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Präventionsstrategien und Handlungsempfehlungen im Kontext von Zwang

«Zwang ist Zwang ist Zwang» – oder etwa nicht?

Seit der Etablierung der Psychiatrie als medizinisches Fachgebiet befindet sich diese in einem kontinuierlichen Prozess der strukturellen und inhaltlichen Veränderung. Neben dem evidenzbasierten Vorgehen erhält nun auch das wertebasierte Vorgehen mehr Gewicht in der Behandlungsplanung. Das betrifft auch das Thema «Zwang» in der Psychiatrie.

Keypoints

  • Trotz der steigenden Bedeutung evidenzbasierter Diagnostik und Behandlung wird weiterhin Zwang in Psychiatrie und Medizin unter der Prämisse der «Fürsorge» angewandt.

  • Die subjektive Einordnung von Zwang durch Patientinnen und Patienten sowie Fachpersonen erhält neben der objektiven Einordnung zunehmend Gewicht.

  • Gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten ist nicht gleichzusetzen mit psychiatrischer Behandlungsbedürftigkeit.

  • Präventionsstrategien benötigen eine solidarische Kooperation der Akteure innerhalb und ausserhalb des psychiatrischen Systems.

  • Zur langfristigen Reduktion von Zwang ist eine einheitliche Dokumentations- und Berichtskultur bei der Anwendung von restriktiven Behandlungsmethoden essenziell.

  • Kommunikations- und Präventionskurse in der Grundausbildung stellen eine Voraussetzung für eine flächendeckende Reduktion von Zwang in der Psychiatrie und Medizin dar.

Basierend auf dem normativen Wandel in der Gesellschaft ist das Konzept der «Autonomie» in westlichen Gesellschaftsformen handlungsführend geworden und prägt damit Erwartungen und Annahmen, was das jeweilige Gegenüber tun würde oder sollte. Mit der Gewichtung der «Autonomie» hat sich allerdings auch das Spannungsfeld zum Konzept der «Fürsorge» und zu den damit einhergehenden Erwartungen verändert.

«Zwang in der Psychiatrie» gleich «Zwang in der Medizin»?

In der modernen Medizin ist es unbestritten, dass Patientinnen und Patienten autonome Entscheidungen bezüglich etwaiger medizinischer Massnahmen verantwortlich treffen können sollen. Fachpersonen aller medizinischer Disziplinen kennen allerdings Konstellationen, in denen eine Willensbildung und -äusserung aus medizinischen Gründen beeinflusst sein kann. Konsekutiv kann es in der Medizin disziplinunabhängig zu Zwangsanwendungen kommen. Eine konsequente Erfassung dieser Zwangsmassnahmen in der Medizin fehlt jedoch weiterhin national und international.

Zwang wird zunehmend kritisch gesehen

Im Zuge dieser Entwicklungen wird die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie und Medizin zunehmend häufiger kritisch reflektiert. Zahlreiche Leitlinien wie zum Beispiel der NICE1 oder der DGPPN2 beschäftigen sich mit den fachlichen und ethisch-rechtlichen Rahmenbedingungen und Präventionsstrategien.

In der Totalrevision des Zivilgesetzbuches wird Zwang in der Schweiz nun auch unter den Bezeichnungen «fürsorgliche Unterbringung», «Behandlung ohne Zustimmung» oder «bewegungseinschränkende Massnahmen» genannt.3 Dementsprechend wurden auch seitens der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) medizinisch-ethische Richtlinien zu «Zwangsmassnahmen in der Medizin»4 sowie von der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) 2024 entsprechende Handlungsempfehlungen publiziert.5

Inhaltlich stehen die zitierten Publikationen nicht in einem Widerspruch zueinander, im Hinblick auf die juristischen Konsequenzen bestehen Unterschiede in der rechtlichen Bindung. National wie international wird eine hohe Varianz bezüglich der publizierten Daten zu Zwangsmassnahmen konstatiert. Die regionalen Unterschiede bezüglich der zur Anwendung kommenden Zwangsmassnahmen und heterogene Dokumentationsregeln stellen auch in der Schweiz in Hinblickauf die evidenzbasierte Entscheidungsfindung ein Problem dar.6,7 Mit dem «Nationalen Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken» (ANQ) stehen allerdings eine schweizweit einheitliche Erfassung und Auswertung in der Akutsomatik, der Rehabilitation und der Psychiatrie zur Verfügung. Somit gibt es nun eine Möglichkeit, die Thematik disziplinenübergreifend zu erfassen.

Nebenwirkung von Zwangsmassnahmen

Zusätzlich zu der Diskussion über die «Geeignetheit» einer Einrichtung, der disziplinunabhängigen Einordnung, «wann ein Zwang ein Zwang» ist und in welchen medizinischen Institutionen Zwang systematisch erfasst werden muss, werden in jüngster Zeit auch die potenziellen unerwünschten Nebenwirkungen wissenschaftlich untersucht.

In der psychiatrischen Behandlung ist die therapeutische Beziehung einer der stärksten Wirkfaktoren für das Behandlungsergebnis. Die therapeutische Beziehung wird allerdings nachhaltig durch das Erleben von Zwangsmassnahmen negativ beeinflusst.8 Auch der Beziehungsaufbau respektive die Aufrechterhaltung der therapeutischen Beziehung wird in der Akutpsychiatrie erschwert. Setting, Eigenschaften der Patientinnen und Patienten sowie des Fachpersonals und die Aufnahmebedingungen spielen dabei eine zentrale Rolle.9

Zu den negativen Effekten von Zwangsmassnahmen führten kürzlich Baggio et al. eine Longitudinalstudie auf Basis einer grossen Schweizer Klinikpopulation durch. Sie beschrieben eine signifikante gesundheitliche Verschlechterung nach Zwangsmassnahmen (Fixierung, Isolierung oder Zwangsmedikation) unabhängig von der Art der Zwangsmassnahme und unterstrichen daher die Notwendigkeit von Alternativstrategien.10

Prävention von Zwang in der Psychiatrie

Die Handlunsgempfehlungen der SGPP zur Prävention von Zwang5 antizipieren diese Problematik und formulieren entsprechende Empfehlungen.

Rahmenbedingungen, innerhalb deren präventive Strategien und Empfehlungen formuliert werden, sind folgende Punkte:

  • Inklusionsbereitschaft der Bevölkerung

  • Spektrum an zugänglichen Behandlungs- und Unterstützungsangeboten

  • klare Trennung der diagnostisch-therapeutischen Aufgaben von den Aufgaben der sozialen Kontrolle

  • präventive und deeskalative Beziehungsarbeit

  • transparente und nachvollziehbare Kommunikation

  • unterstützte Entscheidungsfindung

  • prozedurale Gerechtigkeit

  • kritische Reflexion über die Terminologie

1 National Institute of Clinical Excellence (NICE): NICE Guideline NG10 „Violence and aggression: Short-term management in mental health, health and community settings Updated edition“, British Psychological Society und Royal College of Psychiatrists, London 2015: 1-253 2 Steinert T et al. für die DGPPN. S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggresiven Verhaltens bei Erwachsenen“, Fassung vom 10.09.2018, Ravensburg/Ulm: 1-307. https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/154528053e2d1464d9788c0b2d29 8ee4a9d1cca3/S3%20LL%20Verhinderung%20von%20Zwang%20LANG+LITERATUR%20FINAL%2010.9.2018.pdf (zuletzt aufgerufen am 24.02.25) 3 Zivilgesetzbuch, Art. 426ff, Totalrevision 2013. https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/24/233_245_233/de (zuletzt aufgerufen am 24.02.25) 4 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW): Zwangsmassnahmen in der Medizin, 5. Auflage. Bern 2018: 1-48. https://www.samw.ch/de/Ethik/Themen-A-bis-Z/Zwangsmassnahmen-in-der-Medizin.html (zuletzt aufgerufen am 24.02.25) 5 Jäger M et al.: SGPP-Empfehlungen für die Prävention von freiheitsbeschränkenden Massnahmen in der Psychiatrie. Bern 2024: 1-13. https://www.psychiatrie.ch/fileadmin/SGPP/ user_upload/UEber_Uns/2024-12-11_SGPP_Empfehlungen_ Praevention_Freiheitseinschraenkende_Massnahmen_final.pdf (zuletzt aufgerufen am 24.02.25) 6 Belayneh Z et al.: Prevalence and variability of restrictive care practice use (physical restraint, seclusion and chemical restraint) in adult mental health inpatient settings: a systematic review and meta-analysis. J Clin Nurs 2024; 33(4): 1256-81 7 Jäger M et al.: Kantonale Unterschiede bei der Umsetzung der fürsorgerischen Unterbringung in der Schweiz. Psychiatr Prax 2024; 51(1): 24-30 8 Theodoridou A et al.: Therapeutische Beziehung im Kontext wahrgenommener Nötigung in einer psychiatrischen Population. Psychiatrie Res 2012; 200(2-3): 939-44 9 Bolsinger J et al.: Challenges and opportunities in building and maintaining a good therapeutic relationship in acute psychiatric settings: a narrative review. Front Psychiatry 2020; 10: 965 10 Baggio S et al.: Effect of coercive measures on mental health status in adult psychiatric populations: a nationwide trial emulation. Epidemiology and Psychiatric Sci 2024; 33: e35 11 Theodoridou A, Jäger M: Psychiatry without coercion. Nervenheilkunde 2023; 42: 829-35

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