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Kann Sport süchtig machen?
Leading Opinions
Autor:
Dr. Flora Colledge
Department für Sport, Bewegung und Gesundheit<br> Universität Basel<br> Basel<br> E-Mail: flora.colledge@unibas.ch
30
Min. Lesezeit
12.12.2019
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<p class="article-intro">Sport und Bewegung sind mittlerweile als Teile eines gesunden Lebens fest etabliert. Dabei wird Bewegung häufig als positiv und belohnend wahrgenommen. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass sich Personen so viel bewegen oder sportlich betätigen, dass dies zu physischer und psychischer Last wird. Sind diese Personen von einer Sport- oder Bewegungssucht betroffen? Und sind sogenannte Verhaltenssüchte von substanzgebundenen Suchtformen zu differenzieren?</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>In Fallstudien, qualitativen Untersuchungen und den populären Medien wird von Personen berichtet, die unter suchtähnlichen Symptomen in Bezug auf ihre Bewegungsgewohnheiten leiden.</li> <li>Bewegungssucht gilt noch nicht als psychische Diagnose oder Krankheit, da Studien zu Krankheitsverlauf, beobachteten Symptomen und Störungsbild noch gefragt sind.</li> <li>Es bleibt unklar, ob exzessive Bewegungsgewohnheiten als Begleitsymptom von einer Essstörung oder anderen Störungen zu verstehen sind, wobei gewisse Forschungsgruppen angeben, Essstörungen ausgeschlossen zu haben.</li> <li>Mögliche Merkmale einer Bewegungssucht sind rigide Trainingspläne, die Weiterführung von Training trotz Krankheit und Verletzung und soziale Isolation, welche auf das Trainingspensum zurückzuführen ist.</li> </ul> </div> <p>Seit 1979 wird «exercise addiction» (Bewegungssucht) in der wissenschaftlichen Literatur als eine negative und belastende Verhaltensweise diskutiert.<sup>1</sup> Diverse Fallstudien berichten von Personen, die ihre beruflichen und sozialen Verpflichtungen wegen ihres hohen Bewegungspensums nicht erfüllen können, was teilweise zu Berufswechsel, Trennung oder Studienabbruch führt. Des Weiteren setzten diese Personen ihr Training trotz Krankheit oder schwerer Verletzung fort.<sup>2</sup> Sind sie zu einer Pause gezwungen, fühlen sie sich reizbar, nervös und depressiv; der Trainingswiedereinstieg erfolgt dann meist schnell und mit einem hohen Pensum.<sup>3</sup><br /> Parallelen zu den DSM-5- und ICD-10-Kriterien für substanzgebundene Abhängigkeitserkrankungen sind erkennbar, da Toleranzentwicklung, Vernachlässigung von sozialen Kontakten und Entzugssymptome bei betroffenen Personen aufzutreten scheinen.<sup>4</sup> Jedoch gehört Bewegungssucht, wie auch andere mögliche Verhaltenssüchte, darunter Kaufsucht oder Sexsucht, noch nicht zu den im DSM-5 aufgelisteten nicht substanzgebundenen Süchten.<sup>5</sup> Im neuen ICD-11 wird das Phänomen ebenfalls nicht als Verhaltenssucht aufgeführt. Grund dafür ist ein Mangel an fundierten Studien.<br /> Die bisherige Forschungslage umfasst weit über 100 Querschnittsstudien zum Phänomen. Trotzdem wird die aktuelle Evidenzlage für Bewegungssucht als eine Form der Verhaltenssucht als schwach betrachtet. Ein Grund dafür ist, dass aktuelle Messinstrumente zur Prävalenz von Bewegungssuchtgefährderung nur unzureichend bis gar nicht zwischen motivierten Sportlern und Personen mit psychischen Auffälligkeiten differenzieren können.<sup>6</sup> Dieses Problem scheint darauf zurückzuführen zu sein, dass eine konkrete Definition und etablierte Kriterien für Verhaltenssüchte im Allgemeinen noch erarbeitet werden müssen.<sup>7</sup> Dies hat zur Folge, dass die aktuell eingesetzten Messinstrumente lediglich die Kriterien substanzgebundener Suchterkrankungen anpassen, ohne sich auf grundlegende Untersuchungen an betroffenen Personen und deren Symptome zu stützen.<sup>8</sup><br /> Ein weiterer Aspekt ist die theoretische Einteilung der Bewegungssucht in eine primäre und in eine sekundäre Form.<sup>9</sup> Bei einer primären Bewegungssucht stehen die Bewegung selber und die damit verbundenen positiven Gefühle im Vordergrund. Eine sekundäre Bewegungssucht charakterisiert sich hingegen durch ein übergeordnetes Ziel, wie beispielsweise Gewichtsverlust, die Linderung depressiver Symptome oder für Personen, die von ADHS betroffen sind, einen Ausgleich. Bewegung wird dabei vermutlich eher zwanghaft ausgeführt, um befürchtete negative Konsequenzen zu vermeiden. Bei der primären Form ähneln die Symptome und Verhaltensweisen viel eher einer substanzgebundenen Sucht, da Belohnungsgefühle im Vordergrund stehen.<sup>10</sup><br /> Einige Forschungsgruppen akzeptieren diese Spaltung zwischen einer primären und einer sekundären Form allerdings nicht. Sie gehen davon aus, dass exzessive Bewegung lediglich als Begleitsymptom einer anderen Störung auftritt.<sup>11</sup> Typischerweise werden Essstörungen wie Magersucht, Bulimie und Orthorexie als Hauptdiagnosen erwähnt. Dies stellt einen weiteren Grund für die fehlende Einstufung von exzessiver Bewegung als Verhaltenssucht dar. Störungen wie Anorexia athletica, bei der das Gewicht durch zu geringe Energiezufuhr und ein hohes Trainingspensum mit dem Fokus auf sportliche Leistung kontrolliert wird,<sup>12</sup> oder Muskeldysmorphie, <sup>13</sup> bei der aufgrund eines verzerrten Körperbilds bei einem hohen Trainingspensum Kraft trainiert wird, erleichtern bestehende Unklarheiten selbstverständlich nicht.<br /> Es gibt jedoch zahlreiche Studien, welche suchtähnliche Charakteristiken und Verhaltensweisen bei möglicherweise betroffenen Personen dokumentieren.<sup>14</sup> Dass diese Personen aufgrund eines rigiden Trainingspensums unter psychischen Problemen leiden können, scheint gut belegt zu sein. Die meisten Forscher scheinen sich zudem darauf geeinigt zu haben, dass dieses Verhalten nicht nur als Begleitsymptom zu verstehen ist. Der theoretische Hintergrund, welcher die Diskussion rund um Verhaltenssüchte untermauert, bietet verschiedene Modelle und Definitionen an, um die Unterschiede zwischen substanzgebundenen und substanzungebundenen Süchten zu verdeutlichen. Ein führendes Modell, die sogenannte I-PACE (Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution), betont die Relevanz verhaltensspezifischer Symptome, die nicht zum Störungsbild der substanzgebundenen Süchte gehören, aber dennoch von Relevanz sind.<sup>15</sup> So müsste bei Bewegungssucht beispielsweise das schlechte Gewissen, das auftritt, wenn ein Training nicht wie geplant durchgeführt werden kann, betrachtet werden. Die rigiden Strukturen, Pläne und Rituale, welche Bewegungsgewohnheiten begleiten können, sind ebenfalls nicht direkt mit substanzgebundenen Süchten zu vergleichen. Deshalb bevorzugen und verfolgen verschiedene Forschungsgruppen eine neue Konzipierung von Verhaltenssüchten, welche diese verhaltensspezifischen und belastenden Symptome beinhalten.<sup>16</sup><br /> Einen letzten Hinweis bezüglich des suchtartigen Charakters von exzessiver Bewegung liefern die wenigen neurobiologischen Studien, die in diesem Feld bereits durchgeführt wurden. Nur eine der Studien weist darauf hin, dass die Belohnungszentren im Gehirn bei der Präsentation von bewegungsbezogenen Stimuli aktiviert werden.<sup>17</sup> Es gilt allerdings zu betonen, dass die zwei weiteren negativen Studien mit Personen, welche an Anorexia nervosa erkrankt oder nur wenig sportlich sind, durchgeführt wurden, weshalb die Evidenzlage wenig robust ist. Bei anderen Verhaltenssüchten wie Glücksspielen wurden Verschlechterungen der inhibitorischen Kontrolle sowie eine Substanzsucht- ähnliche Reaktivität auf Stimulusbilder festgestellt. Da bisher nur wenig über die belohnende Wirkung von Bewegung bekannt ist, sollten weitere Studien in diesem Bereich umgesetzt werden.<br /> Unklar bleibt, ob und inwiefern sich Personen mit bewegungsgebundenen psychischen Symptomen bei Hausärzten oder Psychologen vorstellen. Therapien werden in einigen, meist privaten Kliniken angeboten. Symptome, worauf Ärzte achten sollten, sind rigide Trainingsgewohnheiten, die Vernachlässigung sozialer Kontakte und die Weiterführung des Trainings trotz Krankheit oder Verletzung.<sup>18</sup> Bei Äusserung dieser Symptome sollte ein Screening über andere psychische Erkrankungen, besonders Essstörungen, vorgenommen werden, danach kann eine Verweisung zu einem geeigneten Spezialisten erfolgen.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Morgan WP: Negative addiction in runners. Phys Sportsmed 1979; 7(2): 55-77 <strong>2</strong> Freimuth M et al.: Clarifying exercise addiction: differential diagnosis, co-occurring disorders, and phases of addiction. Int J Environ Res Public Health 2011; 8(10): 4069 <strong>3</strong> Allegre B et al.: Definitions and measures of exercise dependence. Addiction Research & Theory 2006; 14(6): 631-46 <strong>4</strong> Griffiths M: Exercise addiction: a case study. Addiction Research 1997; 5(2): 161-8 <strong>5</strong> Potenza MN: Non-substance addictive behaviors in the context of DSM-5. Addict Behav 2014; 39(1): 1-2 <strong>6</strong> Colledge F et al.: Does exercise addiction exist? A brief review on current measurement tools and future directions. Mental Health and Addiction Research 2019; 4: 1-4 <strong>7</strong> Kardefelt- Winther D et al.: How can we conceptualize behavioural addiction without pathologizing common behaviours? Addiction 2017; 112(10): 1709-15 <strong>8</strong> Billieux J et al.: Are we overpathologizing everyday life? A tenable blueprint for behavioral addiction research. J Behav Addict 2015; 4(3): 119-23 <strong>9</strong> Veale DMWC: Exercise Dependence. Br J Addict 1987; 82(7): 735-40 <strong>10</strong> Berczik K et al.: Exercise addiction: symptoms, diagnosis, epidemiology, and etiology. Subst Use Misuse 2012; 47(4): 403-17 <strong>11</strong> Bamber DJ: Diagnostic criteria for exercise dependence in women. Br J Sports Med 2003; 37(5): 393-400 <strong>12</strong> Sudi K et al.: Anorexia athletica. Nutrition 2004; 20(7-8): 657-61 <strong>13</strong> Leone JE et al.: Recognition and treatment of muscle dysmorphia and related body image disorders. J Athl Train 2005; 40(4): 352-9 <strong>14</strong> Cook B et al.: Exercise addiction and compulsive exercising: relationship to eating disorders, substance use disorders, and addictive disorders. Eating disorders, addictions and substance use disorders: Research, clinical and treatment perspectives. New York, NY, US: Springer Verlag Publishing; 2014 <strong>15</strong> Brand M et al.: The Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model for addictive behaviors: update, generalization to addictive behaviors beyond internet-use disorders, and specification of the process character of addictive behaviors. Neurosci Biobehav Rev 2019; 104: 1-10 <strong>16</strong> Ko CH, Yen JY: Commentary on: Are we overpathologizing everyday life? A tenable blueprint for behavioral addiction research. Excessive behaviors are not necessarily addictive behaviors. J Behav Addict 2015; 4(3): 130-1 <strong>17</strong> Cheval B et al.: Behavioral and neural evidence of the rewarding value of exercise behaviors: a systematic review. Sports Med 2018; 48(6): 1389-404 <strong>18</strong> Henkel K, Schneider F: Psychische Erkrankungen bei Leistungssportlern. Sports Orthopaedics and Traumatology, Sport- Orthopädie – Sport-Traumatologie 2014; 30(4): 339-45</p>
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