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Erblindung infolge einer Psychopharmakotherapie

<p class="article-intro">Ein Patient erleidet infolge einer medikamentösen Behandlung seiner depressiven Symptomatik eine schwere Hautreaktion, die zu seiner Erblindung führt. Schwere arzneimittelinduzierte Hautreaktionen können durch Psychopharmaka induziert werden. Die nachfolgende Kasuistik beschreibt einen solchen Fall und liefert Informationen, um das Risiko zu bewerten und im klinischen Alltag zu berücksichtigen.<sup>1</sup></p> <hr /> <p class="article-content"><h2>&Uuml;berblick</h2> <p>Schwere Hautreaktionen auf Medikamente &ndash; wie die im Fallbericht (siehe Kasten) geschilderten &ndash; sind sehr selten, aber auch sehr gef&auml;hrlich, weil sie mit bleibenden Sch&auml;den und einer hohen Letalit&auml;t einhergehen k&ouml;nnen. Die Hautver&auml;nderungen werden anhand des L&auml;sionsortes (H&auml;nde und F&uuml;sse versus stammbetonte L&auml;sionen) und des Anteils der betroffenen K&ouml;peroberfl&auml;che in verschiedene Syndrome aufgeteilt (internationale Konsensusdefinition). <sup>1</sup> Besonders schwere arzneimittelinduzierte Hauterkrankungen sind die toxisch epidermale Nekrolyse (TEN) (&gt;30 % der K&ouml;rperoberfl&auml;che betroffen) und das Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) (&lt;10 % der K&ouml;rperoberfl&auml;che betroffen). Es gibt fliessende &Uuml;berg&auml;nge zwischen TEN und SJS und es wurde eine SJS/TEN&Uuml;bergangsform definiert (weniger als 30 % und mehr als 10 % der Hautoberfl&auml;che betroffen). TEN, SJS/TEN-&Uuml;bergangsform und SJS stellen eine Krankheitsentit&auml;t mit gemeinsamem klinischem Bild, gemeinsamer Pathogenese und gemeinsamer &Auml;tiologie dar.</p> <h2>Pathophysiologie und Klinik</h2> <p>Dem Stevens-Johnson-Syndrom und der toxischen epidermalen Nekrolyse liegen eine Nekrolyse der Epidermis und/ oder eine Spaltbildung an der Grenze der Epidermis zur Dermis zugrunde. Klinisch zeigen sich die Hautsch&auml;digungen als grossfl&auml;chige Erytheme und ausgedehnte Blasenbildung. Die Epidermis l&ouml;st sich ab &ndash; die Hautver&auml;nderungen sind erosiv. Durch Druck (mit einem Spatel oder Finger) auf vorher gesund erscheinende Haut l&auml;sst sich eine Blase bzw. Hautabl&ouml;sung ausl&ouml;sen. Durch Druck auf eine bestehende Blase/Hautabl&ouml;sung l&auml;sst sich die Blase verschieben bzw. vergr&ouml;ssern (Nikolski- Ph&auml;nomene).<br /> Die Erkrankung betrifft die Haut am K&ouml;rperstamm und die Schleimh&auml;ute, typischerweise im Mund, an den Konjunktiven der Augen, auf den Lippen und an anderen Stellen. Die Hautver&auml;nderungen sind schmerzhaft und werden von einem schweren allgemeinen Krankheitsbild mit Fieber begleitet. Sie entwickeln sich h&auml;ufig fulminant innerhalb von Stunden. Die Blasenbildung erinnert an eine grossfl&auml;chige Verbrennung oder Verbr&uuml;hung. Im Englischen ist von &laquo;raw denuded skin&raquo; die Rede.<br /> Das akute Krankheitsbild dauert in der Regel einige Tage bis einige Wochen an. Typische Komplikationen in dieser Zeit sind Sepsis, Leukopenie, Agranulozytose, St&ouml;rungen des Elektrolyt- und Fl&uuml;ssigkeitshaushaltes sowie Infektionen. Nach der Akutphase setzt die Reepithelisierung ein. In dieser Phase sind Verwachsungen, v.a. der Schleimh&auml;ute, eine typische Komplikation.<br /> Die Letalit&auml;t wird f&uuml;r das SJS mit 9 % und f&uuml;r die TEN mit 48 % angegeben. Die Todesf&auml;lle ereignen sich meist in den ersten Wochen in der Akutphase des SJS/ TEN-Syndroms. Weitere Informationen sind im &Uuml;bersichtsartikel von Mockenhaupt zu finden.<sup>2</sup></p> <h2>Differenzialdiagnosen, ausl&ouml;sende Faktoren, H&auml;ufigkeit, Behandlung</h2> <p>M&ouml;gliche Differenzialdiagnosen sind das Erythema exsudativum multiforme (majus), das generalisierte bull&ouml;se fixe Arzneiexanthem und das &laquo;staphylococcal scalded skin syndrome&raquo; sowie weitere blasenbildende Hauterkrankungen.<br /> F&auml;lle von TEN/SJS sind sehr selten. Die Inzidenz betr&auml;gt 1,5&ndash;1,8 pro 1 Million Personen pro Jahr. In den meisten F&auml;llen von TEN/SJS sind Arzneimittel die Ausl&ouml;ser. Da die schweren arzneimittelbedingten Hautreaktionen so selten sind, werden die F&auml;lle in der Regel erst nach der Markteinf&uuml;hrung des Arzneimittels bekannt. Welche Arzneimittel schwere Hautreaktionen hervorrufen k&ouml;nnen, weiss man aus pharmakoepidemiologischen Studien und aus Post-Marketing-Beobachtungen, wie z.B. dem Pharmakovigilanzprojekt der Schweizer Gesellschaft f&uuml;r Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie. In diesem Projekt werden unerw&uuml;nschte Arzneimittelwirkungen systematisch erfasst und bewertet und an die Zulassungsbeh&ouml;rden gemeldet. Die Medikamente mit einem hohen Risiko f&uuml;r ein TEN/SJS-Syndrom sind in Tabelle 1 aufgelistet.<br /> Schwere Hautreaktionen k&ouml;nnen mit geringer H&auml;ufigkeit auch bei der Einnahme zahlreicher anderer Medikamente auftreten. In circa einem Viertel der F&auml;lle findet sich kein ausl&ouml;sendes Agens. Das Risiko f&uuml;r das Auftreten von SJS/TEN ist in den ersten Tagen bis vier Wochen nach Beginn der Medikamenteneinnahme besonders hoch. Der wichtigste Schritt bei der Behandlung ist es, das ausl&ouml;sende Arzneimittel abzusetzen. Des Weiteren sind symptomatische Massnahmen notwendig, in der Regel auf einer Intensivstation.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1801_Weblinks_s32_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="465" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1801_Weblinks_lo_neuro_1801_s32_fallbericht.jpg" alt="" width="1527" height="963" /></p> <h2>Diskussion</h2> <p>Die im Fallbericht geschilderte Symptomatik ist typisch f&uuml;r die toxisch epidermale Nekrolyse (TEN) &ndash; eine schwere arzneimittelinduzierte Hautreaktion. Der Patient im Fallbericht wurde wegen depressiver Symptomatik behandelt. Zur psychiatrischen Diagnose gibt es keine weiteren Angaben. Lamotrigin ist f&uuml;r die Pr&auml;vention von depressiven Episoden bei Patienten mit bipolaren St&ouml;rungen zugelassen und wird ausserdem (&laquo;off-label&raquo;) zur Behandlung von schweren depressiven bipolaren Depressionen eingesetzt.<br /> Lamotrigin ist ein Medikament mit einem hohen Risiko f&uuml;r TEN/SJS. Der Zeitverlauf zwischen Beginn der Medikation und Hautreaktion &ndash; im Fallbericht vier Wochen nach Lamotrigin-Start &ndash; ist typisch. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Lamotrigin die TEN ausgel&ouml;st hat.<br /> Bei dieser Erkrankung kommt es zu stammbetonten Erythemen und Blasenbildung der Haut und zu erosiven Schleimhautl&auml;sionen. Die Erblindung ist eine Folge des Augenschleimhautbefalls der TEN. Die Entz&uuml;ndung der Lid- und Bindehaut und der anschliessende Regenerationsprozess k&ouml;nnen zu Verwachsungen und &Uuml;berwucherungen sowie Hornhauttr&uuml;bung f&uuml;hren (Symblepharon). Der Sehprozess jenseits der Hornhaut (im Bereich Netzhaut, Nervus opticus und im Gehirn) wird durch SJS/TEN nicht beeintr&auml;chtigt.<br /> Im geschilderten Fall wurde die Sehf&auml;higkeit durch mehrere aufwendige Operationen in Kombination mit einer Brille wieder gebessert: Es wurde Hornhaut transplantiert und eine k&uuml;nstliche Linse eingesetzt (neben anderen Massnahmen). Die SJS/TEN-Entit&auml;t ist eine sehr seltene, aber ernste Nebenwirkung einer Behandlung mit Lamotrigin.</p> <h2>Vorgehen bei einer geplanten Behandlung mit Lamotrigin</h2> <p>Der Arzt und der Patient, die eine Behandlung mit Lamotrigin in Erw&auml;gung ziehen oder durchf&uuml;hren, sollen das Risiko einer schweren Hautreaktion ber&uuml;cksichtigen. Folgende Massnahmen k&ouml;nnen helfen, um das Risiko zu minimieren.</p> <ol> <li>SJS/TEN treten meist w&auml;hrend des ersten Einnahmezyklus eines Arzneimittels auf. Die durchschnittliche Zeitspanne zwischen Einnahmebeginn des Medikamentes und Auftreten von SJS oder TEN betr&auml;gt mehrere Tage bis Wochen. In der Lamotrigin-Eindosierungsphase ist deshalb besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf Hauterscheinungen notwendig.<br /> Der Patient und der verschreibende Arzt sollen &uuml;ber die M&ouml;glichkeit von Hautreaktionen Bescheid wissen (bzw. aufgekl&auml;rt werden), insbesondere in der Eindosierungsphase. Entweder kontrolliert der Patient seine Haut selbst oder es werden regelm&auml;ssige &auml;rztliche Kontrollen vereinbart.</li> <li>Das Risiko f&uuml;r die Entstehung von schweren arzneimittelinduzierten Hautreaktionen h&auml;ngt von der Geschwindigkeit der Eindosierung ab. Niedrige Startdosierungen und Dosissteigerungen in kleinen Schritten und mit zweiw&ouml;chigen Latenzen von Schritt zu Schritt verringern das Risiko. Lamotrigin steht deshalb in abgestuften Dosierungen (2, 5, 25, 50, 100, 200mg je Tablette) zur Verf&uuml;gung.</li> <li>Bei der Verschreibung von Lamotrigin ist die Begleitmedikation zu &uuml;berpr&uuml;fen. Diese kann das Risiko f&uuml;r Hautreaktionen zus&auml;tzlich steigern. Die Medikamente mit einem hohen Risiko f&uuml;r schwere Hautreaktionen sind in der Tabelle 1 aufgelistet.</li> <li>Wenn w&auml;hrend einer Behandlung mit Lamotrigin Hautver&auml;nderungen auftreten, ist rasch zu kl&auml;ren, wie gef&auml;hrlich diese sind. Dabei ist zu bedenken, dass Exantheme unter einer Behandlung mit Lamotrigin sehr h&auml;ufig (12&ndash; 14 % ) vorkommen. Demgegen&uuml;ber sind die schweren Hautreaktionen in Form des Stevens-Johnson-Syndroms und der toxischen epidermalen Nekrolyse selten (zwischen 1:10 000 und 1:1000) und sehr selten (weniger als 1:10 000) (Arzneimittel-Kompendium der Schweiz, 2017). Neu aufgetretene Hautver&auml;nderungen zu Beginn einer Behandlung mit Lamotrigin sind demzufolge sehr viel wahrscheinlicher leichte, selbstlimitierende Hautausschl&auml;ge als eine schwere, potenziell lebensbedrohliche Hautreaktion. Die Unterscheidung zwischen beiden Erkrankungen ist wichtig, weil man bei leichten Hautausschl&auml;gen die Medikation fortf&uuml;hren kann, im Fall von SJS oder TEN hingegen das Lamotrigin sofort stoppen und eine Therapie der fulminant verlaufenden und gef&auml;hrlichen Nebenwirkung einleiten w&uuml;rde. Die Entscheidung wird dadurch erschwert, dass es sich bei einem f&uuml;r SJS- oder TEN-verd&auml;chtigen Hautbefund schwer einsch&auml;tzen l&auml;sst, ob das Maximum der Reaktion erreicht ist oder das Geschehen progredient ist. In der klinischen Praxis ist f&uuml;r den Fall von Hautreaktionen eine rasche Beurteilung wichtig, um die selbstlimitierenden Hautausschl&auml;ge von (beginnenden) schweren Hautreaktionen aus dem SJS/TEN-Bereich zu unterscheiden. Hierzu kann eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Psychiater/ Hausarzt und einem Hautarzt hilfreich sein.</li> <li>Risiko und Nutzen einer Lamotrigin- Behandlung sind abzuw&auml;gen. Eine m&ouml;gliche Lamotrigin-Behandlung sollte nicht aus Angst vor einer schweren Hautreaktion vorschnell verworfen werden.</li> </ol> <p><br /><sup>1</sup>Der Artikel ist eine Zusammenfassung des Vortrages &laquo;Psychopharmaka im klinischen Alltag sicher anwenden &ndash; Fallberichte aus der Praxis&raquo;, gehalten im Rahmen des Symposiums &laquo;Innovation und praktische Beispiele zur Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie&raquo; am Jahreskongress 2017 der Schweizer Gesellschaft f&uuml;r Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP).<br /> <sup>2</sup>Der Fallbericht ist einem Zeitungsartikel entnommen (Schmid-Gugler Brigitte: Verbrannt, vergiftet, erblindet. Erschienen in: &laquo;Ostschweiz am Sonntag&raquo;, Ausgabe vom 23. 6. 2014)</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <ul> <li>Bastuji-Garin S et al.: Clinical classification of cases of toxic epidermal necrolysis, Stevens-Johnson syndrome, and erythema multiforme. Arch Dermatol 1993; 129: 92-6</li> <li>Mockenhaupt M: Schwere arzneimittelinduzierte Hautreaktionen; Stevens-Johnson-Syndrom und toxisch epidermale Nekrolyse. Hautarzt 2014; 65: 415-23</li> <li>Arzneimittel- Kompendium der Schweiz (2017), Basel</li> </ul> </div> </p>
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