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„Ein kleiner Schritt für Neurologen, aber ein großer für die MS-Therapie in Europa“
Jatros
30
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01.12.2016
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<p class="article-intro">Anfang 2017 soll eine neue Leitlinie zur Pharmakotherapie der Multiplen Sklerose erscheinen. Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Mannheim kommentierte einer der Hauptautoren, Prof. Dr. med. Ralf Gold aus Bochum, den Entwurf. Die neue Leitlinie breche eine klare Lanze für die Frühtherapie, so der Neurologe. Die neuesten Daten zu Benefits und Sicherheit der einzelnen Medikamente werden zusammengefasst und helfen dem Arzt bei der Therapiewahl. Für den Standard der Therapie in Europa ist die Leitlinie ein großer Schritt.</p>
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<p class="article-content"><p>Die neue Leitlinie zur Pharmakotherapie der Multiplen Sklerose (MS) definiert zum ersten Mal für ganz Europa, wie man bisherige und neue Medikamente einsetzen soll. Auf dem Kongress der DGN in Mannheim kommentierte Prof. Ralf Gold, einer der Hauptautoren und Direktor der Neurologie an der Ruhr-Universität Bochum, den Entwurf. „Wir wollten eine einheitliche Therapiestrategie für Europa definieren, obwohl wir natürlich wissen, dass manche Länder sie nicht umsetzen können, weil es die Präparate dort nicht gibt oder sie zu teuer sind.“ Herausgegeben haben die Leitlinie das European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) und die European Academy of Neurology (EAN). „Als sich die beiden Neurologenorganisationen ENS und EFNS vor einigen Jahren zur EAN zusammenschlossen, kam der Gedanke auf, für die wichtigsten Krankheitsbilder Leitlinien herauszugeben“, erzählt Prof. Heinz Wiendl, Mitautor und Direktor der Klinik für Neurologie an der Uni Münster und einer der Leitlinienautoren. Die ECTRIMS habe damals begonnen, Leitlinien nach und nach zu erstellen. „Sie ersetzen nicht die nationalen Leitlinien, sondern sind ein notwendiger und politisch gemeinter Versuch, den Standard der Versorgung der wichtigsten Erkrankungen zu vereinheitlichen.“ <br />Mit den neuen MS-Medikamenten, die es seit einigen Jahren gebe, sei es eine große Herausforderung, dem einzelnen Patienten zur richtigen Therapie zu raten, sagte Hauptautorin Dr. Susana Otero-Romero von der Universität Barcelona auf dem ECTRIMS-Kongress<sup>1</sup> in London, an dem sie den Entwurf vorgestellt hatte. „Es werden demnächst auch neue Präparate auf den Markt kommen, deshalb fasst die neue Leitlinie die neuesten Daten zu Benefits und Sicherheit der einzelnen Medikamente zusammen und hilft dem Arzt bei der Wahl.“</p> <h2>Europa im Blick</h2> <p>Die Leitlinie richtet sich an Erwachsene mit MS und mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS), die nicht die Kriterien für eine MS erfüllen. Natürlich habe man mit der Leitlinie Europa im Blick, sagte Otero-Romero, aber die Empfehlungen berücksichtigten individuelle Gegebenheiten in den einzelnen Ländern nicht. Die Leitlinie fokussiert auf krankheitsmodifizierende Medikamente, die aktuell von der EMA zugelassen sind, und gibt keine Empfehlungen für die Therapie von Schüben oder zur Linderung von Symptomen.</p> <p>Die Leitlinien-Arbeitsgruppe – Ärzte und Vertreter von Patientenorganisationen – hat sich auf bestimmte Fragen konzentriert:</p> <ol> <li>Wie man CIS-Patienten therapiert</li> <li>Wie man remittierende und progressive MS behandelt</li> <li>Wie man das Ansprechen auf die Therapie überwacht</li> <li>Wann man auf ein anderes Medikament umsteigt oder ein Medikament stoppt</li> <li>Wie man in besonderen Situationen therapiert, etwa in der Schwangerschaft</li> </ol> <p>„Ehrlich gesagt ändert sich mit der neuen Leitlinie nichts Wesentliches“, sagt Wiendl. Sie sei aber trotzdem wichtig. „Es ist wie bei der Europäischen Union: Der Konsens zählt.“ Er findet alle Punkte wichtig, denn sie sorgten dafür, dass ein Minimalstandard in der Therapie für alle Länder formuliert und so die Therapie vereinheitlicht werde. „Die Immuntherapie wird immer anspruchsvoller und komplexer“, sagt er, „deshalb ist es immer wichtiger, die Nebenwirkungen zu berücksichtigen – vor allem weil wir jetzt mehrere wirk­same Medikamente zur Auswahl haben.“</p> <h2>Eine Lanze für die Frühtherapie</h2> <p>Die neue Leitlinie breche klar eine Lanze für die Frühtherapie, kommentierte Gold auf dem DGN in Mannheim. „Reichen Basistherapeutika nicht aus, sollte man stärker wirksame Medikamente einsetzen.“ Alle krankheitsmodifizierenden Medikamente sollten nur in Zentren verschrieben werden, in denen die Patienten adäquat monitoriert und umfassend untersucht und unerwünschte Wirkungen rasch detektiert und kompetent behandelt werden können, berichtete Otero-Romero in London. Patienten mit CIS und einer abnormalen MRT, die nicht die MS-Kriterien erfüllen, können mit Interferon oder Glatirameracetat behandelt werden. Patienten mit schubförmig-remittierender MS sollte man frühzeitig krankheitsmodifizierende Medikamente anbieten. Die Art des Präparates wählt man in Absprache mit dem Patienten und gemäß seinen Komorbiditäten, der Schwere und Aktivität seiner MS, potenziellen Nebenwirkungen des Präparates und je nach Verfügbarkeit. „Die Leitlinie gibt aber keine konkreten Empfehlungen für einzelne Präparate, denn es gibt ja keine Head-to-Head-Studien“, sagte Gold.</p> <p>Der Therapieerfolg wird mittels klinischer Untersuchung und MRT überprüft. Die MRT sollte zu Beginn der Behandlung und nach 12 Monaten durchgeführt werden und kann natürlich angepasst werden je nach Art des Präparates oder wenn die Krankheit voranschreitet. Spricht ein Patient schlecht auf Interferon oder Glatiramer­acetat an, sollte man ihm ein wirksameres Medikament vorschlagen. Muss man dieses absetzen, entweder weil es auch nicht wirkt oder weil der Patient unter zu vielen Nebenwirkungen leidet, kann man ihm ein weiteres hochwirksames Präparat anbieten. Hierbei muss man aber zum einen die Krankheitsaktivität berücksichtigen – je mehr die Krankheit voranschreitet, desto wichtiger ist eine weitere Therapie –, zum anderen sind auch die Halbwertszeit und die pharmakologische Wirkung des vorherigen Präparates zu berücksichtigen und die Möglichkeit, dass die Krankheit erneut aufflammen kann, was insbesondere bei Natalizumab der Fall ist. Die Arbeitsgruppe habe sich auf erste Empfehlungen geeinigt, so das Fazit von Otero-Romero in London, „aber die Arbeit geht weiter“.</p> <h2>Ein enormer Fortschritt auf politischer Ebene</h2> <p>Länder wie Deutschland, in denen seit vielen Jahren eine differenzierte MS-Therapie stattfinde, könnten enttäuscht sein, sagt Wiendl, denn die neue Leitlinie sei längst nicht so detailliert wie die deutsche Version. „Wir beantworten nur die wichtigsten Fragen und diese auch nur auf Basis eines Evidenzrahmens, der für alle Beteiligten gleichermaßen erreicht werden konnte – also so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner.“ Bei vielen Punkten entspreche das aber den Empfehlungen, die Neurologen in Deutschland seit einigen Jahren bereits verfolgen. Manche Kritiker sagen, die Leitlinie würde keinen wesentlichen Fortschritt darstellen. „Es war aber ein enormer Fortschritt auf politischer Ebene: Allein die Tatsache, dass mehrere europäische Länder sich geeinigt haben, ist ein Erfolg.“ Abgesehen davon findet Wiendl das präzise methodologische Vorgehen vorbildlich. „Die Leitlinie hat ein hohes Evidenzniveau und wir sind nach der anspruchsvollen GRADE-Klassifikation vorgegangen. Für den behandelnden Neurologen ist sie vielleicht nur ein kleiner Schritt, aber für den Standard der MS-Therapie in Europa ein sehr großer.“</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Otero-Romero S et al: ECTRIMS-EAN Clinical Practice Guideline on Pharmacological Management of Multiple Sclerosis. ECTRIMS-EAN MS Treatment Guideline. <br />ECTRIMS Online Library. Sep 16, 2016; 147082</p>
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