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Aktuelle Forschungslage und ausstehende Fragen

Kann Sport süchtig machen?

<p class="article-intro">Sport und Bewegung sind mittlerweile als Teile eines gesunden Lebens fest etabliert. Dabei wird Bewegung häufig als positiv und belohnend wahrgenommen. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass sich Personen so viel bewegen oder sportlich betätigen, dass dies zu physischer und psychischer Last wird. Sind diese Personen von einer Sport- oder Bewegungssucht betroffen? Und sind sogenannte Verhaltenssüchte von substanzgebundenen Suchtformen zu differenzieren?</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>In Fallstudien, qualitativen Untersuchungen und den popul&auml;ren Medien wird von Personen berichtet, die unter sucht&auml;hnlichen Symptomen in Bezug auf ihre Bewegungsgewohnheiten leiden.</li> <li>Bewegungssucht gilt noch nicht als psychische Diagnose oder Krankheit, da Studien zu Krankheitsverlauf, beobachteten Symptomen und St&ouml;rungsbild noch gefragt sind.</li> <li>Es bleibt unklar, ob exzessive Bewegungsgewohnheiten als Begleitsymptom von einer Essst&ouml;rung oder anderen St&ouml;rungen zu verstehen sind, wobei gewisse Forschungsgruppen angeben, Essst&ouml;rungen ausgeschlossen zu haben.</li> <li>M&ouml;gliche Merkmale einer Bewegungssucht sind rigide Trainingspl&auml;ne, die Weiterf&uuml;hrung von Training trotz Krankheit und Verletzung und soziale Isolation, welche auf das Trainingspensum zur&uuml;ckzuf&uuml;hren ist.</li> </ul> </div> <p>Seit 1979 wird &laquo;exercise addiction&raquo; (Bewegungssucht) in der wissenschaftlichen Literatur als eine negative und belastende Verhaltensweise diskutiert.<sup>1</sup> Diverse Fallstudien berichten von Personen, die ihre beruflichen und sozialen Verpflichtungen wegen ihres hohen Bewegungspensums nicht erf&uuml;llen k&ouml;nnen, was teilweise zu Berufswechsel, Trennung oder Studienabbruch f&uuml;hrt. Des Weiteren setzten diese Personen ihr Training trotz Krankheit oder schwerer Verletzung fort.<sup>2</sup> Sind sie zu einer Pause gezwungen, f&uuml;hlen sie sich reizbar, nerv&ouml;s und depressiv; der Trainingswiedereinstieg erfolgt dann meist schnell und mit einem hohen Pensum.<sup>3</sup><br /> Parallelen zu den DSM-5- und ICD-10-Kriterien f&uuml;r substanzgebundene Abh&auml;ngigkeitserkrankungen sind erkennbar, da Toleranzentwicklung, Vernachl&auml;ssigung von sozialen Kontakten und Entzugssymptome bei betroffenen Personen aufzutreten scheinen.<sup>4</sup> Jedoch geh&ouml;rt Bewegungssucht, wie auch andere m&ouml;gliche Verhaltenss&uuml;chte, darunter Kaufsucht oder Sexsucht, noch nicht zu den im DSM-5 aufgelisteten nicht substanzgebundenen S&uuml;chten.<sup>5</sup> Im neuen ICD-11 wird das Ph&auml;nomen ebenfalls nicht als Verhaltenssucht aufgef&uuml;hrt. Grund daf&uuml;r ist ein Mangel an fundierten Studien.<br /> Die bisherige Forschungslage umfasst weit &uuml;ber 100 Querschnittsstudien zum Ph&auml;nomen. Trotzdem wird die aktuelle Evidenzlage f&uuml;r Bewegungssucht als eine Form der Verhaltenssucht als schwach betrachtet. Ein Grund daf&uuml;r ist, dass aktuelle Messinstrumente zur Pr&auml;valenz von Bewegungssuchtgef&auml;hrderung nur unzureichend bis gar nicht zwischen motivierten Sportlern und Personen mit psychischen Auff&auml;lligkeiten differenzieren k&ouml;nnen.<sup>6</sup> Dieses Problem scheint darauf zur&uuml;ckzuf&uuml;hren zu sein, dass eine konkrete Definition und etablierte Kriterien f&uuml;r Verhaltenss&uuml;chte im Allgemeinen noch erarbeitet werden m&uuml;ssen.<sup>7</sup> Dies hat zur Folge, dass die aktuell eingesetzten Messinstrumente lediglich die Kriterien substanzgebundener Suchterkrankungen anpassen, ohne sich auf grundlegende Untersuchungen an betroffenen Personen und deren Symptome zu st&uuml;tzen.<sup>8</sup><br /> Ein weiterer Aspekt ist die theoretische Einteilung der Bewegungssucht in eine prim&auml;re und in eine sekund&auml;re Form.<sup>9</sup> Bei einer prim&auml;ren Bewegungssucht stehen die Bewegung selber und die damit verbundenen positiven Gef&uuml;hle im Vordergrund. Eine sekund&auml;re Bewegungssucht charakterisiert sich hingegen durch ein &uuml;bergeordnetes Ziel, wie beispielsweise Gewichtsverlust, die Linderung depressiver Symptome oder f&uuml;r Personen, die von ADHS betroffen sind, einen Ausgleich. Bewegung wird dabei vermutlich eher zwanghaft ausgef&uuml;hrt, um bef&uuml;rchtete negative Konsequenzen zu vermeiden. Bei der prim&auml;ren Form &auml;hneln die Symptome und Verhaltensweisen viel eher einer substanzgebundenen Sucht, da Belohnungsgef&uuml;hle im Vordergrund stehen.<sup>10</sup><br /> Einige Forschungsgruppen akzeptieren diese Spaltung zwischen einer prim&auml;ren und einer sekund&auml;ren Form allerdings nicht. Sie gehen davon aus, dass exzessive Bewegung lediglich als Begleitsymptom einer anderen St&ouml;rung auftritt.<sup>11</sup> Typischerweise werden Essst&ouml;rungen wie Magersucht, Bulimie und Orthorexie als Hauptdiagnosen erw&auml;hnt. Dies stellt einen weiteren Grund f&uuml;r die fehlende Einstufung von exzessiver Bewegung als Verhaltenssucht dar. St&ouml;rungen wie Anorexia athletica, bei der das Gewicht durch zu geringe Energiezufuhr und ein hohes Trainingspensum mit dem Fokus auf sportliche Leistung kontrolliert wird,<sup>12</sup> oder Muskeldysmorphie, <sup>13</sup> bei der aufgrund eines verzerrten K&ouml;rperbilds bei einem hohen Trainingspensum Kraft trainiert wird, erleichtern bestehende Unklarheiten selbstverst&auml;ndlich nicht.<br /> Es gibt jedoch zahlreiche Studien, welche sucht&auml;hnliche Charakteristiken und Verhaltensweisen bei m&ouml;glicherweise betroffenen Personen dokumentieren.<sup>14</sup> Dass diese Personen aufgrund eines rigiden Trainingspensums unter psychischen Problemen leiden k&ouml;nnen, scheint gut belegt zu sein. Die meisten Forscher scheinen sich zudem darauf geeinigt zu haben, dass dieses Verhalten nicht nur als Begleitsymptom zu verstehen ist. Der theoretische Hintergrund, welcher die Diskussion rund um Verhaltenss&uuml;chte untermauert, bietet verschiedene Modelle und Definitionen an, um die Unterschiede zwischen substanzgebundenen und substanzungebundenen S&uuml;chten zu verdeutlichen. Ein f&uuml;hrendes Modell, die sogenannte I-PACE (Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution), betont die Relevanz verhaltensspezifischer Symptome, die nicht zum St&ouml;rungsbild der substanzgebundenen S&uuml;chte geh&ouml;ren, aber dennoch von Relevanz sind.<sup>15</sup> So m&uuml;sste bei Bewegungssucht beispielsweise das schlechte Gewissen, das auftritt, wenn ein Training nicht wie geplant durchgef&uuml;hrt werden kann, betrachtet werden. Die rigiden Strukturen, Pl&auml;ne und Rituale, welche Bewegungsgewohnheiten begleiten k&ouml;nnen, sind ebenfalls nicht direkt mit substanzgebundenen S&uuml;chten zu vergleichen. Deshalb bevorzugen und verfolgen verschiedene Forschungsgruppen eine neue Konzipierung von Verhaltenss&uuml;chten, welche diese verhaltensspezifischen und belastenden Symptome beinhalten.<sup>16</sup><br /> Einen letzten Hinweis bez&uuml;glich des suchtartigen Charakters von exzessiver Bewegung liefern die wenigen neurobiologischen Studien, die in diesem Feld bereits durchgef&uuml;hrt wurden. Nur eine der Studien weist darauf hin, dass die Belohnungszentren im Gehirn bei der Pr&auml;sentation von bewegungsbezogenen Stimuli aktiviert werden.<sup>17</sup> Es gilt allerdings zu betonen, dass die zwei weiteren negativen Studien mit Personen, welche an Anorexia nervosa erkrankt oder nur wenig sportlich sind, durchgef&uuml;hrt wurden, weshalb die Evidenzlage wenig robust ist. Bei anderen Verhaltenss&uuml;chten wie Gl&uuml;cksspielen wurden Verschlechterungen der inhibitorischen Kontrolle sowie eine Substanzsucht- &auml;hnliche Reaktivit&auml;t auf Stimulusbilder festgestellt. Da bisher nur wenig &uuml;ber die belohnende Wirkung von Bewegung bekannt ist, sollten weitere Studien in diesem Bereich umgesetzt werden.<br /> Unklar bleibt, ob und inwiefern sich Personen mit bewegungsgebundenen psychischen Symptomen bei Haus&auml;rzten oder Psychologen vorstellen. Therapien werden in einigen, meist privaten Kliniken angeboten. Symptome, worauf &Auml;rzte achten sollten, sind rigide Trainingsgewohnheiten, die Vernachl&auml;ssigung sozialer Kontakte und die Weiterf&uuml;hrung des Trainings trotz Krankheit oder Verletzung.<sup>18</sup> Bei &Auml;usserung dieser Symptome sollte ein Screening &uuml;ber andere psychische Erkrankungen, besonders Essst&ouml;rungen, vorgenommen werden, danach kann eine Verweisung zu einem geeigneten Spezialisten erfolgen.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Morgan WP: Negative addiction in runners. Phys Sportsmed 1979; 7(2): 55-77 <strong>2</strong> Freimuth M et al.: Clarifying exercise addiction: differential diagnosis, co-occurring disorders, and phases of addiction. Int J Environ Res Public Health 2011; 8(10): 4069 <strong>3</strong> Allegre B et al.: Definitions and measures of exercise dependence. Addiction Research &amp; Theory 2006; 14(6): 631-46 <strong>4</strong> Griffiths M: Exercise addiction: a case study. Addiction Research 1997; 5(2): 161-8 <strong>5</strong> Potenza MN: Non-substance addictive behaviors in the context of DSM-5. Addict Behav 2014; 39(1): 1-2 <strong>6</strong> Colledge F et al.: Does exercise addiction exist? A brief review on current measurement tools and future directions. Mental Health and Addiction Research 2019; 4: 1-4 <strong>7</strong> Kardefelt- Winther D et al.: How can we conceptualize behavioural addiction without pathologizing common behaviours? Addiction 2017; 112(10): 1709-15 <strong>8</strong> Billieux J et al.: Are we overpathologizing everyday life? A tenable blueprint for behavioral addiction research. J Behav Addict 2015; 4(3): 119-23 <strong>9</strong> Veale DMWC: Exercise Dependence. Br J Addict 1987; 82(7): 735-40 <strong>10</strong> Berczik K et al.: Exercise addiction: symptoms, diagnosis, epidemiology, and etiology. Subst Use Misuse 2012; 47(4): 403-17 <strong>11</strong> Bamber DJ: Diagnostic criteria for exercise dependence in women. Br J Sports Med 2003; 37(5): 393-400 <strong>12</strong> Sudi K et al.: Anorexia athletica. Nutrition 2004; 20(7-8): 657-61 <strong>13</strong> Leone JE et al.: Recognition and treatment of muscle dysmorphia and related body image disorders. J Athl Train 2005; 40(4): 352-9 <strong>14</strong> Cook B et al.: Exercise addiction and compulsive exercising: relationship to eating disorders, substance use disorders, and addictive disorders. Eating disorders, addictions and substance use disorders: Research, clinical and treatment perspectives. New York, NY, US: Springer Verlag Publishing; 2014 <strong>15</strong> Brand M et al.: The Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model for addictive behaviors: update, generalization to addictive behaviors beyond internet-use disorders, and specification of the process character of addictive behaviors. Neurosci Biobehav Rev 2019; 104: 1-10 <strong>16</strong> Ko CH, Yen JY: Commentary on: Are we overpathologizing everyday life? A tenable blueprint for behavioral addiction research. Excessive behaviors are not necessarily addictive behaviors. J Behav Addict 2015; 4(3): 130-1 <strong>17</strong> Cheval B et al.: Behavioral and neural evidence of the rewarding value of exercise behaviors: a systematic review. Sports Med 2018; 48(6): 1389-404 <strong>18</strong> Henkel K, Schneider F: Psychische Erkrankungen bei Leistungssportlern. Sports Orthopaedics and Traumatology, Sport- Orthop&auml;die &ndash; Sport-Traumatologie 2014; 30(4): 339-45</p> </div> </p>
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