
Hat die psychiatrische Diagnose eine Zukunft?
Autoren:
Prof. em. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff
Dr. phil. Johannes Simon Vetter
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
E-Mail: paul.hoff@pukzh.ch
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Kritische Töne begleiten die psychiatrische Diagnostik, seit es sie gibt. In den letzten Jahren gewinnt eine aus den Reihen der Wissenschaft stammende Kritik an Einfluss, wonach tradiert-etablierte diagnostische Entitäten ausgedient hätten und durch neue, daten- und technologiegetriebene Ansätze abzulösen seien. Kann eine zielführende Verknüpfung dieser Konzepte mit der psychopathologischen Denktradition gelingen?
Eine Debatte, die die Psychiatrie seit jeher begleitet
In kaum einem Feld der Medizin dürften Kontroversen über den diagnostischen Prozess von derart grundsätzlicher Natur sein wie in Psychiatrie und Psychotherapie. Drei Gründe dafür seien genannt:
-
Das Fach steht einem ausserordentlich komplexen Forschungsgegenstand gegenüber, der psychisch erkrankten Person, die ja gerade kein Gegenstand im engeren Sinne ist, kein vollständig quantifizierbares Objekt, sondern ein in lebensgeschichtliche, soziale und kulturelle Kontexte eingebettetes Gegenüber.
-
Zwischen Gesellschaft und Psychiatrie besteht eine ambivalente Beziehung. Dieselbe Gesellschaft, die das Fach beauftragt, Menschen in psychischen Krisen zu erkennen und zu behandeln, betrachtet es, auch im 21. Jahrhundert, mit merklicher Distanz, ja Skepsis. Diese speist sich nicht zuletzt aus einem Misstrauen gegenüber Diagnosen, die – so die schärfste Fassung «antipsychiatrischer» Kritik – zu einer unkritischen Legitimation von Ausgrenzung und Stigmatisierung beitrügen und aus der Psychiatrie eine soziale Kontrollinstanz machten.1
-
Zwischen aktuellen Forschungsparadigmen und etablierter Diagnostik hat sich ein Graben aufgetan: Sind wir, so die drängende Frage, mit diagnostischen Entitäten wie etwa «Schizophrenie», die meist aus dem frühen 20. Jahrhundert stammen und sich prominent in den heutigen Diagnosemanualen finden, noch auf dem richtigen Weg? Oder werden sie nicht mittlerweile zu einem veritablen Forschungshindernis?
Operationalisierte psychiatrische Diagnostik gemäss ICD-10 und DSM-5: Fortschritt oder Sackgasse?
Treibende Kraft für die Entwicklung dieser Manuale war das Bedürfnis, die Reliabilität psychiatrischer Diagnosen nachhaltig zu erhöhen: 1980 erschien das DSM III der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA)2 und 1992 die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO)3. Die Anfang 2022 in Kraft getretene Nachfolgeversion ICD-114 weicht zwar die straffe Operationalisierung auf, bleibt aber manchen tradierten Konzepten verpflichtet*, vor allem der Kraepelinschen Dichotomie schizophrener und affektiver Erkrankungen5.
Hier setzt die Kritik an: Gefordert wird ein «transdiagnostischer» Zugang, der sich nicht unhinterfragt an etablierte Diagnosen bindet, sondern unabhängig von diesen sämtliche heute verfügbaren Untersuchungsmethoden wie zerebrale Bildgebung, Neurophysiologie, Neuropsychologie und Molekulargenetik einsetzt. Das Konzept der «Research Domain Criteria»6 will auf diese Weise «Cluster» (nicht: Diagnosen!) bilden, die neurobiologisch markant homogener seien als die auf dem psychopathologischen Befund beruhenden ICD-10- und DSM-5-Diagnosen.7 Dies werde die Entwicklung effizienterer Therapiemethoden fördern.
Einem zweiten intensiv diskutierten, konsequent datenbasierten Ansatz, «Hierarchical Taxonomy of Psychopathology» (HiTOP), geht es um die innere Struktur der psychopathologischen Ebene. Er generiert komplexe Hierarchien von «Spectra» wie Internalisierung oder Denkstörungen bis hin zu einzelnen Symptomen.8 HiTOP hat dabei speziell die prädiktive Validität hinsichtlich Chronizität, funktioneller Beeinträchtigung und Ansprechen auf Behandlungsmethoden im Blick.9,10
Es ist nicht übertrieben, diese ICD- und DSM-kritische Grundsatzdebatte als Megatrend zu bezeichnen. Diesen repräsentieren neue Begriffe wie «transdiagnostisches Vorgehen», «Computational and Dimensional Psychiatry», «Big Data», «Deep Learning», «Social Neuroscience» oder «digitaler Phänotyp».11 Wie aber kann eine Verbindung gelingen zwischen daten- und technologiegetriebener Innovation einerseits und substanzieller Denktradition andererseits?
Blick nach vorne: personzentrierte Psychopathologie als tragfähiger Rahmen für die zukünftige psychiatrische Diagnostik
Wissenschaftliche Positionen gering zu schätzen, nur weil sie in einer komplexen psychopathologischen Denktradition stehen, ist nicht akzeptabel. In einem solchen Fall übersähe man markante Veränderungen im Selbstverständnis der Psychiatrie, die vor und damit unabhängig von dem erwähnten Megatrend eingetreten sind:
-
Neben der Erfassung aktueller Symptome spielt die funktionale Ebene, also die Erlebens- und Handlungsfähigkeit der betroffenen Person im Alltag, heute eine zentrale Rolle.
-
Das paternalistische Ideal der Compliance von ärztliche Anordnungen befolgenden Patient*innen wurde abgelöst von personzentrierten Konzepten wie Adherence und Alliance, was, frei übersetzt, einem «Arbeitsbündnis auf Augenhöhe» entspricht.
-
Über krankheitsbedingte Defizite und Behinderungen hinaus achtet das Fach heute auf die auch bei schweren und chronischen Erkrankungen vorhandenen Ressourcen und setzt sie gezielt therapeutisch ein (Stichworte: «Recovery», «Empowerment»).
Um diese Debatte voranzutreiben, müssen wir das Rad nicht neu erfinden. So hat Karl Jaspers (1883–1969), eine zentrale Figur in der psychiatrischen Ideengeschichte, Wege zu einer klugen Verknüpfung der diversifizierten Theorienlandschaft des Faches aufgezeigt: Psychiatrie war für ihn, auch wenn er andere Begriffe benutzte, eine interpersonal konstellierte Handlungswissenschaft. Im Kern, und das sind nun einmal Diagnostik und Behandlung, geht es dabei um die Passung von Expertenwissen einerseits und dialogisch verfasster therapeutischer Beziehung andererseits.12,13
Die Rolle der methodenkritischen Metaebene könnte eine weiter gefasste Psychopathologie einnehmen. Sie wäre eine perspektivenübergreifende Klammer, ein undogmatischer Reflexionsraum, der von der deskriptiven Symptomatologie über das Verstehen psychischer und sozialer Zusammenhänge bis zur wissenschaftstheoretischen Ebene reicht, die die jeweiligen Methoden, sei es Molekularbiologie oder Hermeneutik, immer wieder neu hinterfragt und miteinander ins Gespräch bringt.14,15
Eine im psychiatrischen Denken verankerte selbstreflexive Instanz, die verhindert, dass das viel zitierte «bio-psycho-soziale Modell» zu einer blossen Worthülse wird,16 ist nötiger denn je. Ihr wäre ein nachhaltiger Brückenschlag zwischen Innovation und Tradition zuzutrauen, auch um damit den zentrifugalen Kräften entgegenzutreten, die von der wachsenden Zahl hoch spezialisierter, aber mit unterschiedlichen wissenschaftlichen «Sprachen» operierender psychiatrischer Subdisziplinen ausgehen.
Nur eingebettet in einen solchen Kontext hat – um die Titelfrage zu beantworten – die psychiatrische Diagnostik eine Zukunft.
* ICD-11 ist eine Kompromisslösung: Der Ansatz ist weder rein kategorial noch rein dimensional, räumt ätiologischen Faktoren einen deutlich grösseren Stellenwert ein als ICD-10 und anerkennt explizit die Bedeutung kultureller und sozialer Faktoren sowohl für die Entstehung wie auch für die Diagnostik psychischer Störungen.17 Eine detaillierte Analyse der ICD-11 kann hier nicht Gegenstand sein.
Quelle:
Der Artikel ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung eines am SGPP-Kongress 2021 gehaltenen Vortrages.
Literatur:
1 Szasz TS: The Myth of Mental Illness. London: Paladin, 1972 2 American Psychiatric Association (APA): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 3rd ed. (DSM III). Washington, DC: APA Press, 1980 3 World Health Organisation (WHO): Tenth Revision of the International Classification of Diseases, chapter V (F): Mental and behavioural disorders (including disorders of psychological development). Clinical descriptions and diagnostic guidelines. Geneva: WHO, 1992 [deutsch (1992): ICD-10. Bern, Göttingen, Toronto: Huber] 4 World Health Organisation (WHO): ICD-11: International Classification of Diseases for Mortality and Morbidity Statistics. Eleventh Revision. Reference Guide. Geneva: WHO, 2019 5 Hoff P, Vetter JS: Diagnostik und Klassifikation psychischer Störungen. In: Claussen M, Seifritz E (Hrsg.): Lehrbuch der Sportpsychiatrie und -psychotherapie. Bern: Hogrefe (2022, im Druck) 6 Insel TR et al.: Research Domain Criteria (RDoC): toward a new classification framework for research on mental disorders. Am J Psychiatry 2010; 167: 748-51 7 American Psychiatric Association (APA): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 5th ed. (DSM-5). Arlington, VA: APA Press, 2013 8 Krueger RF et al.: Progress in achieving quantitative classification of psychopathology. World Psychiatry 2018; 17: 282-93 9 Kotov R et al.: The Hierarchical Taxonomy of Psychopathology (HiTOP): a dimensional alternative to traditional nosologies. J Abnorm Psychol 2017; 126: 454-77 10 Kotov R et al.: A paradigm shift in psychiatric classification: the Hierarchical Taxonomy Of Psychopathology (HiTOP). World Psychiatry 2018; 17: 24-25 11 Heinz A: A New Understanding of Mental Disorders: Computational Models for Dimensional Psychiatry. Cambridge, MA: MIT Press, 2017 12 Jaspers K: Allgemeine Psychopathologie. Berlin: Springer, 1913 13 Hoff P et al.: Diagnosis as dialogue: historical and current perspectives. Dialogues Clin Neurosci 2020; 22: 27-35 14 Hoff P: Do social psychiatry and neurosciences need psychopathology – and if yes, what for? Int Rev Psychiatry 2008; 20: 515-20 15 Stanghellini G, Broome MR: Psychopathology as the basic science of psychiatry. Brit J Psychiatry 2014; 205: 169-70 16 Ghaemi SN: The rise and fall of the biopsychosocial model. Brit J Psychiatry 2009; 195: 3-4 17 Reed GM et al.: Innovations and changes in the ICD-11 classification of mental, behavioural and neurodevelopmental disorders. World Psychiatry 2019; 18: 3-19