
Hilfe aus dem Pflanzenreich
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30.11.2017
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<p class="article-intro">Therapieadhärenz ist einer der Schlüsselfaktoren für einen Behandlungserfolg – die Rücksichtnahme auf die Ängste und Wünsche des Patienten im Sinne eines «shared decision making» bei der Therapiewahl ist daher unerlässlich. Immer wieder äussern Patienten Vorbehalte gegenüber synthetischer Medikation bzw. setzen diese ab, sobald unerwünschte Wirkungen auftreten. Dass pflanzliche Wirkstoffe hier eine interessante Option sein können, zeigte Prof. Dr. med. Martin Hatzinger, Direktor und Chefarzt Psychiatrische Dienste soH, beim Jahreskongress der SGPP 2017.</p>
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<p class="article-content"><p>Die wirtschaftliche Belastung allein durch Depressionen in der Bevölkerungsgruppe im Alter von 18 bis 65 Jahren in der Schweiz beträgt mehr als 8 Milliarden Euro pro Jahr.<sup>1</sup> Eine frühe und adäquate Behandlung ist deshalb nicht zuletzt auch angesichts der ökonomischen Bedeutung dieser Erkrankung zentral. Dabei spielt die positive Mitwirkung des Patienten in der Therapie von Anfang an eine sehr wichtige Rolle. Da oft Vorbehalte gegenüber synthetischen Präparaten bestehen, stellen hier Phytotherapeutika – als Erstlinientherapie oder unterstützende Massnahme – eine willkommene Ergänzung im therapeutischen Armamentarium dar. In der Psychiatrie können Phytotherapeutika bei einer Vielzahl von Erkrankungen (bei kognitiven Störungen, Burnout, Schlafstörungen etc.) eingesetzt werden. Im Folgenden soll auf ihren Stellenwert in der Therapie von Angsterkrankungen und Depression näher eingegangen werden.</p> <h2>Phytotherapeutika bei Depression</h2> <p>Der Extrakt aus Johanniskraut (Hypericum perforatum) setzt sich aus verschiedenen Inhaltsstoffen zusammen. Eine therapeutische Wirksamkeit wird vor allem Hyperforin, Hypericin und Hyperosid zugeschrieben. Nationale sowie internationale Leitlinien empfehlen den Einsatz hochwertiger Johanniskrautextrakte als First-Line-Therapie bei leichten bis mittelschweren Depressionen.<sup>2, 3</sup> In der Schweiz sind deshalb auch mehrere Präparate für diese Indikation durch die Swissmedic zugelassen.<br /><br /> <strong>Gute Studienlage in der Depressionsbehandlung</strong><br /> Die therapeutische Äquivalenz hochwertiger Johanniskrautextrakte im Vergleich zu synthetischen Antidepressiva bei der Akutbehandlung von leichten bis mittelschweren Depressionen wurde in mehreren Studien bestätigt. Eine Cochrane- Metaanalyse von 29 randomisierten Studien (mehr als 5000 Patienten, die zwischen 4 und 12 Wochen behandelt wurden) ergab eine Überlegenheit von Hypericum perforatum gegenüber Placebo und eine vergleichbare Wirksamkeit wie unter SSRI oder trizyklischen Antidepressiva.<sup>4</sup> Eine weitere Übersichtsarbeit aus 2010 bestätigt diese Resultate unter Einbezug aktueller Studien.<sup>5</sup><br /><br /> <strong>Kaum Nebenwirkungen, aber Interaktion mit Medikamenten</strong><br /> Hypericum ist äusserst nebenwirkungsarm – die Rate an unerwünschten Wirkungen ist vergleichbar mit Placebo. Darüber hinaus treten unerwünschte Wirkungen unter Einnahme von Johanniskrautextrakt (600–1800mg/Tag) wesentlich seltener auf als zum Beispiel unter Paroxetin (20–40mg/Tag) oder anderen SSRI.<sup>6</sup> Johanniskrautextrakt zeigt keine sedativen Effekte, löst keine anticholinergen Reaktionen aus und führt auch nicht zu gastrointestinalen Problemen oder sexuellen Dysfunktionen. Es bietet daher eine valide Behandlungsalternative für die Akut- und Langzeittherapie der Depression auf pflanzlicher Basis und eignet sich insbesondere für Patienten, bei denen die Akzeptanz von synthetischen Medikamenten wegen ihrer Nebenwirkungsprofile sehr gering ist.<sup>5</sup><br /><br /> Zu beachten sind allerdings mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Hypericum induziert Enzyme des Cytochrom-P450-Systems (v.a. CYP3A4) und des p-Glykoprotein-Transportsystems. Dies kann zur Reduktion von Plasmaspiegeln, Wirkungen oder Wirksamkeiten anderer, gleichzeitig eingenommener Wirkstoffe führen. Betroffen von dieser Interaktion sind manche Immunsuppressiva und Zytostatika, Antidepressiva, Antikoagulanzien, hormonale Kontrazeptiva, Methadon, HIV-Medikation etc.<sup>7</sup></p> <h2>Phytotherapeutika bei Angsterkrankungen</h2> <p>Seit Langem werden in der Psychiatrie pflanzliche Präparate zur Beruhigung und Angstlösung eingesetzt. So existiert heute eine Vielzahl von Präparaten – sei es als Einzelpräparat oder in Kombination – mit Extrakten von Baldrian (Valeriana officinalis), Hopfenzapfen (Lupuli strobulus), Melissenblättern (Melissae folium) oder Passionsblumenkraut (Passiflorae herba). Seit Kurzem ist in der Schweiz auch Lavendelöl (Lavandula angustifolia, Syn. Lavandula officinalis) für die Indikation «Ängstlichkeit und Unruhe » zugelassen. Zu den wichtigen therapeutischen Inhaltsstoffen des Lavendelöls zählen Linalol und Linalylacetat. Die Wirksamkeit von Lavendelöl bei Angsterkrankungen wurde in verschiedenen Studien sowohl im Vergleich mit Placebo als auch mit synthetischen Medikamenten bewiesen. In 15 randomisierten, kontrollierten klinischen Studien mit insgesamt rund 2200 Patienten wurde die Wirkung untersucht. Sieben davon bestätigen die Wirkung von Lavendelöl im Vergleich mit der Kontrolle in mindestens einem relevanten Parameter.<sup>8</sup><br /><br /> Die anxiolytische Wirkung von Lavendelöl bei generalisierten Angsterkrankungen (GAD) wurde in einer randomisierten, doppelblinden Studie mit über 539 Patienten untersucht. Beide Dosierungen (80 und 160mg) wurden mit Paroxetin verglichen und es zeigte sich eine Überlegenheit von Lavendelöl gegenüber Paroxetin.<sup>9</sup> Auch im Vergleich mit Benzodiazepinen war 80mg Lavendelöl-Präparat, verabreicht über einen Zeitraum von 6 Wochen, in einer Studie genauso effektiv wie 0,5mg Lorazepam bei 77 Patienten mit GAD.<sup>10</sup><br /><br /> Auch die Wirkung von Lavendelöl auf subsyndromale Angststörungen, also Angststörungen, die nicht den konkreten Einschlusskriterien der GAD entsprechen, wurde untersucht. Hier zeigte eine doppelblinde, placebokontrollierte, randomisierte klinische Studie, dass Lavendelöl bei der Behandlung von 221 Patienten mit subsyndromalen Angststörungen gegenüber Placebo signifikant überlegen war.<br /><br /> Lavendelöl verfügt über ein gutes Sicherheitsprofil und zeigt eine bessere Verträglichkeit als Paroxetin<sup>9</sup> – es kann allerdings in manchen Fällen zu allergischen Hautreaktionen oder Sodbrennen kommen. Auch bestehen keine Hinweise darauf, dass Abhängigkeitsphänomene auftreten können.<br /><br /> Zusammenfassend kann man festhalten, dass Phytotherapeutika in der Behandlung von Ängstlichkeit und Unruhe einen nicht zu unterschätzenden Platz einnehmen und eine hilfreiche Ergänzung gerade bei Angstpatienten mit ausgeprägter Angst vor synthetischen Präparaten sein können. Die geringen bis fehlenden Nebenwirkungen sind dabei von grossem Vorteil.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: SGPP Jahreskongress, 13.–15. September 2017, Bern
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Tomonaga Y et al.: The economic burden of depression in Switzerland. Pharmacoeconomics 2013; 31(3): 237-50 <strong>2</strong> S3-Leitlinie/NVL Unipolare Depression, 2. Auflage Version 1, 2015 <strong>3</strong> www.wfsbp.org/pdf/guides <strong>4</strong> Linde K et al.: St John’s wort for major depression. Cochrane Database Syst Rev 2008; (4): CD000448 <strong>5</strong> Kasper S et al.: Efficacy and tolerability of Hypericum extract for the treatment of mild to moderate depression. Europ Neuropsychopharmacol 2010; 20: 747-65 <strong>6</strong> Kasper S et al.: Better tolerability of St. John’s wort extract WS 5570 compared to treatment with SSRIs: a reanalysis of data from controlled clinical trials in acute major depression. Int Clin Psychopharmacol 2010; 25(4): 204-13 <strong>7</strong> www.swissmedicinfo.ch <strong>8</strong> Perry R et al.: Is lavender an anxiolytic drug? Phytomedicine 2012; 19(8-9): 825-35 <strong>9</strong> Kasper S et al.: Lavender oil preparation Silexan is effective in generalized anxiety disorder – a randomized, double-blind comparison to placebo and paroxetine. Int J Neuropsychopharmacol 2014; 17(6): 859-69 <strong>10</strong> Woelk H, Schlafke S: A multi-center, double-blind, randomised study of the lavender oil preparation Silexan in comparison to Lorazepam for generalized anxiety disorder. Phytomedicine 2010; 17(2): 94-9</p>
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