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Bakterien als Diagnose- und Therapietool der Zukunft?

Ernährungspsychiatrie, Mikrobiota-Darm-Gehirn-Achse und Psychobiotika

Ernährung ist eng mit der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Erkrankungen verknüpft und beeinflusst das Mikrobiom maßgeblich. Die Mikrobiota-Darm-Gehirn-Achse ist ein bidirektionales Kommunikationssystem und fungiert als essenzielles Bindeglied zwischen Körper und Psyche. Eine moderne, ganzheitliche psychiatrische Diagnostik und Therapie sollten zukünftig systemisch wirksame Interventionen, welche auf die Darm-Gehirn-Achse abzielen (Ernährungstherapie, Psychobiotika und FMT), miteinschließen.

Keypoints

  • Das Mikrobiom und das Metabolom sind transdiagnostisch bei Menschen mit psychischen Erkrankungen verändert.

  • Während Menschen mit bipolarer Erkrankung eine erniedrigte Alpha-Diversität zeigen, zeigen Menschen mit Depressionen Unterschiede in der Beta-Diversität des Mikrobioms im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen.

  • Klinische Studien unterstützen die Verwendung von Probiotika als Add-on-Therapie bei Depressionen.

  • In Fallberichten erwies sich FMT wirksam in der Behandlung der bipolaren Störung und der Depression.

Stellenwert der Ernährung und des Mikrobioms in der Psychiatrie

Die Gesundheitssysteme der Industriestaaten gehören zu den modernsten und fortschrittlichsten unserer Zeit. Nichtsdestotrotz steigt die Häufigkeit von chronischen Erkrankungen, zu denen besonders auch psychische Erkrankungen zählen, rapide an. Beispielsweise waren im Jahr 2020 global 3152,9 von 100000 Einwohnern von Depressionen betroffen und zusätzlich weitere 53,2 Millionen Menschen aufgrund der zusätzlichen biopsychosozialen Belastungen durch die Covid-19-Pandemie (ein deutlicher Anstieg von 27,6% im Vergleich zu den Vorjahren). Obwohl es große Anstrengungen gibt, psychische Erkrankungen zu behandeln, bleiben sie zum Großteil chronisch und damit eine Ursache permanenter Beeinträchtigung der Lebensqualität. 20–60% aller Patient*innen mit psychischen Erkrankungen weisen zudem eine Therapieresistenz auf. Psychopharmakologische Medikation zielt auf den Ausgleich eines Neurotransmitterungleichgewichtes, wobei häufig andere Hintergründe psychischer Erkrankungen wie gestörte zirkadiane Rhythmik, Inflammation und oxidativer Stress sowie psychosoziale Faktoren außer Acht gelassen werden.

Sowohl Über- als auch Unterernährung, geringe Qualität, fehlende Diversität der Ernährung und Mangelernährung werden mit psychischen Erkrankungen in Verbindung gebracht. Tatsächlich gibt es mittlerweile eine überzeugende empirische Evidenz, dass Ernährung mit dem Auftreten, dem Verlauf und der Therapie-Response bei psychischen Erkrankungen in Zusammenhang steht. Das Gebiet der Ernährungspsychiatrie („nutritional psychiatry“) hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt, da immer mehr diätetische oder nährstoffbasierte Interventionsstudien initiiert wurden und mehr präklinische und epidemiologische Daten zur Verfügung stehen. Ernährungspsychiatrie befasst sich mit einer Verbesserung der Ernährung und der Verwendung von nährstoffbasierten Ansätzen zur Vorbeugung und Behandlung psychischer Erkrankungen. Bestimmte pflanzliche Ernährungsformen, wie z. B. die mediterrane Ernährung, sind mit einem geringeren Auftreten von psychischen Erkrankungen assoziiert. Wie Studien zeigen konnten, wirkt der Verzehr von Gemüse, Obst, magerem Fleisch, Nüssen und Fisch begleitet von einer geringen Aufnahme von verarbeiteten Lebensmitteln protektiv und ist mit einem geringeren Auftreten von Depressionen verbunden. Zudem sind Nährstoffe für das reibungslose Funktionieren des Nerven- und Immunsystems von entscheidender Bedeutung, doch fehlen häufig mehrere bei unausgewogenem Essverhalten.

Innere und äußere Umwelt – die Mikrobiota-Darm-Gehirn-Achse

Zudem stellt Ernährung einen bedeutenden Einfluss bei der Zusammensetzung des Darmmikrobioms und seiner Metaboliten dar. Tatsächlich kann eine Ernährungsmodifikation das Mikrobiom innerhalb von Stunden und Tagen verändern. Die Mikrobiota-Darm-Gehirn-Achse ist ein Kommunikationssystem, welches für einen wechselseitigen Informationsaustausch zwischen dem Darmmikrobiom, dessen Metaboliten und dem Gehirn verantwortlich ist. Die Mechanismen dieser Signaltransduktion sind vielfältig und inkludieren neuronale, immunologische und endokrine Signalwege.

Erste Studien konnten belegen, dass das Darmmikrobiom im Tiermodell der Depression verändert war – dies konnte auch in klinischen Studien am Menschen repliziert werden. Depressive Symptome und Verhaltensweisen konnten durch fäkale Mikrobiotatransplantation/Stuhltransplantation (FMT) von depressiven Proband*innen auf Mäuse übertragen werden, was auch mit Veränderungen des Tryptophanmetabolismus und des Immunsystems einherging. Heutzutage sind das Darmmikrobiom und dessen Metabolite (kurzkettige Fettsäuren wie Butyrat) als bedeutende epigenetische Regulatoren in Gen-Umwelt-Interaktionen anerkannt. Rezente Metaanalysen zeigen Veränderungen des Darmmikrobioms bei Patient*innen mit psychischen Erkrankungen; diese Veränderungen sind jedoch nicht für einzelne Erkrankungen spezifisch, sondern transdiagnostisch.

Beispielsweise zeigte eine rezente Metaanalyse von Nikolova et al. Verminderungen butyratproduzierender Bakterien während es zu einem Anstieg von proinflammatorischen Bakterien kam. Ein Großteil der Studien zeigt eine signifikante Verminderung der Spezies und Artenvielfalt bei Menschen mit bipolarer affektiver Störung, diese ist jedoch bei Depressionen nicht einheitlich vorhanden. Veränderungen des Darmmikrobioms gehen mit Veränderungen der Stoffwechselprodukte (Metabolom) einher.

Interessanterweise kommen bis zu 40% der messbaren Metabolite, welche mit psychischen und neurologischen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden, von Mikrobiota und deren Ausscheidungsprodukten (Endo- und Exotoxine, Amyloide, verschiedene Saccharide). Diese Veränderungen des Metaboloms haben weitreichende Auswirkungen auf Inflammation, oxidativen Stress und Darmpermeabilität und sind wahrscheinlich als wichtiger einzustufen als das Vorhandensein einzelner Bakterien.

Psychobiotika

Alle Interventionen, die die Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse modifizieren (wie z.B. Ernährungsmodifikation, spezifische Präbiotika [Ballaststoffe], Probiotika [lebende Darmbakterien], Antibiotika, Synbiotika [Mischung aus Prä- und Probiotika], Postbiotika [bakterielle Stoffwechselprodukte wie Butyrat] und fäkale Mikrobiota-Transplantation [FMT]), können als Psychobiotika betrachtet werden, da angenommen wird, dass sie die psychische Gesundheit durch ihre Mikrobiota-modifizierenden Eigenschaften verbessern.

Kurzkettige Fettsäuren wie Butyrat stärken die Darmbarriere, beeinflussen die Serotoninfreisetzung und stimulieren den Vagusnerv, welcher als bedeutende neuronale Verbindung der Darm-Gehirn-Achse gilt. Das Wirkspektrum von Psychobiotika ist breit und erstreckt sich über mehrere pathophysiologische Prozesse wie z.B. auf epigenetische Modulation, Immunprozesse, Inflammation und Signaltransduktion.

Probiotika sind derzeit am besten für den additiven Einsatz bei Depressionen untersucht und finden sich zum Beispiel auch als Empfehlung in der aktuellen Leitlinie der World Federation of Societies for Biological Psychiatry. Für viele andere Erkrankungen wie ADHS, Alzheimer, Schizophrenie oder die posttraumatische Belastungsstörung ist die Datenlage nicht ausreichend. Die optimalen Bakterienstämme und deren Kombinationen sowie die Dosierung sind häufig noch unklar. Meist wurden in Studien verschiedene Strains von Bifidobakterien und Laktobazillen (in klinischen Studien 1x109 bis 2x1010 koloniebildende Einheiten [KBE oder CFU]) verwendet. Medikamente wie Antidepressiva und Antipsychotika können das Mikrobiom verändern und antibiotische Eigenschaften haben – deshalb sind auch Wechselwirkungen mit psychopharmakologischer Medikation relevant. Typischerweise werden Probiotika nur kurzfristig eingenommen, während antidepressive Therapien über Jahre fortgeführt werden. Die chronische Verwendung eines Agens mit mikrobiomverändernden Eigenschaften führt möglicherweise auch zu Resistenzentwicklung und dauernden Veränderungen der Zusammensetzung und Funktion des Mikrobioms. Dieser Mechanismus könnte u.a. das Phämomen der Tachyphylaxie (plötzlicher Wirkverlust einer Substanz) erklären, welches beispielsweise bei Patient*innen mit langfristiger SSRI-Therapie beobachtet wurde. Ebenso scheint durch Probiotika im Allgemeinen nur eine Stimmungsverbesserung bei klinisch depressiven Personen zu erzielen zu sein, jedoch nicht bei gesunden Personen.

FMT ist ein experimentelles Verfahren zur Behandlung von affektiven Störungen, welches anekdotisch in der Medizingeschichte bereits seit Jahrtausenden, wie beispielsweise in der chinesischen Medizin, eingesetzt wurde. Nichtsdestotrotz laufen derzeit noch randomisierte kontrollierte Studien und es müssen noch einige Barrieren überwunden werden, bevor dieses breit eingesetzt werden kann. Es gibt durchaus eine Rationale, FMT bei therapieresistenten psychischen Erkrankungen einzusetzen, nachdem FMT im Tiermodell relevante pathophysiologische Prozesse wie Inflammation, Immunaktivierung, oxidativen Stress und Neurotransmittersynthese regulieren konnte. Fallberichte von Doll, Parker und Hinton et al. zeigen durchwegs positive Effekte von FMT auf Patient*innen mit affektiven Störungen. Weitere placebokontrollierte Studien mit sog. „microbial ecosystem therapeutics“ (oral einzunehmende Kapseln mit Darmbakterien eines gesunden Spenders) werden gerade durchgeführt.

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Ausblick in die Zukunft

In Zukunft mag es interessant sein, das Mikrobiom und dessen Metabolite für diagnostische und therapeutische Zwecke zu nützen. Eine Pilotstudie untersuchte mikrobielle DNA von Blutproben bei Menschen mit psychischen Erkrankungen und fand, dass zirkulierende mikrobielle DNA als Biomarker für die Unterscheidung von Patient*innen und gesunden Kontrollen herangezogen werden konnte. Das Mikrobiom wurde auch genützt, um Patient*innen mit bipolarer Erkrankung und Depression voneinander zu differenzieren. Eine frühe Differenzialdiagnose dieser Krankheitsbilder würde Patient*innen einen signifikanten Vorteil auch bezüglich Behandlungswahl verschaffen und das Risiko für Nebenwirkungen (z.B. Switch-Risiko) vermindern. Nichtsdestotrotz braucht es noch weitere Studien mit einer größeren Fallzahl und in longitudinalem Design. Ebenso scheinen butyratproduzierende Bakterien wie Faecalibacterium und Roseburia als Prädiktoren für das Ansprechen von psychopharmakologischer Therapie wegweisend zu sein, wie eine rezente Pilotstudie bei geriatrischen Patient*innen berichtete. Bislang beziehen psychopharmakologische Studien jedoch signifikante Kovariaten wie das individuelle Mikrobiom und die Ernährung des Patienten nicht mit ein. Ebenso wurde das Virom und Archeom bei Menschen mit psychischen Erkrankungen noch nicht ausreichend untersucht. Neue Erkenntnisse in der Mikrobiomforschung könnten zu einer Erweiterung des Behandlungsspektrums psychischer Erkrankungen führen, indem diese nicht nur als Erkrankungen des Gehirns, sondern des gesamten Organismus verstanden werden. In Zukunft sollten weitere Methoden der Mikrobiommodifikation in Form von „personalized nutrition“, Antibiotika, Schmalspektrumantibiotika aus Pflanzen (wie Kurkuma), Phagen (Viren, die gezielt und lokal bakterizid wirken) und Psychobiotika weiter klinisch erforscht werden.

Wegweisend dürften systembiologische Ansätze sein, die möglichst früh, breit und vor allem biopsychosozial ins Krankheitsgeschehen eingreifen. Beispielsweise zielte der Einsatz von Immunmodulatoren wie Infliximab bei der bipolaren Störung auf Prozesse wie Inflammation, gestörte Darmbarriere und Immunfunktion ab, ist jedoch nur bei spezifischen Patientengruppen wirksam und greift damit zu kurz. Eine Therapie sollte zudem individuell an die psychosoziale und immunologische Situation des Patienten angepasst werden, damit wir nicht Gefahr laufen, mit unseren Interventionen zu schaden. Wir brauchen eine psychiatrische Behandlung mit Offenheit für neue und alte Zugänge, also eine Herangehensweise geprägt von wissenschaftlicher Integration und Integrität.

Psychische Erkrankungen entstehen multifaktoriell und müssen auch multifaktoriell betrachtet und behandelt werden. Reduktionismus auf einzelne Neurotransmittersysteme sowie mechanistisches Denken scheinen uns in der Psychiatrie die letzten Jahrzehnte nicht weitergebracht zu haben. Eine moderne Psychiatrie wird das verfügbare Wissen um psychosoziale Faktoren, Ernährung, Mikrobiom, Nerven-, Hormon- und Immunsystem integrieren müssen, um bestmögliche Resultate in der Prävention und in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu erzielen.

bei der Verfasserin

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