© peterschreiber.media - stock.adobe.com

Wie ist die Evidenzlage?

Hirnstimulationsverfahren als Therapiesäule bei affektiven Störungen

Auf dem Gebiet der Hirnstimulation sind die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) und die transkranielle Magnetstimulation (TMS) bei der Behandlung affektiver Störungen gut etabliert. Aber auch für die Anwendung besonders der EKT in anderen Bereichen wie Depression, Angst-, Stress- und Traumafolge-Symptomen gibt es gute Evidenzen aus Studien und praktischer Erfahrung.

Prof. Dr. med. Annette Brühl, Chefärztin des Zentrums für Affektive, Stress- und Schlafstörungen (ZASS) und Zentrum für Alterspsychiatrie (ZAP) der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel (UPK), hielt einen Vortrag zum aktuellen Stand der Praxis von Hirnstimulationen. Der engere Rahmen war ein Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) unter dem Thema «Update affektive Störungen». Die SGAD versteht sich als Informationsplattform und Anlaufstelle für Betroffene, Angehörige, Ärzt:innen, Fachpersonen, Medien, Unternehmen und Politik.

EKT und TMS haben mittlerweile höchste Empfehlungsgrade

Von den bekannten Hirnstimulationsverfahren sind bislang nur die TMS und EKT so weit untersucht, dass man insbesondere bei Depression von hoher Evidenz sprechen kann (Tab. 1), erläuterte Brühl.1 In der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) für Depression von 2022 ist die repetitive (rTMS) bereits als «Kann»-Empfehlung bei Nichtansprechen auf das erste verordnete Antidepressivum enthalten. Bei Nichtansprechen auf weitere Therapieschritte hat die EKT den höchsten Empfehlungsgrad erhalten. Sie soll Patient:innen bei therapieresistenten depressiven Episoden angeboten werden, insbesondere im höheren Lebensalter oder bei psychotischer Symptomatik. «Speziell bei Patient:innen über 75 Jahre, nihilistischem Wahn und schwerer Depression würde ich garantieren, dass Ihnen diese zwei Wochen nach EKT lächelnd auf dem Gang entgegenkommen», bemerkte Brühl, «obwohl ich sonst nie etwas garantiere».

Tab. 1: Hirnstimulationsverfahren und deren Evidenzstatus gemäss Leitlinien

Für die EKT nennt auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) inzwischen eine Reihe von Indikationen: neben unipolarer Depression und depressivem Syndrom auch Schizophrenie und schizoaffektive Syndrome, bipolare affektive Störungen mit depressiven und manischen Syndromen und Mischzustände sowie delirante Manie und delirante Depression. Weiterhin auch katatone Syndrome sowie therapieresistente schwere Verhaltensstörungen wie etwa (Auto)Aggression oder Autismus-Spektrum-Störungen, Autoimmunenzephalitis mit therapieresistenten schweren Symptomen, therapieresistentes Parkinson-Syndrom, therapierefraktärer Status epilepticus und therapieresistente delirante Syndrome inklusive Benzodiazepin- oder Barbiturat-Entzugsdelirien.2

Die Wirksamkeit der elektrokonvulsiven Therapie sei, gemessen am klinischen Gesamteindruck, «durch die Bank gut», berichtete Brühl aus eigenen Erfahrungen. Insbesondere katatone Patient:innen seien bereits nach einer einzigen EKT-Anwendung oft aufgetaut. Lediglich bei depressiven Patient:innen käme es häufig zu kognitiven Defiziten, bei ihnen weise das Gedächtnis dann Lücken auf. Trotzdem käme es aber auch bei ihnen zu einem Anstieg der persönlich empfundenen Lebensqualität.3 Auch die Lebenserwartung zeigte sich in einer Studie mit älteren Patient:innen nach EKT-Anwendungen höher als bei entsprechenden Kontrollpersonen, was die Autor:innen auf eine geringere Suizidrate zurückführten.4

Depression ist eine der Hauptindikationen für EKT

Prädiktoren für das Ansprechen auf EKT sind für Brühl Menschen mit Depressionen von kurzer Episodendauer, mit wenig Vormedikationsversuchen, psychotischen, aber wenig melancholischen Symptomen und höherem Lebensalter. Unerheblich sind dabei das Geschlecht, das Alter zu Beginn der Depression, die Anzahl der Episoden und die Symptomschwere und Bi- oder Unipolarität sowie Komorbiditäten. Letztere, wie etwa PTSD, Angst- oder Persönlichkeitsstörung, kann die EKT allerdings vermutlich nicht verbessern. «Die Depression verschwindet, die Komorbiditäten bleiben», fasste Brühl zusammen. «Ist ein Patient depressiv und ängstlich, bleibt die Angst. Ist er ängstlich-depressiv, wird sich auch die Angst verringern.»

«In der Anwendung kommt es auf gute Aufklärung der Patienten, Erfahrung, solide Technik und die enge Zusammenarbeit mit einweisenden Niedergelassenen an», reagierte Brühl auf eine Frage aus dem Auditorium. «Wenn ein therapieresistenter Patient mit Depression nach EKT in der Klinik in guter Stimmung zu seinem Betreuer zurückkehrt, ist das die beste Werbung für diese Methode.“

Anwendungen der repetitiven TMS durch spezialisierte Zentren

Die rTMS hat einen hohen Empfehlungsgrad bei therapieresistenten depressiven Episoden, wobei die Auswahl der rTMS-Methode, also den Ort und die Art der Stimulation, unbedingt durch ein spezialisiertes Zentrum erfolgen soll. Bei bisher unbehandelten chronischen Depressionen soll aktuell wie bei akuten depressiven Episoden vorgegangen werden, auch bei Nichtansprechen auf die Therapie, beides mit höchstem Empfehlungsgrad. Eine Metaanalyse zeigte positive Effekte einer bestimmten Methode (LF-R DLPFC) bei posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS).5 Auch bei generellen Angststörungen und Panikattacken gibt es einige wenige Studien mit positiven Effekten.

Neuerungen in der ICD-11-Codierung affektiver Störungen

«Jeder Therapie muss eine möglichst genaue Diagnose der Entitäten Depression, Angst und Stress- bzw. Traumafolge-Symptomatik vorausgehen», erläuterte Brühl. Dabei sollen sowohl die Grenzen als auch die Mischformen und Übergänge zwischen diesen Entitäten festgelegt werden. Die aktuelle ICD-11-Codierung bietet dafür gerade im Bereich der depressiven Störungen eine schärfere Unterteilung in Komorbiditäten wie etwa schnelle Zyklen, Melancholie und Kombinationen mit Angststörungen, Panikattacken bei affektiven Episoden oder saisonalem Beginn. Die verminderte Energie oder Müdigkeit, die bisher als Hauptsymptom galt, wird in ICD-11 als Nebensymptom der Depression eingeordnet. Bei den Schweregraden steht nicht mehr die Anzahl, sondern die Auswirkung der vorhandenen Symptome auf das tägliche Leben der Patienten im Mittelpunkt.

Bei den Angststörungen sind in ICD-11 die Trennungsangst auch bei Erwachsenen und bei den spezifisch stressassoziierten Störungen hauptsächlich die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) dazugekommen. Letztere wird bisher meist als Borderline- bzw. instabile Persönlichkeitsstörung diagnostiziert.

Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP), Vortrag von Prof. Dr. med. Annette Brühl, 8. September 2023, Bern

1 Mutz J et al.: Comparative efficacy and acceptability of non-surgical brain stimulation for the acute treatment of major depressive episodes in adults: systematic review and network meta-analysis. BMJ 2019; 27: 364: 1079 2 https://www.dgppn.de : Stellungnahme zur EKT 3 Tor PC et al.: Comparative outcomes in electroconvulsive therapy (ECT): A naturalistic comparison between outcomes in psychosis, mania, depression, psychotic depression and catatonia. Eur Neuropsychopharmacol 2021; 51: 43-54 4 Rhee TG et al.: Association of ECT with risks of all-cause mortality and suicide in older medicare patients. Am J Psychiatry 2021; 178(12): 1089-97 5 Rosson et al.: Brain stimulation and other biological non-pharmacological interventions in mental disorders: An umbrella review. Neuroscience & Biobehav Rev 2022; 139: 104743

Back to top