jahren. Die Suizidquote war insgesamt bei Männern und bei Menschen zwischen 40 und 60 Jahren am höchsten.
Erhängen, Sprung in die Tiefe und Überfahrenlassen von Zügen waren die häufigsten Suizidmethoden. Die meisten Suizidversuche wurden durch Erdrosseln, Medikamentenintoxikation und Verwendung von Gegenständen durchgeführt. Etwa die Hälfte der suizidalen Handlungen fand innerhalb des Klinikgebäudes statt, führte aber nur zu etwa 20% zum Suizid. Etwa ein Viertel wurde in der weiteren Umgebung der Klinik durchgeführt, wobei es aber bei über 60% zum Suizid kam. 54% der Fälle waren mit der Hauptdiagnose affektive Störungen (F3) aufgenommen worden, 22% mit Schizophrenie, schizotypen und wahnhaften Störungen (F2). In zwei Dritteln der Fälle war eine Suizidalität von den Patienten verneint und von den Aufnehmenden nicht vermutet worden. Zum Abschluss regte König die Teilnahme von Kliniken unter suiziddatenbank@felberinstitut.de an.
Suizidprävention in der Schule
Zum Thema Suizidprävention in der Schule präsentierte Luna Grosselli, MSc, psychologische Psychotherapeutin, ebenfalls Werner-Felber-Institut für Suizidprävention und interdisziplinäre Forschung im Gesundheitswesen, Ergebnisse des HEYLIFE-Präventionsprogramms für Schüler:innen und Lehrkräfte in Sachsen. Sachsen hat aus unbekannten Gründen schon seit dem 18. Jahrhundert eine der höchsten Suizidraten in Deutschland, berichtete Grosselli, die seit fünf Jahren in Schulen arbeitet. Unter HEYLIFE findet man eine Internetpräsenz ( www.suizidpraevention-sachsen.de ) mit Informationen und Hilfsangeboten für Betroffene, aber auch Freunde, da Jugendliche erfahrungsgemäss häufiger Rat bei Gleichaltrigen suchen.
Von Juni 2019 bis Februar 2021 führte HEYLIFE eine randomisierte kontrollierte Studie mit 750 Schüler:innen aus 19 Schulen durch, die über das Internet Hilfe gesucht hatten. Diese wurden in zwei Gruppen randomisiert. Die Interventionsgruppe nahm zum Zeitpunkt T1 an einem Workshop von HEYLIFE teil, die Kontrollgruppe erst später zum Zeitpunkt T2. Alle Teilnehmenden wurden zu beiden Zeitpunkten interviewt. Bei der Interventionsgruppe hatte die Bereitschaft, professionelle Hilfe anzunehmen, zum Zeitpunkt T2 deutlich zugenommen, während sie bei der Kontrollgruppe gegenüber dem Zeitpunkt T0 deutlich abgenommen hatte (Abb. 2).
Abb. 2: Intention von suizidgefährdeten Schüler:innen, professionelle Hilfe zu suchen, mit (grün) und ohne professionelle Intervention (orange) (mod. nach Wilson et al. 2005)2
Allgemein fielen die Ergebnisse für Mädchen positiver aus, berichtete Grosselli. Auch Lehrkräfte reagierten sehr positiv auf speziell für sie entwickelte HEYLIFE-Workshops zum Thema Wissen und Fähigkeit zum Erkennen von und Unterstützung bei Suizidalität von Jugendlichen.
Mediales Berichten über Suizidalität
Abschliessend sprach Stefanie Kirchner, PhD MPH MSc, Leiterin der Unit Suizidforschung & Mental Health Promotion, Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin der Medizinischen Universität Wien, über Erfahrungen von Personen, die medial über ihre Suizidalität und Krisenbewältigung berichten. «Es ist bereits allgemein anerkannt, dass Medieninhalte über Krisenbewältigung und Hoffnung zu einer Reduktion von Suizidgedanken vulnerabler Personen und zu einer verbesserten Einstellung zum Hilfesuchen bei anderen führen können. Dies ist als Papagenoeffekt nach der Mozart-Oper‹Die Zauberflöte› bekannt», erläuterte Kirchner «und bereits häufiger untersucht und bestätigt worden.»
Ein aktuelles Projekt von Kirchner und ihrer Gruppe befasst sich damit, wie das öffentliche Teilen persönlicher Erfahrungen mit Suizidalität von den Verfassern dieser Medieninhalte selbst erlebt wird. Dazu wurden bisher 15 Frauen interviewt, die suizidale Erfahrungen oder Gedanken dazu oder auch den Verlust einer nahestehenden Person durch Suizid durchgemacht sowie Erfahrungen mit Berichten darüber in sozialen Medien, bei Vorträgen oder mit Artikeln im Internet oder in Printmedien gemacht hatten.
Vorbilder als Motivation
Als Motivation wurden Vorbilder genannt, die sich bereits in ähnlicher Weise «geoutet» hatten, eine Ermutigung durch Freunde oder Familienangehörige sowie der Wunsch, das eigene Trauma zu verarbeiten oder auch anderen Betroffenen zu helfen. Die Interviewten hatten nach der Veröffentlichung ihrer Berichte je nach Reaktionen der Angesprochenen Gefühle von Zugehörigkeit, aber auch von Stigmatisierung erlebt.
«Es braucht viel Energie, sich öffentlich zu machen»
Wichtig sei es, sagte die Mehrzahl der Befragten, sich auf das Medium und die Veröffentlichung vorzubereiten und sich die Frage zu stellen, ob man wirklich bereit sei, seine sehr persönlichen Erfahrungen aufzuarbeiten, damit erneut zu durchleben und mit Unbekannten zu teilen. Da die Reaktionen insbesondere in sozialen Medien nicht vorhersehbar seien, sei ein Sicherheitsfeedback von Bekannten und ein Netzwerk von Freunden empfehlenswert, um stigmatisierende, verstörende «Shitstorms» relativieren zu können, was ebenfalls mehrfach geäussert wurde.
Quelle:
23. Weltkongress der World Psychiatric Association (WPA), 28.9. bis 1.10.2023, Wien
Literatur:
1 Gradus JL et al.: Posttraumatic stress disorder and completed suicide. Am J Epidemiol 2010; 171(6): 721-7 2 Wilson CJ et al.: Measuring help-seeking intentions: properties of the general help seeking questionnaire. Can J Couns Psychother 2005; 39(1): 15-28
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