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DGPPN 2016

«Für manche ist das Internet der einzige Zugang zur Therapie»

<p class="article-intro">Ein unkontrollierbarer Drang, sich einzelne Haare oder Haarbüschel auszureissen, bis der Kopf von kahlen Stellen übersät ist: Das ist die Trichotillomanie, die zu den Störungen der Impulskontrolle gehört. Die Krankheit kommt häufiger vor als gedacht, weil viele Betroffene sich schämen, darüber zu reden. Vor allem diesen Betroffenen kann ein Internet-basierter Ansatz helfen, den Prof. Dr. med. Michael Rufer aus Zürich am Kongress der DGPPN in Berlin vorstellte.<sup>1, 2</sup></p> <hr /> <p class="article-content"><p>Sie tat es immer, wenn sie sich alleine f&uuml;hlte, beim Fernsehen, beim Lesen, automatisch und unbewusst. Zuerst riss sie nur am Hinterkopf, dann auch an anderen Stellen. Die 25-J&auml;hrige, die ihre Geschichte erz&auml;hlt,<sup>3</sup> litt 13 Jahre lang unter Trichotillomanie. Im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen traut sie sich, offen &uuml;ber ihr Problem zu sprechen.<br /> Trichotillomanie ist gem&auml;ss ICD-10 und DSM-IV eine St&ouml;rung der Impulskontrolle (Tab. 1), hierzu geh&ouml;ren auch Kleptomanie, Pyromanie oder pathologisches Spielen. &laquo;Wir haben untersch&auml;tzt, wie h&auml;ufig Trichotillomanie vorkommt, weil viele Betroffene sich f&uuml;r ihr Verhalten sch&auml;men und keinem davon erz&auml;hlen&raquo;, sagt Prof. Dr. med. Michael Rufer, stellvertretender Direktor der Klinik f&uuml;r Psychiatrie und Psychotherapie am Universit&auml;tsspital Z&uuml;rich. &laquo;Die Angst, entdeckt zu werden, belastet die Patienten sehr.&raquo;<br /><br /> Fr&uuml;her ging man davon aus, dass kaum mehr als ein halbes Promille der Bev&ouml;lkerung an Trichotillomanie leidet. Die Lebenszeitpr&auml;valenz liegt jedoch zwischen 0,6 und 1 % ,<sup>4, 5</sup> wobei Frauen h&auml;ufiger betroffen sind.<sup>6&ndash;8</sup> In der Schweiz sollen es sch&auml;tzungsweise 35 000 Menschen sein. &laquo;Die Betroffenen gehen nicht mehr ins Schwimmbad, vermeiden Friseurbesuche oder gehen bei windigem Wetter nicht mehr ausser Haus, damit man die kahlen Stellen nicht sieht&raquo;, erz&auml;hlt Rufer.<br /> Der franz&ouml;sische Dermatologe Fran&ccedil;ois Henri Hallopeau beschrieb 1889 einen Patienten, der sich b&uuml;schelweise die Haare ausrupfte, und nannte das zwanghafte Verhalten Trichotillomanie &ndash; von den griechischen Begriffen thrix f&uuml;r Haar, tillein f&uuml;r rupfen und mania f&uuml;r Wahnsinn.<sup>9</sup> Aber erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts definierten &Auml;rzte es als eigenst&auml;ndige Krankheit. Die Betroffenen haben h&auml;ufig etwas Schlimmes in ihrer Kindheit erlebt, &Auml;rger mit den Eltern oder in der Schule, zus&auml;tzlich leiden einige unter depressiven Verstimmungen oder &Auml;ngsten. &laquo;Das Ausreissen lenkt ab, tr&ouml;stet kurzfristig und lindert die innere Anspannung&raquo;, sagt Rufer. &laquo;Irgendwann brennt sich das Verhalten ein und wird zum Automatismus.&raquo; Mit dem Ausreissen regulieren die Betroffenen unangenehme Gef&uuml;hle, was ihnen meist nicht bewusst ist. Einige empfinden es sogar als genussvoll, das Haar auszurupfen, mit ihm zu spielen oder es in den Mund zu nehmen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1701_Weblinks_s32_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="986" /></p> <h2>Gute Belege f&uuml;r kognitive Verhaltenstherapie</h2> <p>Alle m&ouml;glichen Behandlungen werden angeboten, etwa Di&auml;ten, Akupunktur oder Kinesiologie, f&uuml;r die aber nicht belegt ist, dass sie helfen. Auch Medikamente wirken nicht gen&uuml;gend. Gute Belege gibt es dagegen f&uuml;r die kognitive Verhaltenstherapie.<sup>10, 11</sup> Hier werden dem Patienten Techniken vermittelt, das zwanghafte Verhalten zu umgehen, das Selbstvertrauen wird gest&auml;rkt und traumatische Erlebnisse werden verarbeitet. Zus&auml;tzlich kann Entspannungstraining die innere Unruhe lindern. Bei einigen gen&uuml;gen schon einfache Massnahmen, berichtet Rufer: Beim &laquo;habit reversal training&raquo; machen sich die Betroffenen bewusst, in welchen Situationen sie reissen, und lernen, stattdessen eine andere Bewegung auszuf&uuml;hren &ndash; etwa einen Schwamm zu dr&uuml;cken.<sup>12</sup> &Auml;hnlich funktioniert die Entkopplungsmethode, die ein Kollege von Rufer an der Uniklinik in Hamburg mit ihm zusammen entwickelte.<sup>13</sup> Will der Betroffene ein Haar ausreissen, soll er die Bewegung ruckartig zu Ohr, Kinn oder Nase umlenken oder in die Luft schnipsen. &laquo;Der Clou daran ist, dass die neue Bewegung anfangs jener des Ausreissens &auml;hnelt&raquo;, erkl&auml;rt Rufer. &laquo;Das macht es leichter, die Handlung durch die andere zu ersetzen.&raquo;<br /> Als Rufer in Trichotillomanie-Foren recherchierte, las er immer wieder, dass viele aus Scham keine Hilfe suchen. &laquo;Deshalb haben wir uns &uuml;berlegt, die Methode &uuml;ber das Internet anzubieten.&raquo; In Online- Foren warb sein Team f&uuml;r die Studie. 100 Frauen und 5 M&auml;nner machten mit. Am h&auml;ufigsten rissen die Teilnehmer Haare am Kopf aus, was auch in anderen Studien gezeigt worden war (Abb. 1). Die H&auml;lfte der Teilnehmer sollte Entkopplung erlernen, die andere Entspannungstechniken. Zu Beginn der Studie erfuhren sie, was Trichotillomanie ist und wie die Techniken funktionieren. Jede Woche bekamen sie Motivationsmails. Nach einem Monat rupften sie weniger, und es ging ihnen auch insgesamt psychisch besser, erkennbar an einer Verbesserung der Lebensqualit&auml;t. Der Erfolg war auch noch nach einem halben Jahr zu sehen.<br /> &laquo;F&uuml;r manche Patienten ist das Internet der einzige Zugang zu einer Therapie&raquo;, kommentierte Prof. Dr. med. Michael Lucht, Psychiater an der Uni Greifswald und Experte f&uuml;r E-Health in der Psychiatrie. &laquo;Die Schwelle, Hilfe zu suchen, ist &uuml;ber das Internet viel geringer.&raquo; Es erm&ouml;gliche den Betroffenen, heimlich eine Behandlung in Anspruch zu nehmen, best&auml;tigt Prof. Dr. med. Gregor Hasler, Chef- Psychiater an der Uniklinik in Bern, und spare auch noch Geld. Ihn habe erstaunt, dass die Methode &uuml;ber das Internet so gut wirkt. &laquo;Wir beobachten das aber auch bei Depressionen und Angstst&ouml;rungen&raquo;, sagt er. &laquo;Das Vermitteln von Informationen und einfachen Verhaltenstechniken ist offenbar viel wichtiger, als wir dachten.&raquo; In Zeiten des &uuml;berm&auml;ssigen Individualismus k&ouml;nne es zudem therapeutisch wirksam sein, dass die Betroffenen sich nicht als Einzelfall f&uuml;hlten: &laquo;Vor dem Computer wird ihnen bewusst: Ich bin nicht allein &ndash; auch andere tun das, und wir k&ouml;nnen es loswerden.&raquo;</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1701_Weblinks_s32_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="824" /></p></p> <p class="article-quelle">Quelle: DGPPN-Kongress, 23.–26. November 2016, Berlin </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Rufer M et al: Symposium S-077: Therapeutische Innovationen: telemedizinische Ans&auml;tze in der Psychiatrie und Psychotherapie, 25. 11. 2016, DGPPN-Kongress Berlin <strong>2</strong> Weidt S et al: Psychother Psychosom 2015; 84: 359-67 <strong>3</strong> http:// www.20min.ch/schweiz/news/story/12427384 <strong>4</strong> Christenson GA et al: J Clin Psychiatry 1991; 52: 415-7 <strong>5</strong> Rothbaum BO et al: J Clin Psychiatry 1993; 54: 72-3 <strong>6</strong> Christenson GA, Crow SJ: J Clin Psychiatry 1996; 57(suppl 8): 42-7 <strong>7</strong> Cohen LJ et al: J Clin Psychiatry 1995; 56: 319-26 <strong>8</strong> Christenson GA, Ristvedt SL, Mackenzie TB: Behav Res Ther 1993; 31: 315-20 <strong>9</strong> Hallopeau H: Annales de Dermatologie et de Syphiligraphie 1889; 5: 541-3 <strong>10</strong> Duke DC et al: Clin Psychol Rev 2010; 30: 181-93 <strong>11</strong> Neudecker A, Rufer M: Verhaltenstherapie 2004; 14: 90-8 <strong>12</strong> Azrin NH, Nunn RG: Behav Res Ther 1973; 11: 6 19-28 <strong>13</strong> Moritz S et al: www.uke.de/impulskontrolle</p> </div> </p>
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