
Differenzialdiagnose einer ersten depressiven Episode
Das Interview führte Dr. med. Felicitas Witte
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. med. Thomas Müller
Chefarzt und Ärztlicher Direktor
Privatklinik Meiringen
Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Bipolare Störungen
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Stellt sich ein Patient erstmals mit einer depressiven Episode vor, stellt sich die Frage, ob es eine unipolare oder eine bipolare Störung ist. Essenziell sei eine sorgfältige Anamnese, sagt Prof. Thomas Müller, einer der Autoren der schweizerischen Behandlungsempfehlungen zu bipolaren Störungen und Psychiater in Meiringen.
Herr Professor Müller, wie finden Sie heraus, ob eine erste depressive Episode bei einem Patienten auf eine unipolare Depression zurückzuführen ist oder ob er eine bipolare Störung hat?
T. Müller: Das ist eine der schwierigsten Herausforderungen in der Sprechstunde. Unipolare Depressionen sind viel häufiger als bipolare Störungen: Die Lebenszeitprävalenz einer unipolaren Depression beträgt rund 16,2%, die der bipolaren Störungen 4,5%.1,2 Eine depressive Episode bei einer bipolaren Störung unterscheidet sich klinisch oft nicht von der depressiven Episode im Rahmen einer unipolaren Depression. Ohne eine sorgfältige Diagnostik kann es durchaus passieren, dass man eine bipolare Störung übersieht.
In einer Stichprobe von 85358 US-amerikanischen Erwachsenen wurde bei 4% von ihnen mittels Mood Disorder Questionnaire eine bipolare Störung diagnostiziert. Fast jeder Dritte von ihnen berichtete, bei ihm sei eine unipolare Depression festgestellt worden, aber nie eine bipolare Störung.3 Die wahre Prävalenz bipolarer Depressionen könnte also höher sein als vermutet.
Welche Konsequenzen hat es, wenn man eine bipolare Depression für eine unipolare hält?
T. Müller: Die Standard-Antidepressiva wirken wahrscheinlich weniger. Leitlinien empfehlen sie nur als zusätzliche Therapie bei gleichzeitiger Gabe von Stimmungsstabilisierern. Ob Antidepressiva bei bipolarer Störung schaden, ist nicht ganz klar. In Studien aus den 1980er/1990er-Jahren gab es Hinweise, dass Antidepressiva die Stimmungszyklen beschleunigen, die Patienten destabilisieren und eine manische oder hypomanische Phase auslösen. Hier wurden aber ältere Antidepressiva eingesetzt, vor allem Trizyklika.
Neuere Studien mit SSRI zeigten nicht einheitlich, dass die Präparate zur Destabilisierung oder zum Wechsel in eine manische oder hypomanische Phase führen. SSRI sind nicht so wirksam gegen bipolare Depressionen, aber sie sind wohl nicht so gefährlich wie früher gedacht. Trotzdem kann es immer wieder passieren, dass SSRI einen Stimmungswechsel verursachen. Ich erinnere mich an einen jungen Mann mit einer mittelschweren depressiven Episode. Ich verschrieb ihm ein SSRI, nämlich Citalopram; als es nicht wirkte, wechselte ich auf Duloxetin, zunächst 60mg. Er sprach darauf recht gut an und wir erhöhten die Dosis auf 90mg. Plötzlich ist er manisch geworden. Er fuhr mit 180 Stundenkilometern auf einer Autobahn, wo nur 120 erlaubt waren. Da wusste ich, dass meine Verdachtsdiagnose falsch war: Der junge Mann litt unter einer bipolaren Störung.
Wie finden Sie nun heraus, ob ein Patient mit depressiver Symptomatik eine bipolare oder eine unipolare Depression hat?
T. Müller: Das Wichtigste ist eine ausführliche Anamnese inklusive Familienanamnese. Aus Studien wissen wir, dass bestimmte demografische und klinische Faktoren eher bei einer bipolaren Depression auftreten (Tab. 1).4 Patienten mit bipolarer Depression haben öfter Familienmitglieder mit bipolarer Störung, sie sind im Schnitt jünger als diejenigen mit unipolarer Depression und sie hatten öfter schon mehrere depressive Episoden erlebt oder waren deshalb gar in psychiatrischen Kliniken. Haben die Betroffenen schon mal depressive Episoden erlebt, traten öfter Schwierigkeiten mit der antidepressiven Therapie auf. Manche Patienten wurden depressiver oder reizbarer, bei anderen besserte sich die Stimmung, manche wurden hypomanisch oder manisch unter den Antidepressiva.

Tab. 1: Mögliche Zeichen für eine bipolare Störung bei depressiven Patienten (nach Goodwin FK, 2007)4
Um dies herauszuarbeiten, ist eine sorgfältige Anamnese inklusive Familienanamnese unerlässlich. Hat man einen Patienten mit Depressionen, sollte man ihn regelmässig einbestellen und den psychopathologischen Befund erheben. Nur so kann man dann erkennen, ob nicht doch eine bipolare Depression dahintersteckt. Mir fällt aber immer mehr auf, dass die jungen Kollegen nicht mehr richtig lernen, einen sauberen psychopathologischen Befund zu erheben. Wir älteren Ärzte haben leider immer weniger Zeit, ihnen das beizubringen – zu sehr müssen wir uns um die Bürokratie kümmern.
Zurück zu unseren Patienten: Welche klinischen Zeichen sprechen eher für eine bipolare Depression?
T. Müller: Die Betroffenen sind nicht so völlig niedergeschlagen wie die Patienten mit unipolarer Depression. Ich versuche, sehr sorgfältig auf die Mimik des Patienten zu achten. Mache ich einen Witz und blitzt es in den Augen des Patienten ganz kurz auf oder zuckt gar ein Lächeln über sein Gesicht; er lächelt gegen; dies spricht eher für eine bipolare Depression. Ein Patient mit unipolarer Depression lacht nicht, selbst über den lustigsten Witz nicht. Sein Gesicht ist erstarrt und es ist tiefe Traurigkeit darin zu erkennen.
Patienten mit bipolarer Depression sind zwar niedergeschlagen, aber eher unruhig, sie sprechen schneller oder gedrängter, haben manchmal sogar mehr Appetit als die unipolar-depressiven und nehmen Gewicht zu. Patienten mit unipolarer Depression klagen oft über Durchschlafstörungen, sie grübeln nachts, wälzen sich im Bett umher und wachen ständig auf. Diejenigen mit bipolarer Depression berichten eher über einen bleiernen Schlaf bis zur Hypersomnie. Eine Patientin von mir hat immer 20 Stunden pro Tag geschlafen und fühlte sich auch dann noch wie gerädert.

Tab. 2: Kriterien der vier affektiven Episodenarten nach ICD-10
Können standardisierte Fragebogen bei der Differenzialdiagnose helfen?
T. Müller: Möglicherweise. Anwenden kann man zum Beispiel den Mood Disorder Questionnaire (MDQ). Der Screening-Test wurde von Hierschfeld und Kollegen5 entwickelt und von Hautzinger und Meyer6 ins Deutsche übersetzt. Der Test besteht aus 15 Fragen und es dauert ungefähr fünf Minuten, ihn auszufüllen. Mit den ersten 13 Fragen soll herausgefunden werden, ob der Patient früher schon mal manische oder hypomanische Symptome erlebt hat. Frage 14 und 15 beziehen sich darauf, ob diese Situationen schon mal gleichzeitig auftraten und wie sehr sie das tägliche Leben beeinträchtigten. Patienten, die mindestens 7 der 13 Fragen mit Ja beantworten und die angaben, die Situationen würden ein moderates oder ernstes Problem darstellen, gelten als positiv gescreent.
Wie aussagekräftig ist der MDQ?
T. Müller: In einer Studie5 mit 198 Patienten zeigte er eine Sensitivität von 0,73 und eine Spezifität von 0,90. Er kann also fast drei Viertel der Patienten mit einer bipolaren Störung identifizieren.
Wie behandeln Sie die Depression im Rahmen einer bipolaren Störung?
T. Müller: Das grösste Risiko ist, dass wir mit den Antidepressiva eine Manie auslösen. Eine Manie finden die Patienten zwar erst einmal super. Geht es ihnen dann aber wieder schlechter, realisieren sie den allfälligen finanziellen oder sozialen Schaden. Unser Ziel ist deshalb eine Punktlandung. Wenn es uns gelingt, den Patienten so einzustellen, dass er kurzfristig etwas hypoman nachschwankt, ist das in Ordnung. Wir wollen ihn aus seiner niedergeschlagenen Stimmung herausholen, aber nicht so sehr, dass er manisch wird. Antidepressiva führen bei einer bipolaren Depression vermutlich dazu, dass die Manie rascher auftritt und heftiger. Die Manie kommt eh, die Frage ist nur, wann. Mit den Antidepressiva kommt sie womöglich schneller.
Welche Präparate setzen Sie ein?
T. Müller: Bei der bipolaren Depression besteht die beste Evidenz für Quetiapin als Monotherapie, gefolgt von Lithium und Lurasidon. Das haben wir von der Schweizerischen Gesellschaft für Bipolare Störungen auch so in unserer Behandlungsempfehlung7 aufgeschrieben.
Auch kann man ein stimmungsstabilisierendes beziehungsweise antimanisch wirkendes Präparat – etwa Lithium oder atypische Antipsychotika – mit Lamotrigin oder einem Antidepressivum, vor allem SSRI oder Bupropion, kombinieren. Allerdings ist die Wirksamkeit von Lamotrigin nur für die Prophylaxe depressiver Episoden eindeutig belegt, ausserdem muss das Medikament wegen der Gefahr schwerer dermatologischer Nebenwirkungen sehr langsam aufdosiert werden. Lurasidon weist ein besseres Nebenwirkungsprofil auf und wirkte in den Studien sowohl als Einzeltherapie als auch in Kombination mit Lithium oder Valproat.
Wie steht es um die kontroverse Diskussion, ob Antidepressiva überhaupt wirken?
T. Müller: Einzelstudien zeigten in der Tat keine konsistente Wirksamkeit. Eine neue Metaanalyse bestätigt aber unseren klinischen Eindruck, dass Antidepressiva bei der bipolaren Depression helfen, allerdings deutlich weniger wirken als bei der unipolaren Depression. Das CANMAT/ISBD-Update bezeichnet stimmungsstabilisierende Medikamente plus SSRI (ausser Paroxetin, das nicht empfohlen wird) oder Bupropion als mögliche Behandlungsstrategie der zweiten Wahl. Für andere Antidepressiva halten wir die Datenlage für zu ungenügend, um eine Empfehlung abzugeben.

Tab. 3: Diagnostische Kriterien affektiver Episoden
Welche Rolle spielt die Psychotherapie?
T. Müller: Während bei der Manie die Medikamente im Vordergrund stehen, sollte man bei der bipolaren Depression von Beginn an Psychotherapie und Medikamente gemeinsam einsetzen. Bewährt haben sich verhaltenstherapeutische und interpersonelle Strategien: positive Aktivitäten aufbauen, Kognition und zwischenmenschliches Verhalten verändern, die Angehörigen mit einbeziehen.
Für essenziell halte ich eine gute Patientenedukation. Der Patient muss wissen, dass sich seine Depression jederzeit in eine hypomanische oder manische Phase entwickeln kann. Ich versuche ihm zu vermitteln, auf welche Warnzeichen er und seine Angehörigen achten können: zum Beispiel wenn er plötzlich nicht mehr gut schläft, wenn er Lust hat, Lotto zu spielen, oder auf einmal der Gedanke aufkommt, sich ein neues, schnelles Auto zu kaufen. Gerne empfehle ich den Betroffenen und ihren Angehörigen das Buch «Die Welt im Rücken» von Thomas Melle. Er leidet seit vielen Jahren unter einer bipolaren Störung und erzählt in seinem Buch von seinen persönlichen Dramen und wie es ihm langsam besser geht. Ich finde, ein aussergewöhnlicher Einblick in das, was in den Betroffenen vorgeht. Mir hat das sehr geholfen, meine Patienten zu verstehen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Literatur:
1 Kessler RC et al.: JAMA 2003; 289: 3095-3105 2 Merikangas KR et al.: Arch Gen Psychiatry 2007; 64: 543-552 3 Hirschfeld RM et al.: J Clin Psychiatry 2003; 64: 53-59 4 Goodwin FK, Jamison KR: Manic-depressive illness: bipolar disorders and recurrent depression. 2nd ed. New York: Oxford University Press, 2007 5 Hirschfeld RMA et al.: Am J Psychiatry 2000; 157: 1873-1875 6 Hautzinger M, Meyer TD: Diagnostik affektiver Störungen (Kompendium Psychologische Diagnostik, Band 3). Göttingen: Hogrefe, 2000 7 Hasler G et al.: Schweizerisches Medizinforum 2019; 19: 537-554
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. med. Thomas Müller
Chefarzt und Ärztlicher Direktor
Privatklinik Meiringen
Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Bipolare Störungen
Das könnte Sie auch interessieren:
Psychotherapie der chronischen insomnischen Störung: Stand der Forschung und aktuelle Entwicklungen
Die chronische insomnische Störung ist durch Beschwerden zu gestörtem Schlaf und eine damit verbundene reduzierte Leistungsfähigkeit charakterisiert. Die kognitive Verhaltenstherapie der ...
Machine Learning zur Verbesserung der Versorgung ausländischer Patient:innen
Die zunehmende Diversität aufgrund von Migration bringt spezifische Herausforderungen hinsichtlich Kommunikation, kultureller Deutung von Symptomen sowie institutioneller Strukturen mit ...
Selbsthilfe als Ergänzung zur psychiatrischen Versorgung
Gesundheitsbezogene Selbsthilfe stellt ein komplementäres Versorgungsangebot entlang der Gesundheitspfade dar. Daher sollten Fachkräfte anhand von Behandlungsempfehlungen beurteilen, ob ...