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Geschlechtsinkongruenz und Genderdysphorie bei jungen Menschen – neue Ansätze in Beratung und Behandlung
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Dagmar Pauli
Chefärztin und Stv. Klinikdirektorin<br> Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie<br> Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
30
Min. Lesezeit
30.11.2017
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<p class="article-intro">Kaum ein Thema wird aktuell so kontrovers diskutiert wie der Umgang mit Geschlechtsinkongruenz bei jungen Menschen. Auf der einen Seite dominieren der Diskurs um die Zunahme der Zahl von Trans*kindern und Trans*jugendlichen und die Fragestellung, wie das soziale Umfeld mit ihrem Wunsch nach einem Rollenwechsel umgehen soll. Auf der anderen Seite werden ethische Fragestellungen im Zusammenhang mit frühen Behandlungen aufgeworfen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Geschlechtsidentität bei Kindern ist noch nicht festgelegt. Gendervariantes Verhalten ist nicht pathologisch.</li> <li>Geschlechtsidentität bei Jugendlichen ist meist stabil.</li> <li>Hormonelle Pubertätsblockade und geschlechtsangleichende Hormonbehandlung können im Jugendalter durchgeführt werden und verbessern bei stabiler Trans*identität das Outcome.</li> <li>Die medizinisch-psychotherapeutische Begleitung konzentriert sich auf begleitende Störungen sowie auf die Unterstützung der Identitätsfindung und allfälliger transitorischer Schritte.</li> </ul> </div> <p>Immer häufiger werden Pubertätsblockaden eingesetzt, und geschlechtsangleichende Hormone werden zunehmend bereits im Jugendalter angewendet. Der hohe Leidensdruck der Betroffenen, deren Geschlechtsidentität nicht dem Körpergeschlecht und der äusseren Zuschreibung entspricht,<sup>1</sup> steht der Besorgnis gegenüber, durch zu frühes Eingreifen Tatsachen zu schaffen.<sup>2</sup> Die Leitlinien der Akademie der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) für Kinder und Jugendliche mit Genderdysphorie sind aktuell in Überarbeitung. Das Vorgehen muss sich an der aktuell noch unzureichenden Studienlage und an einer auf internationalen Expertenmeinungen basierenden und auf den Einzelfall abgestimmten «best practice» orientieren.</p> <h2>Begrifflichkeiten</h2> <p>Die Wahl der Begriffe im Zusammenhang mit Trans* ist bedeutsam für einen respektvollen Umgang mit den Betroffenen. Das * repräsentiert die Vielfalt der möglichen Geschlechtsidentitäten auch ausserhalb der klaren Einteilung in Mann und Frau. Anstatt von Geschlechtsumwandlung wird von Geschlechtsangleichung gesprochen, um zu verdeutlichen, dass es sich um die Anpassung der äusseren Merkmale an die bereits bestehende Identität handelt und nicht um eine Art Verwandlung. Der Begriff Transsexualität wird vom grössten Teil der Betroffenen als unpassend empfunden, da Geschlechtsidentität nicht in direktem Zusammenhang mit Sexualität steht. Daher wird von Trans*identität und Trans*gender mit oder ohne * gesprochen. Transmann bezeichnet eine Person mit männlicher, Transfrau eine Person mit weiblicher Identität. Die Geschlechtsidentität kann von dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht abweichen, welches nicht als das «biologische Geschlecht» definiert wird, da auch die Geschlechtsidentität möglicherweise biologische Grundlagen hat.</p> <h2>Geschlechtsidentität: binäre Grösse oder Spektrum?</h2> <p>Frühere medizinische Paradigmen beruhten klar auf einem binären Mann- Frau-Schema. Die Diagnose Transsexualität gemäss der aktuell noch gültigen ICD-10 beinhaltet demnach den klaren Wunsch, «dem anderen Geschlecht» anzugehören und «den Körper medizinisch so weit wie möglich diesem Geschlecht anzugleichen». Geschlechtsidentitäten zwischen den Polen sind nicht enthalten. Im DSM 5 wird Genderdysphorie bereits definiert als «starker Wunsch, als Angehöriger des anderen (oder eines zum zugewiesenen alternativen) Geschlechts behandelt zu werden» (Tab. 1). Hierin sind Geschlechtsidentitäten zwischen den Polen männlich und weiblich eingeschlossen. In der ICD-11 wird eine Revision in Anlehnung an das DSM 5 erwartet, weshalb wir hier die Kriterien des DSM 5 darstellen, welche den aktuellen Leitlinien und der aktuellen Behandlungspraktik in Europa deutlich mehr entsprechen als die veralteten Kriterien der ICD-10. Bedeutsam ist der Umstand, dass die festgelegten Definitionen in der ICD-10 die Diagnose und einzelne medizinische Massnahmen nur für Personen ermöglichen, die dazu bereit sind, auch sämtliche weiteren möglichen geschlechtsangleichenden Massnahmen durchführen zu lassen.<br /> Seit der diesbezüglichen Variabilität der Behandlungspraxis verzichten zunehmend viele Trans*menschen auf geschlechtsangleichende Operationen. Jahrelang passten die Betroffenen die Schilderungen ihres Erlebens den bestehenden Manualen an, da sie sonst keine Behandlung erwarten durften. Die Identitäten zwischen den Polen Mann und Frau wurden daher im medizinischen Kontext nicht erfasst. Wie viele Menschen ihre Geschlechtsidentität als nichtbinär erleben, ist daher noch wenig bekannt. Eine aktuelle Umfrage bei Trans*menschen ergab, dass sich 36 % einer nichtbinären Identität zuordneten.<sup>3</sup> Kinder definieren ihre Geschlechtsidentität praktisch immer als binär, da eine Zuordnung weder als Mann noch Frau ihre Vorstellungskraft übersteigt; bei Jugendlichen hingegen kann eine nichtbinäre Identität bereits vorkommen.<br /> Das Besondere der Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen ist in der Definition nach DSM 5 immer mitberücksichtigt. Die Dysphorie äussert sich an der Schwelle zur Pubertät häufig einerseits als starke Ablehnung gegenüber den sich bereits entwickelnden sekundären Geschlechtsmerkmalen: Bei zugewiesenen Mädchen stehen Menstruation und Brustentwicklung im Vordergrund, bei den zugewiesenen Jungen der Stimmbruch und die vermehrte Behaarung. Andererseits wird zusätzlich eine starke Angst vor einer weiteren Vermännlichung bzw. Verweiblichung geäussert.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1706_Weblinks_s42_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="1307" /></p> <h2>Paradigmenwechsel in der Behandlung von Erwachsenen mit Trans*identitäten</h2> <p>In früheren Behandlungsschemata wurden der Ablauf der diagnostischen Phase zeitlich und die Behandlungsschritte in Reihenfolge und Vollständigkeit festgelegt. Ein sogenannter einjähriger Alltagstest ohne medizinische Unterstützung wurde zum Beispiel auch von Personen verlangt, die grosse Ängste vor Stigmatisierung hatten. Eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung kam für Transmänner, die ihre Genitalien nicht operieren lassen wollten, nicht infrage. Die voraussichtlich im Dezember 2017 publizierten neuen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AMWF) sind Ausdruck eines Paradigmenwechsels in der Behandlung von Menschen mit Trans*identität. Die Behandlungswege werden vielfältiger und auf den individuellen Fall abgestimmt. Gemäss aktuellen Behandlungsempfehlungen steht der «informed consent » im Sinne einer umfassenden Aufklärung über die Vor- und Nachteile von Behandlungsschritten im Vordergrund und die Entscheidung liegt bei den Betroffenen selbst.4 Komplizierter liegt der Fall bei Minderjährigen, bei denen sich die Frage der Urteilsfähigkeit je nach Alter und der zu treffenden Entscheidung stellt.</p> <h2>Gendervarianz und Geschlechtsinkongruenz im Kindesalter</h2> <p>Gendervarianz im Sinne von geschlechtsatypischem Verhalten kommt bei präpubertären Kindern häufig vor. In einer niederländischen Zwillingsstudie wurde die Prävalenz von Geschlechtsinkongruenz je nach Alter und Geschlecht mit 2,3–5,3 % ermittelt.<sup>5</sup> Die Definition in der ICD-10 erfasst ein breites Spektrum von Kindern, welche mit ihrer Geschlechtszuschreibung in unterschiedlichem Ausmass unzufrieden sind (Tab. 2). Obwohl 80 % der Kinder mit gendervariantem Verhalten zugewiesene Mädchen sind, überwiegen bei den in den Gendersprechstunden angemeldeten präpubertären Kindern die zugewiesenen Knaben. Der Grund liegt vermutlich in der geringeren sozialen Akzeptanz von mädchenhaftem Verhalten bei Jungen.<br /> Verlaufsstudien zeigen, dass die Geschlechtsidentität bei geschlechtsinkongruenten Kindern häufig noch nicht stabil ist. Eine holländische Studie zeigte, dass nur ca. 20 % der geschlechtsinkongruenten zugewiesenen Jungen und 50 % der zugewiesenen Mädchen im Erwachsenenalter eine Trans*identität zeigten. 50 % der geschlechtsinkongruenten Jungen und 25 % der Mädchen entwickelten später eine Homosexualität ohne Geschlechtsinkongruenz.<sup>6</sup> Je stärker sich die Geschlechtsinkongruenz manifestierte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit einer Persistenz als Trans*identität bis ins Erwachsenenalter.<sup>7</sup> In der Praxis sind also Kinder mit geschlechtsatypischem Verhalten und mässiger Geschlechtsinkongruenz von den sogenannten Trans*kindern zu unterscheiden, die bereits seit frühester Kindheit vehement darauf bestehen, das andere Geschlecht zu sein. Da der Verlauf jedoch auch bei Letzteren nicht sicher vorhersagbar ist, wird an den meisten Behandlungszentren eine ausgangsoffene Beratung der Familien empfohlen. Wichtig ist es, die Akzeptanz des geschlechtsatypischen Verhaltens im sozialen Umfeld zu fördern und diese Kinder nicht unter Druck zu setzen sowie nicht zu pathologisieren.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1706_Weblinks_s42_tab2.jpg" alt="" width="1417" height="667" /></p> <h2>Geschlechtsinkongruenz und Genderdysphorie bei Jugendlichen</h2> <p>Der Leidensdruck bei Jugendlichen mit Genderdysphorie ist oft sehr hoch. Bis zu 65 % zeigen ernsthafte Suizidalität und 75 % selbstverletzendes Verhalten.<sup>1</sup> Es gibt Evidenz, dass soziale Akzeptanz und die Möglichkeit einer sozialen Transition das Befinden erheblich verbessern, sodass sich die Raten an Suizidalität und Selbstverletzung nicht mehr von denjenigen der Gruppe der Gleichaltrigen unterscheiden.<sup>8</sup> Die Eltern sollen also dahingehend beraten werden, Kindern und Jugendlichen mit hohem Leidensdruck und diesbezüglichem Wunsch einen sozialen Rollenwechsel im Alltag zu ermöglichen. Eine psychotherapeutische Begleitung von Jugendlichen mit Genderdysphorie konzentriert sich auf die Behandlung begleitender psychischer Probleme sowie auf die Unterstützung der gewünschten und notwendigen Schritte der Geschlechtsangleichung. Bei den meisten Jugendlichen ist die Geschlechtsidentität stabil, da sich diese in aller Regel bereits in der frühen Kindheit herausbildet. Es gibt aber auch Fälle, bei denen erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der erlebten Geschlechtsidentität bestehen. Hier sind eine vorsichtige Herangehensweise und psychotherapeutische Unterstützung der Identitätsfindung indiziert. Als Instrument zur differenzierten und vielschichtigen Erfassung von Geschlechtsidentität kann das einfache Instrument Meine Gender-Identität (siehe Abb. 1) genutzt werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1706_Weblinks_s42_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="843" /></p> <h2>Hormonelle Pubertätsblockade</h2> <p>Ab Pubertätsstadium nach Tanner 2–3 kann eine Pubertätsblockade mittels Gabe von Gondadotropin-Analoga eingeleitet werden. Diese reversible Behandlung ermöglicht eine Phase, in der ohne Weiterentwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale Zeit gewonnen wird bis zur Entscheidung für oder gegen irreversible geschlechtsangleichende Massnahmen. Die Einführung von Pubertätsblockaden wird mit dem Argument kritisiert, dass sich praktisch alle behandelten Kinder später für eine Geschlechtsangleichung entscheiden. Als häufigste Nebenwirkung bei jahrelanger Pubertätsblockade wird eine verminderte Knochendichte angegeben.<sup>2</sup> Verlaufsstudien zeigen jedoch, dass Jugendliche mit Trans*identität, die eine Pubertätsblockade erhalten hatten, im Erwachsenenalter eine erheblich höhere Lebenszufriedenheit und eine geringere Rate an Psychopathologie aufwiesen als Trans*menschen ohne eine solche Behandlung.<sup>9</sup> Ein Unterlassen der Pubertätsblockade stellt insofern eine irreversible Massnahme dar, als die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale im Falle einer Trans*identität ein schlechteres kosmetisches Outcome und somit eine geringere Lebenszufriedenheit mit sich bringen kann.</p> <h2>Geschlechtsangleichende Hormonbehandlung und Operationen</h2> <p>Jugendliche können bei dauerhafter Trans*identität mit geschlechtsangleichenden Hormonen behandelt werden. Die Behandlung mit Östrogen bzw. Testosteron wird einschleichend und überlappend mit einer allfälligen Pubertätsblockade durchgeführt. Gemäss aktuellen Leitlinien kann diese Behandlung ab 16 Jahren und je nach klinischer Indikation auch in jüngerem Alter durchgeführt werden.<sup>10</sup> Internationale Leitlinien empfehlen, keine geschlechtsangleichenden Operationen im Jugendalter durchzuführen, mit Ausnahme der Mastektomie bei Trans*männern mit stabiler Geschlechtsidentität und längerer Testosteronbehandlung.<sup>11</sup></p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Veale JF et al.: Mental health disparities among Canadian transgender youth. J Adolesc Health 2016; 60: 44-9 <strong>2</strong> Korte A et al.: Behandlung von Geschlechtsidentitätsstörungen (Geschlechtsdysphorie) im Kindes- und Jugendalter – ausgangsoffene psychotherapeutische Begleitung oder frühzeitige Festlegung und Weichenstellung durch Einleitung einer hormonellen Therapie? Sexuologie 2016; 23(3-4): 117-32 <strong>3</strong> E yssel J e t a l.: A participatory approach to the needs and concerns of trans individuals regarding interdisciplinary transgender health care: A non-clinical online survey. PLoS One 2017; 12: e0183014 <strong>4</strong> Garcia D et al.: Von der Transsexualität zur Genderdysphorie. Beratungs- und Behandlungsempfehlungen bei TransPersonen. Schweiz Med Forum 2014; 14(19): 382-7 <strong>5</strong> Beijsterveldt CEM et al.: Genetic and environmental influences on cross-gender behavior and relation to behavior problems: study of Dutch twins at ages 7 and 10 years. Arch Sex Behav 2006; 35: 647- 58 <strong>6</strong> Wallien MSC, Cohen-Kettenis P: Psychosexual outcome of gender-dysphoric children. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2008; 47(12): 1413-23. doi: 10.1097/ CHI.0b013e31818956b9 <strong>7</strong> Steensma TD et al.: Factors associated with desistence and persistence of childhood gender dysphoria: a quantitative follow-up study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2013; 52(6): 582-90 <strong>8</strong> Durwood L et al.: Mental health and self-worth in socially transitioned transgender youth. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2017; 56(2): 116-23 <strong>9</strong> de Vries AL et al.: Young adult psychological outcome after puberty suppression and gender reassignment. Pediatrics 2014; 134(4): 696-704 <strong>10</strong> Hembree WC et al.: Endocrine treatment of gender-dysphoric/gender-incongruent persons: an Endocrine Society* Clinical Practice Guideline. J Clin Endocrinol Metab 2017; 102(11): 1-35 <strong>11</strong> World Professional Association of Transgender Health (WPATH). Standards of Care. Versorgungsempfehlungen für die Gesundheit von transsexuellen, transgender und geschlechtsnichtkonformen Personen, 2012. http://www. wpath.org/site_page.cfm?pk_asso 12 ciation_webpage_ menu=1351&pk_association_webpage=4381</p>
</div>
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