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Erhöhtes kardiovaskuläres Risiko – welche therapeutischen Konsequenzen ergeben sich?
Leading Opinions
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12.07.2018
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<p class="article-intro">Migräne scheint ein wichtiger kardiovaskulärer Risikofaktor zu sein: Wie eine neue Studie zeigt, ist Migräne mit einem erhöhten Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, venöse Thromboembolien und Vorhofflimmern assoziiert.<sup>1</sup> Der Kardiologe Prof. Dr. med. Thomas F. Lüscher und der Neurologe Prof. Dr. med. Peter Sandor erklären die klinischen Konsequenzen dieser Studie.</p>
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<p class="article-content"><p>Rund eine Milliarde Menschen weltweit haben Migräne, und die Lebensqualität der Betroffenen ist oft enorm eingeschränkt. Schon in früheren Studien war Migräne assoziiert mit ischämischem Schlaganfall und ischämischen Herzkrankheiten, insbesondere bei Frauen und Migränepatienten mit Aura.<sup>2, 3</sup> Bisher fehlten aber überzeugende epidemiologische Daten. Deshalb analysierten Kasper Adelborg von der Universität Aarhus und Kollegen aus Stanford Daten von 51 032 Migränepatienten aus dem dänischen Patientenregister und von 510 320 gesunden Personen vergleichbaren Alters bei vergleichbarem Anteil der Geschlechter über einen Zeitraum von 19 Jahren.<sup>1</sup> In der Migränekohorte erlitten 2451 Patienten ein kardiovaskuläres Ereignis und 575 Patienten mehr als eines. Über den Beobachtungszeitraum von 19 Jahren war Migräne positiv assoziiert mit Myokardinfarkten, Schlaganfällen, Thromboembolien und Vorhofflattern oder -flimmern.<br /><br /> Die Assoziationen berechneten die Forscher mittels kumulativer Inzidenz. So hatten beispielsweise pro 1000 Personen mit Migräne 25 einen Myokardinfarkt, während pro 1000 Personen ohne Migräne nur 17 einen Infarkt bekamen. Bei ischämischem Schlaganfall waren es 45 pro 1000 bei den Personen mit Migräne und 25 bei denen ohne. Migräne war assoziiert mit einem erhöhten Risiko für Herzinfarkt (Risikoquotient 1,49; 95 % Konfidenzintervall 1,36–1,64), ischämischen Schlaganfall (2,26; 2,11–2,41), hämorrhagischen Schlaganfall (1,94; 1,68–2,23), venöse Thromboembolien (1,59; 1,45–1,74) und Vorhofflimmern oder -flattern (1,25; 1,16– 1,36). Diese Assoziationen persistierten, auch wenn andere Risikofaktoren wie Rauchen und der Body-Mass-Index berücksichtigt wurden. Die Zusammenhänge waren während des ersten Jahres nach der Diagnose am deutlichsten, mit einem achtfach so hohen Risiko für Schlaganfälle und einem doppelt so hohen Risiko für Myokardinfarkte, venöse Thromboembolien und Vorhofflattern oder -flimmern. In der Subgruppenanalyse hatten Patienten mit Aura ein höheres kardiovaskuläres Risiko, ausgenommen für venöse Thromboembolien und Herzinsuffizienz. Auch Frauen hatten ein höheres Risiko.<br /><br /> «Die Studie ist von beeindruckender Grösse und entsprechend wichtig sind die Ergebnisse», sagt Prof. Dr. med. Thomas F. Lüscher, Director of Research, Education & Development und Consultant of Cardiology am Royal Brompton & Harefield Hospital Trust und Imperial College in London «Es scheint, und das macht konzeptionell Sinn, dass eine Erkrankung der Hirngefässe wie die Migräne auch andere Gefässe befällt.» Das kardiovaskuläre Risiko berechnen Kardiologen in Europa mit dem Risikorechner-Score. Anhand des Geschlechts, des Alters, der Höhe von Blutdruck und Cholesterinspiegel und der Tatsache, ob jemand raucht oder nicht, berechnen sie das Risiko, in den kommenden 10 Jahren an Herzinfarkt oder Schlaganfall zu sterben. «Es könnte sein, dass Migräne jetzt als weiterer wichtiger Risikofaktor dazukommt», sagt Lüscher.<br /><br /> Migräne erhöht das kardiovaskuläre Risiko vermutlich auf verschiedenen Wegen. So haben Migränepatienten per se mehr kardiovaskuläre Risikofaktoren. Solche mit Aura haben öfter ein persistierendes Foramen ovale, was zu paradoxen Embolien und kardialen oder zerebralen Ischämien führen könnte. «Dass bei Aurapatienten das Risiko höher war als bei normalen Migränepatienten, könnte auch daran liegen, dass es bei der Aura zu einer Vasokonstriktion kommt», sagt Prof. Dr. med. Peter Sandor, Chefarzt und Ärztlicher Direktor Neurologie an der RehaClinic in Bad Zurzach. «Das könnte sich dann auch in den arteriellen Hirngefässen bemerkbar machen, mit der Folge eines Schlaganfalls.»<br /><br /> Migränepatienten nehmen oft nichtsteroidale Antiphlogistika, die mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko einhergehen. Diskutiert werden zudem entzündliche, vaskuläre, endotheliale oder prokoagulatorische Faktoren oder gemeinsame zugrunde liegende Genmutationen als Ursachen. «Neben strukturellen Veränderungen der Gefässwand mit Einengungen der Koronararterien aufgrund von Cholesterineinlagerungen spielen Gefässspasmen eine wichtige Rolle», sagt Lüscher. So sei zum Beispiel auch bekannt, dass eine Angina durch Kälte und Ärger verstärkt werde. «Beides sind Situationen, in denen es zu Gefässspasmen kommt. Migräniker könnten besonders dazu neigen.» Ein Grund für das erhöhte Risiko für venöse Thromboembolien könnte sein, dass die Patienten bei einer Attacke längere Zeit immobil sind. Sandor rät, bei jedem Migränepatienten routinemässig die üblichen kardiovaskulären Risikofaktoren zu erfragen und zusätzlich das Ausmass an Bewegung und Stress im Leben. «Ich bespreche ausführlich mit den Patienten, wie wir die anderen Risikofaktoren korrigieren können, beziehungsweise bitte den Hausarzt, dies zu tun.»<br /> Insgesamt gesehen war das absolute Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der erwähnten Studie zwar gering – was mit dem jungen Lebensalter von Migränepatienten zusammenhängt –, aber im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung ist das Risiko bedeutend. Die Autoren regen an, eine prophylaktische Behandlung mit ASS oder Clopidogrel bei Migränepatienten zu erwägen. Sandor ist jedoch skeptisch. «Ich halte das noch für verfrüht, weil uns die Evidenz fehlt.» Lüscher meint, die Patienten könnten eher von Medikamenten profitieren, die Gefässspasmen verhindern, zum Beispiel Kalziumantagonisten wie Nifedipin oder Amlodipin. Es sei noch unklar, sagt Lüscher, ob die Medikamente, mit denen man die klassischen Risikofaktoren behandelt, wie Statine oder Antihypertonika, auch das durch eine Migräne erhöhte kardiovaskuläre Risiko senken könnten. «Auf jeden Fall sollte man aber die klassischen Risikofaktoren gut im Griff haben und Migränepatienten erklären, dass das gerade bei ihnen enorm wichtig ist.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Innere_1803_Weblinks_s63_abb1.jpg" alt="" width="2150" height="933" /></p></p>
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<p><strong>1</strong> Adelborg K et al.: Migraine and risk of cardiovascular diseases: Danish population based matched cohort study. BMJ 2018; 360: k96 <strong>2</strong> Kurth T et al.: Migraine and risk of cardiovascular disease in women: prospective cohort study. BMJ 2016; <strong>3</strong> Schürks M et al.: Migraine and cardiovascular disease: systematic review and meta-analysis. BMJ 2009; 339: b3914.</p>
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