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Erblindung infolge einer Psychopharmakotherapie
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Stephan Goppel
Psychiatrie St. Gallen Nord<br> Kassier und Projektleiter der Schweizerischen<br> Gesellschaft für Arzneimittelsicherheit in der<br> Psychiatrie (SGAMSP)<br> E-Mail: stephan.goppel@psgn.ch
Autor:
Prof. Dr. med. Gregor Hasler
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern<br> Präsident der Schweizerischen Gesellschaft<br> für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie<br> (SGAMSP)
30
Min. Lesezeit
01.03.2018
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<p class="article-intro">Ein Patient erleidet infolge einer medikamentösen Behandlung seiner depressiven Symptomatik eine schwere Hautreaktion, die zu seiner Erblindung führt. Schwere arzneimittelinduzierte Hautreaktionen können durch Psychopharmaka induziert werden. Die nachfolgende Kasuistik beschreibt einen solchen Fall und liefert Informationen, um das Risiko zu bewerten und im klinischen Alltag zu berücksichtigen.<sup>1</sup></p>
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<p class="article-content"><h2>Überblick</h2> <p>Schwere Hautreaktionen auf Medikamente – wie die im Fallbericht (siehe Kasten) geschilderten – sind sehr selten, aber auch sehr gefährlich, weil sie mit bleibenden Schäden und einer hohen Letalität einhergehen können. Die Hautveränderungen werden anhand des Läsionsortes (Hände und Füsse versus stammbetonte Läsionen) und des Anteils der betroffenen Köperoberfläche in verschiedene Syndrome aufgeteilt (internationale Konsensusdefinition). <sup>1</sup> Besonders schwere arzneimittelinduzierte Hauterkrankungen sind die toxisch epidermale Nekrolyse (TEN) (>30 % der Körperoberfläche betroffen) und das Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) (<10 % der Körperoberfläche betroffen). Es gibt fliessende Übergänge zwischen TEN und SJS und es wurde eine SJS/TENÜbergangsform definiert (weniger als 30 % und mehr als 10 % der Hautoberfläche betroffen). TEN, SJS/TEN-Übergangsform und SJS stellen eine Krankheitsentität mit gemeinsamem klinischem Bild, gemeinsamer Pathogenese und gemeinsamer Ätiologie dar.</p> <h2>Pathophysiologie und Klinik</h2> <p>Dem Stevens-Johnson-Syndrom und der toxischen epidermalen Nekrolyse liegen eine Nekrolyse der Epidermis und/ oder eine Spaltbildung an der Grenze der Epidermis zur Dermis zugrunde. Klinisch zeigen sich die Hautschädigungen als grossflächige Erytheme und ausgedehnte Blasenbildung. Die Epidermis löst sich ab – die Hautveränderungen sind erosiv. Durch Druck (mit einem Spatel oder Finger) auf vorher gesund erscheinende Haut lässt sich eine Blase bzw. Hautablösung auslösen. Durch Druck auf eine bestehende Blase/Hautablösung lässt sich die Blase verschieben bzw. vergrössern (Nikolski- Phänomene).<br /> Die Erkrankung betrifft die Haut am Körperstamm und die Schleimhäute, typischerweise im Mund, an den Konjunktiven der Augen, auf den Lippen und an anderen Stellen. Die Hautveränderungen sind schmerzhaft und werden von einem schweren allgemeinen Krankheitsbild mit Fieber begleitet. Sie entwickeln sich häufig fulminant innerhalb von Stunden. Die Blasenbildung erinnert an eine grossflächige Verbrennung oder Verbrühung. Im Englischen ist von «raw denuded skin» die Rede.<br /> Das akute Krankheitsbild dauert in der Regel einige Tage bis einige Wochen an. Typische Komplikationen in dieser Zeit sind Sepsis, Leukopenie, Agranulozytose, Störungen des Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushaltes sowie Infektionen. Nach der Akutphase setzt die Reepithelisierung ein. In dieser Phase sind Verwachsungen, v.a. der Schleimhäute, eine typische Komplikation.<br /> Die Letalität wird für das SJS mit 9 % und für die TEN mit 48 % angegeben. Die Todesfälle ereignen sich meist in den ersten Wochen in der Akutphase des SJS/ TEN-Syndroms. Weitere Informationen sind im Übersichtsartikel von Mockenhaupt zu finden.<sup>2</sup></p> <h2>Differenzialdiagnosen, auslösende Faktoren, Häufigkeit, Behandlung</h2> <p>Mögliche Differenzialdiagnosen sind das Erythema exsudativum multiforme (majus), das generalisierte bullöse fixe Arzneiexanthem und das «staphylococcal scalded skin syndrome» sowie weitere blasenbildende Hauterkrankungen.<br /> Fälle von TEN/SJS sind sehr selten. Die Inzidenz beträgt 1,5–1,8 pro 1 Million Personen pro Jahr. In den meisten Fällen von TEN/SJS sind Arzneimittel die Auslöser. Da die schweren arzneimittelbedingten Hautreaktionen so selten sind, werden die Fälle in der Regel erst nach der Markteinführung des Arzneimittels bekannt. Welche Arzneimittel schwere Hautreaktionen hervorrufen können, weiss man aus pharmakoepidemiologischen Studien und aus Post-Marketing-Beobachtungen, wie z.B. dem Pharmakovigilanzprojekt der Schweizer Gesellschaft für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie. In diesem Projekt werden unerwünschte Arzneimittelwirkungen systematisch erfasst und bewertet und an die Zulassungsbehörden gemeldet. Die Medikamente mit einem hohen Risiko für ein TEN/SJS-Syndrom sind in Tabelle 1 aufgelistet.<br /> Schwere Hautreaktionen können mit geringer Häufigkeit auch bei der Einnahme zahlreicher anderer Medikamente auftreten. In circa einem Viertel der Fälle findet sich kein auslösendes Agens. Das Risiko für das Auftreten von SJS/TEN ist in den ersten Tagen bis vier Wochen nach Beginn der Medikamenteneinnahme besonders hoch. Der wichtigste Schritt bei der Behandlung ist es, das auslösende Arzneimittel abzusetzen. Des Weiteren sind symptomatische Massnahmen notwendig, in der Regel auf einer Intensivstation.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1801_Weblinks_s32_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="465" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1801_Weblinks_lo_neuro_1801_s32_fallbericht.jpg" alt="" width="1527" height="963" /></p> <h2>Diskussion</h2> <p>Die im Fallbericht geschilderte Symptomatik ist typisch für die toxisch epidermale Nekrolyse (TEN) – eine schwere arzneimittelinduzierte Hautreaktion. Der Patient im Fallbericht wurde wegen depressiver Symptomatik behandelt. Zur psychiatrischen Diagnose gibt es keine weiteren Angaben. Lamotrigin ist für die Prävention von depressiven Episoden bei Patienten mit bipolaren Störungen zugelassen und wird ausserdem («off-label») zur Behandlung von schweren depressiven bipolaren Depressionen eingesetzt.<br /> Lamotrigin ist ein Medikament mit einem hohen Risiko für TEN/SJS. Der Zeitverlauf zwischen Beginn der Medikation und Hautreaktion – im Fallbericht vier Wochen nach Lamotrigin-Start – ist typisch. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Lamotrigin die TEN ausgelöst hat.<br /> Bei dieser Erkrankung kommt es zu stammbetonten Erythemen und Blasenbildung der Haut und zu erosiven Schleimhautläsionen. Die Erblindung ist eine Folge des Augenschleimhautbefalls der TEN. Die Entzündung der Lid- und Bindehaut und der anschliessende Regenerationsprozess können zu Verwachsungen und Überwucherungen sowie Hornhauttrübung führen (Symblepharon). Der Sehprozess jenseits der Hornhaut (im Bereich Netzhaut, Nervus opticus und im Gehirn) wird durch SJS/TEN nicht beeinträchtigt.<br /> Im geschilderten Fall wurde die Sehfähigkeit durch mehrere aufwendige Operationen in Kombination mit einer Brille wieder gebessert: Es wurde Hornhaut transplantiert und eine künstliche Linse eingesetzt (neben anderen Massnahmen). Die SJS/TEN-Entität ist eine sehr seltene, aber ernste Nebenwirkung einer Behandlung mit Lamotrigin.</p> <h2>Vorgehen bei einer geplanten Behandlung mit Lamotrigin</h2> <p>Der Arzt und der Patient, die eine Behandlung mit Lamotrigin in Erwägung ziehen oder durchführen, sollen das Risiko einer schweren Hautreaktion berücksichtigen. Folgende Massnahmen können helfen, um das Risiko zu minimieren.</p> <ol> <li>SJS/TEN treten meist während des ersten Einnahmezyklus eines Arzneimittels auf. Die durchschnittliche Zeitspanne zwischen Einnahmebeginn des Medikamentes und Auftreten von SJS oder TEN beträgt mehrere Tage bis Wochen. In der Lamotrigin-Eindosierungsphase ist deshalb besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf Hauterscheinungen notwendig.<br /> Der Patient und der verschreibende Arzt sollen über die Möglichkeit von Hautreaktionen Bescheid wissen (bzw. aufgeklärt werden), insbesondere in der Eindosierungsphase. Entweder kontrolliert der Patient seine Haut selbst oder es werden regelmässige ärztliche Kontrollen vereinbart.</li> <li>Das Risiko für die Entstehung von schweren arzneimittelinduzierten Hautreaktionen hängt von der Geschwindigkeit der Eindosierung ab. Niedrige Startdosierungen und Dosissteigerungen in kleinen Schritten und mit zweiwöchigen Latenzen von Schritt zu Schritt verringern das Risiko. Lamotrigin steht deshalb in abgestuften Dosierungen (2, 5, 25, 50, 100, 200mg je Tablette) zur Verfügung.</li> <li>Bei der Verschreibung von Lamotrigin ist die Begleitmedikation zu überprüfen. Diese kann das Risiko für Hautreaktionen zusätzlich steigern. Die Medikamente mit einem hohen Risiko für schwere Hautreaktionen sind in der Tabelle 1 aufgelistet.</li> <li>Wenn während einer Behandlung mit Lamotrigin Hautveränderungen auftreten, ist rasch zu klären, wie gefährlich diese sind. Dabei ist zu bedenken, dass Exantheme unter einer Behandlung mit Lamotrigin sehr häufig (12– 14 % ) vorkommen. Demgegenüber sind die schweren Hautreaktionen in Form des Stevens-Johnson-Syndroms und der toxischen epidermalen Nekrolyse selten (zwischen 1:10 000 und 1:1000) und sehr selten (weniger als 1:10 000) (Arzneimittel-Kompendium der Schweiz, 2017). Neu aufgetretene Hautveränderungen zu Beginn einer Behandlung mit Lamotrigin sind demzufolge sehr viel wahrscheinlicher leichte, selbstlimitierende Hautausschläge als eine schwere, potenziell lebensbedrohliche Hautreaktion. Die Unterscheidung zwischen beiden Erkrankungen ist wichtig, weil man bei leichten Hautausschlägen die Medikation fortführen kann, im Fall von SJS oder TEN hingegen das Lamotrigin sofort stoppen und eine Therapie der fulminant verlaufenden und gefährlichen Nebenwirkung einleiten würde. Die Entscheidung wird dadurch erschwert, dass es sich bei einem für SJS- oder TEN-verdächtigen Hautbefund schwer einschätzen lässt, ob das Maximum der Reaktion erreicht ist oder das Geschehen progredient ist. In der klinischen Praxis ist für den Fall von Hautreaktionen eine rasche Beurteilung wichtig, um die selbstlimitierenden Hautausschläge von (beginnenden) schweren Hautreaktionen aus dem SJS/TEN-Bereich zu unterscheiden. Hierzu kann eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Psychiater/ Hausarzt und einem Hautarzt hilfreich sein.</li> <li>Risiko und Nutzen einer Lamotrigin- Behandlung sind abzuwägen. Eine mögliche Lamotrigin-Behandlung sollte nicht aus Angst vor einer schweren Hautreaktion vorschnell verworfen werden.</li> </ol> <p><br /><sup>1</sup>Der Artikel ist eine Zusammenfassung des Vortrages «Psychopharmaka im klinischen Alltag sicher anwenden – Fallberichte aus der Praxis», gehalten im Rahmen des Symposiums «Innovation und praktische Beispiele zur Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie» am Jahreskongress 2017 der Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP).<br /> <sup>2</sup>Der Fallbericht ist einem Zeitungsartikel entnommen (Schmid-Gugler Brigitte: Verbrannt, vergiftet, erblindet. Erschienen in: «Ostschweiz am Sonntag», Ausgabe vom 23. 6. 2014)</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<ul> <li>Bastuji-Garin S et al.: Clinical classification of cases of toxic epidermal necrolysis, Stevens-Johnson syndrome, and erythema multiforme. Arch Dermatol 1993; 129: 92-6</li> <li>Mockenhaupt M: Schwere arzneimittelinduzierte Hautreaktionen; Stevens-Johnson-Syndrom und toxisch epidermale Nekrolyse. Hautarzt 2014; 65: 415-23</li> <li>Arzneimittel- Kompendium der Schweiz (2017), Basel</li> </ul>
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