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Fluch der Flucht

<p class="article-intro">Anlässlich der 5. Wiener Herbsttagung für Transkulturelle Psychiatrie am 14. November in Wien zum Thema <em>„Flucht – Refugees in Psychosocial Context“</em> erläuterten Experten die spezielle Situation der Betroffenen aus medizinisch-psychiatrischer Sicht.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Die Flucht an sich stellt durch die konsequente Ungewissheit in vielen F&auml;llen bereits ein Trauma dar. Was der Flucht vorausgegangen ist, ist dabei in der Regel noch gar nicht verarbeitet. Hinzu kommen kulturspezifische Symptomauspr&auml;gungen etwa f&uuml;r Depression oder traumatische Folgest&ouml;rungen, die gekannt werden sollten, um erkannt zu werden. Es referierten &uuml;ber diese Problematik Prof. Dr. Thomas Stompe, Leiter der Ambulanz f&uuml;r Transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte psychische St&ouml;rungen an der Universit&auml;tsklinik f&uuml;r Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universit&auml;t Wien und t&auml;tig am Institut f&uuml;r Interkulturelle Medizin und Migrationsforschung der Justizanstal G&ouml;llersdorf, Prof. Dr. Thomas Wenzel, Leiter des Scientific Committee, World Psychiatric Association, Section on Sequels to Persecution and Torture, t&auml;tig an der Universit&auml;tsklinik f&uuml;r Psychiatrie und Psycho&shy;therapie in Wien, sowie Dr. Carryn Danzinger, Leiterin der mobilen Arbeit des psychosozialen Zentrums der Israeli&shy;tischen Kultusgemeinde in Wien ESRA (hebr&auml;isch f&uuml;r &bdquo;Hilfe&ldquo;).</p> <h2>Herausforderung Kulturunterschiede</h2> <p>Der Umgang mit Patienten aus anderen Kulturkreisen ist nicht &bdquo;business as usual&ldquo; und war es auch nie. Stammten die Patienten allerdings fr&uuml;her h&auml;ufig aus anderen Teilen Europas, deren Kulturen unserer zumindest &auml;hnlich sind, k&ouml;nnen sie heute aus sehr weit entfernt lebenden Ethnien stammen. Entsprechend ver&auml;ndert haben sich auch die Anforderungen an Mediziner und Therapeuten.<br /> <br /> F&uuml;r die ad&auml;quate psychiatrisch-psychotherapeutische Betreuung von Fl&uuml;chtlingen sind erforderlich:</p> <ul> <li>allgemeines psychiatrisch-psychotherapeutisches Wissen</li> <li>Kenntnisse der Grundlagen der Psychotraumatologie</li> <li>Wissen &uuml;ber transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie</li> <li>interkulturelle Kompetenz</li> </ul> <p>Interkulturelle Kompetenz umfasst in diesem Zusammenhang das Wissen um Kulturstandards. Kultur ba- &shy;&shy;siert auf der Herausbildung bestimmter Gewohnheiten innerhalb von Kollektiven. Dieser Prozess der Gewohnheitsbildung kann als &bdquo;Standardisierung&ldquo; bezeichnet werden. Kulturelle Standardisierungen finden sich etwa in den Bereichen Kommunikation, Denken, Empfinden oder Verhalten. Sie beinhalten die Heraus&shy;bildung von &bdquo;kulturellen Codes&ldquo;. Kopfnicken beispielsweise bedeutet in &Ouml;sterreich Best&auml;tigung, in Griechenland aber Verneinung. Die Hand zu geben kann in asiatischen Kulturen als intime Verletzung der pers&ouml;nlichen Integri&shy;t&auml;t missverstanden wer&shy;den. Die Beispiele lie&szlig;en sich be&shy;liebig fortsetzen.<br /> <br /> Worauf sollte auf Inhalts&shy;ebene geachtet werden? Probleme interkultureller Kommunikation, die auf der Inhalts&shy;ebene angesiedelt sind, erwachsen im Wesentlichen aus Unterschieden hinsichtlich des kulturellen Wissens oder des Werte- und Normensystems der Gespr&auml;chspart&shy;ner. In jeder Kultur gibt es bestimmte Tabuthemen, die in der pers&ouml;nlichen Kommunikation nicht an&shy;gespro&shy;&shy;chen werden sollen. Zu diesen Themen z&auml;hlen in vielen Gesellschaften private und vor allem sexuelle Probleme.<br /> <br /> Die neue Fl&uuml;chtlingsbewegung ist in vielen Bereichen eine gro&szlig;e Heraus&shy;forderung f&uuml;r unsere Gesellschaft. Viele der Menschen, die nach Europa kommen, sind aufgrund von Erlebnissen in der Heimat und auch auf der Flucht traumatisiert. Einige davon k&ouml;nnen chronische psychische Erkrankungen entwickeln, die sie an der gesellschaftlichen Teilhabe erheblich hindern k&ouml;nnen.</p> <h2>Trauma &ndash; Definition und Auspr&auml;gung</h2> <p>Was aber ist ein Trauma eigentlich? Vereinfacht handelt es sich um ein au&szlig;ergew&ouml;hnliches, lebensbedrohliches Vorkommnis, welches die normalen Anpassungsstrategien des Menschen &uuml;berfordert. Traumata k&ouml;nnen zwischenmenschliche Beziehungen in den Grundfesten ersch&uuml;ttern oder das Wertesystem bzw. die Sinngebung untergraben. Das Urvertrauen in eine na&shy;t&uuml;r&shy;liche oder g&ouml;ttliche Ordnung wird zerst&ouml;rt, das Selbstbild devastiert.<br /> Grunds&auml;tzlich kann ein Trauma zu drei unterschiedlichen Folgen f&uuml;hren. Zum einen kann es zu einer Neutra&shy;lisierung kommen &ndash; es gibt kei&shy;ne Konsequenzen (Abb. 1). Wei&shy;ters kann jemand nach einem Trauma reifen. Diese Reifung kann entweder positiv oder illusorisch sein. Schlie&szlig;lich kann auch ei&shy;ne Traumafolgest&ouml;rung entste&shy;hen, die spezifisch oder unspezifisch sein kann. Als un&shy;spezifisch gelten: die kom&shy;plizier&shy;te Trauer, disso&shy;zia&shy;tive St&ouml;rungen, De&shy;pressionen, Psychosen, Sucht&shy;&shy;er&shy;kran&shy;&shy;kun&shy;&shy;gen und Per&shy;s&ouml;n&shy;lichkeits&shy;st&ouml;&shy;rungen. Die be&shy;kannteste St&ouml;rung, das PTBS (posttraumatisches Belastungs&shy;syndrom), geh&ouml;rt gemein&shy;sam mit dem erlebnisbe&shy;dingten Pers&ouml;nlichkeits&shy;wan&shy;del und der posttraumatischen Verbitterung zu den spezifischen Traumafolgest&ouml;rungen.<br /> Die PTBS definiert sich nach ICD-10 wie folgt: Die Betroffenen sind einem kurzen oder lang anhaltenden Geschehen von au&szlig;ergew&ouml;hnlicher Bedrohung ausgesetzt, das nahezu bei jedem eine tief greifende Verzweiflung ausl&ouml;sen w&uuml;rde. Auftreten k&ouml;nnen anhal&shy;tende Erinnerungen oder ein Wiedererleben der Belastun&shy;&shy;gen durch aufdringli&shy;che Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erin&shy;nerun&shy;gen, sich wiederholende Tr&auml;u&shy;me oder innere Bedr&auml;ngnis in Situationen, die der Belastung &auml;hneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen. Umst&auml;nde, die der Belastung &auml;hneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, werden nach M&ouml;glichkeit vermieden.<br /> Anders verh&auml;lt es sich mit der &bdquo;anhaltenden Pers&ouml;nlichkeitsver&auml;nderung nach Extrembelastung&ldquo; (ICD-10). Sie ist definiert als eine eindeutige und anhaltende &Auml;nderung in der Wahrnehmung, in der Beziehung und im Denken der Betroffenen in Bezug auf ihre Umgebung und sich selbst nach Ex&shy;trembelastung.<br /> Man z&auml;hlt dazu eine aus&shy;gepr&auml;gte Pers&ouml;nlichkeits&auml;nderung mit unflexiblem und unangepasstem Verhalten, wobei mindestens zwei der folgenden Symptome auftreten:</p> <ul> <li>Andauernde und feindliche Haltung gegen&uuml;ber der Welt</li> <li>Sozialer R&uuml;ckzug</li> <li>Andauerndes Gef&uuml;hl der Leere und/oder Hoffnungslosigkeit</li> <li>Andauerndes Gef&uuml;hl von Nervosit&auml;t oder von Bedrohung ohne &auml;u&szlig;ere Ursache, das sich in einer gesteigerten Wachsamkeit und Reizbarkeit zeigt</li> <li>Andauerndes Gef&uuml;hl, ver&auml;ndert oder anders als die anderen zu sein (Entfremdung)</li> </ul> <p>Es findet sich entweder eine deutliche St&ouml;rung der sozialen Funktionsf&auml;higkeit oder subjektives Leiden f&uuml;r die Betroffenen mit negativen Auswirkungen auf ihre Umgebung.<br /> Mit knapp 21 % ist die direkte Ge&shy;walteinwirkung wie Missbrauch, Folter etc. jene Ursache, die im gr&ouml;&szlig;ten Aus&shy;&shy;ma&szlig; zu Traumafolgesch&auml;den im Sinne einer PTBS f&uuml;hrt, gefolgt vom Tod einer Bezugsperson mit 14,3 % (Abb. 2). Grunds&auml;tzlich kann aber auch das Miterleben von Gewalt &ndash; also die Traumatisierung anderer &ndash; negative Folgen haben.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2015_Jatros_Neuro_1506_Weblinks_Seite34.jpg" alt="" width="487" height="857" /></p> <h2>Appell an die Gesundheitspolitik</h2> <p>Unisono riefen die Experten die Gesundheitspolitik auf, gemeinsam mit den Berufsgruppen, die Erfahrung mit traumatisierten Menschen haben (Psychiater, Psychologen und Therapeuten), rasch Konzepte zu entwickeln, damit auch im Sinne der Mehrheitsgesellschaft traumatisierten Migranten geholfen werden kann, da Zuwarten die Kosten in psychischer, sozialer und letztlich auch finanzieller Hinsicht f&uuml;r alle Beteiligten in die H&ouml;he treibt.<br /> Insbesondere Wenzel prangerte die Sinnlosigkeit von Parallelstrukturen an, die eine Ressourcenverschwendung darstellen. Nicht zuletzt verlangte er eine bessere Vernetzung bestehender Einrichtungen, um dieVersorgung effizienter zu gestalten. Schlie&szlig;lich berich&shy;&shy;tete er von 100.000 Fl&uuml;chtlingen in Kairo in lang&shy;fristigen Lagern sowie von einer Million pal&auml;stinen&shy;sischer Langzeitfl&uuml;chtlinge im Libanon. Offensichtlich sind die &bdquo;Boote&ldquo; in diesen L&auml;ndern &uuml;bervoll, wodurch ein erh&ouml;hter Druck auf Europa entsteht.<br /> ESRA ist bereits seit Jahrzehnten mit Fl&uuml;chtlingsschicksalen und dem behutsamen Umgang damit vertraut. &bdquo;Nur einige Tausend bleiben&ldquo;, so Carryn Danzinger. Nach ihrer Erfahrung geht ein Gutteil der Fl&uuml;chtlinge wieder zur&uuml;ck. &bdquo;Etwa ein Drittel leidet unter den Folgen, die PTBS ist allerdings nur eine davon.&ldquo; Schwierig wird es, wenn die Behandlung ausbleibt. Pers&ouml;nlichkeitsst&ouml;rungen sind die Folge, mit den Symptomen Feindseligkeit gegen die Welt, Leere oder &bdquo;Gef&uuml;hl tot zu sein&ldquo;. Dieser Zustand kann bis zu einem Borderline-Syndrom ausufern. Daher sei die rechtzeitige Behandlung, inklusive der ausreichen&shy;den Information, wo Behandlung m&ouml;glich w&auml;re, von h&ouml;chster Bedeutung. Auch Danzinger betonte die v&ouml;llige Unzul&auml;nglichkeit der vorhandenen Res&shy;sourcen.</p> <h2>Expertenkommentar zu &bdquo;Fluch der Flucht&ldquo;</h2> <p>Angesichts des wachsenden Bedarfs an Therapien für Flüchtlinge wurde von der praktischen Vorgehensweise in verschiedenen Bereichen berichtet. Die Sigmund- Freud-Universit&auml;t ist z.B. sowohl in der mobilen Flüchtlingsbetreuung in Nieder&ouml;sterreich als auch an der Ambulanz der International Clinic und im Ute-Bock-Haus in der Arbeit mit Flüchtlingen engagiert. Es zeigt sich, dass g&auml;ngige Therapiekonzepte nur begrenzt anwendbar sind und stattdessen viel Offenheit, interkulturelle Sensibilit&auml;t und Methodenvielfalt gefragt sind. Besonders hilfreich ist es, wenn Therapeuten eine kulturelle N&auml;he zu den Klienten haben. Je nach Stadium des Asylverfahrens zeigen sich bei den Flüchtlingen unterschiedliche Problemlagen. Wiederholt wurde betont, wie wichtig Achtsamkeit im Umgang und Anerkennung des Leids der Flüchtlinge sind, insbesondere weil sie hier meist ihrer normalen Ressourcen und ihrer sozialen Netzwerke beraubt sind, die bei einer Bew&auml;ltigung von traumatischen Erfahrungen helfen k&ouml;nnen. Mit steigenden Flüchtlingszahlen geht aber der Einzelne leicht in der Masse unter. Daher brauchen diese Klienten eigentlich besonders viel Menschlichkeit, Achtsamkeit sowie ermutigende Unterstützung. Im Zusammenhang mit Flüchtlingen wird fast ausschlie&szlig;lich von Trauma gesprochen, und es ist wahr, dass viele von ihnen eine posttraumatische Belastungsst&ouml;rung aufweisen. Aber bei fast allen Flüchtlingen und Asylwerbern finden sich gro&szlig;e und h&auml;ufig uneindeutige Verlusterfahrungen und nicht zugestandene Trauer. Beides kann zu Gefühlen einer blockierten Zukunft und Depressionen führen. Tats&auml;chlich werden sehr h&auml;ufig affektive St&ouml;rungen diagnostiziert. Auch darauf ist therapeutisch zu achten. Insgesamt w&auml;re es sinnvoll, sich besser zu vernetzen und auszutauschen. Dann k&ouml;nnen vielleicht Therapiekonzepte entwickelt werden, die effizient und zugleich kultur- wie auch schulenübergreifend sind.</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: Pressekonferenz „Flucht“,<br/> 21. Oktober 2015, Wien </p>
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