
Die Bedeutung von Placebo und Nocebo in der psychiatrischen Therapie
Autor:
Prof. Dr. med. Sebastian Walther
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern
E-Mail: sebastian.walther@upd.unibe.ch
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Für die klinisch Tätigen sind Placebo und Nocebo tägliche Begleiter in der Arbeit mit Patient*innen, die im Zeitdruck der modernen Medizin zu wenig reflektiert werden. Gleichzeitig üben Placeboeffekte eine unglaubliche Faszination aus, berühren sie doch die Essenz der klinischen Tätigkeit: den Umgang und das Management von Erwartungen an die Behandlung.
Das Placebo ist «eine Intervention, die eine medizinische Behandlung simulieren soll, wobei vom Untersucher davon ausgegangen wird, dass sie selbst keine Wirkung auf die Beschwerden hat».1 Placebos werden in klinischen Studien zur Kontrolle von Beobachter- und Erwartungseffekten genutzt. Der Placeboeffekt ist eine «Veränderung der Erkrankung, die auf diese symbolische Behandlung zurückzuführen ist und nicht auf spezifische … Eigenschaften dieser Behandlung».1 Dagegen sind Noceboeffekte die Ergebnisse der Erwartung negativer Folgen einer Intervention. So treten beispielsweise Nebenwirkungen bei rund 20% der Patient*innen in der Placebogruppe klinischer Studien auf.2 Die Noceboeffekte können zu echten Problemen werden, wenn beispielsweise Betroffene effektive Behandlungen wegen solcher erwarteten Nebenwirkungen abbrechen.3
Was sagt die Studienlage?
Zur Wirkung von Placebos und Nocebos gibt es inzwischen eine Vielzahl von Studien. Die Erwartungen und Erfahrungen der Betroffenen spielen eine grosse Rolle. So wirken zwei Placebotabletten besser als eine und abhängig vom kulturellen Kontext entscheiden bestimmte Tablettenfarben über die erwarteten Effekte; so wurden Probanden nach Einnahme einer blauen Tablette schläfriger als nach einer roten.4 Neben den individuellen Erfahrungen durch Konditionierung im Gesundheitssystem sind soziale Aspekte extrem wichtig für die Placebo- und Noceboeffekte. So kann durch soziales Lernen Schmerzlinderung durch ein Placebo erreicht werden, wenn Probanden positive Effekte einer Salbe bei anderen beobachten.5 Gleichzeitig verbreiten sich Noceboinformationen unglaublich schnell in sozialen Gruppen.3,6 Dieser Aspekt ist besonders wichtig für den klinischen Alltag, wenn wir bedenken, wie viele Patient*innen sich primär im Familien- und Freundeskreis über Wirksamkeit oder Nebenwirkungen einer Behandlung informieren. Exponentiell schwieriger zu verstehen sind die Effekte von Informationen aus den Tiefen des Internets.
Wir können als Behandelnde also davon ausgehen, dass Placebo und Nocebo aus zwei Quellen erwachsen: einerseits aus Erwartungen aus den Informationen über die Behandlung (z.B. von der Ärztin) und unbewussten Grunderwartungen (z.B. Kompetenz der Behandler), andererseits aus individuellen Erfahrungen aus der eigenen Krankheitsgeschichte und den Informationen von Dritten (Meinungen aus dem Internet, Krankheitserfahrungen aus dem Umfeld). Häufig sind uns als Behandelnden die Motive und expliziten Erwartungen der Patient*innen an die Behandlung nicht klar.
Ausserhalb des strengen medizinischen Kontextes können Anbieter beispielsweise starke Erwartungen an die Behandlungserfolge schüren und mit gezielter Gestaltung der Heilungsumgebung verstärken. Das geeignete Narrativ zur Behandlung ist dabei viel wichtiger als die Evidenzbasis. Durch die Pflicht zur Aufklärung über die wissenschaftlich bekannten Wirkungen und Nebenwirkungen unserer Interventionen senken wir die Erwartung positiver Behandlungseffekte (Placebo) und verstärken die Erwartung negativer Behandlungseffekte (Nocebo).
Placeboeffekte werden durch verschiedene Faktoren beeinflusst
In der wissenschaftlichen Literatur wurde deutlich, dass Placeboeffekte bei allen Erkrankungen vorkommen, aber etwas stärker sind bei Schmerzen oder psychischen Störungen.3 Allerdings konnte kein Einfluss von Alter, Geschlecht, Suggestibilität oder Optimismus festgestellt werden.7 Placeboeffekte treten häufiger auf bei unbalancierter Randomisierung in Multicenterstudien und in Abhängigkeit des Krankheitsschweregrades zu Beginn der Behandlung. So ist bekanntermassen der Placeboeffekt bei leichter Depression deutlicher als bei schweren Depressionen.
Im Rahmen klinischer Studien tragen mindestens drei Faktoren zum Gesamterfolg bei (Abb. 1):
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Die Spontanveränderung des Erkrankungsverlaufs sowie Fluktuationen von Symptomen bei wiederholter Messung, beides wird in unbehandelten Kontrollgruppen sichtbar.
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Veränderungen der Symptomatik aufgrund von Erwartungen gegenüber einer Behandlung, wie sie in der Placebogruppe erkennbar werden.
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Die spezifischen physiologischen Effekte der Intervention.
Es kommen auch in der Verumgruppe alle drei Effekte vor. Daher sind die Ursache der Verbesserung einer Symptomatik in der Verumgruppe nie ausschliesslich spezifische physiologische Effekte, sondern eine Mischung aller drei genannten Faktoren.
Insgesamt ergibt sich ein Paradoxon: Während wir viel vom Placeboeffekt aus kleineren, experimentellen Studien oder komplexen Studien, z.B. mit Hirnstimulation, erfahren haben, ist der Placeboeffekt in Metaanalysen von randomisierten, placebokontrollierten Pharmakotherapiestudien ziemlich klein.3,7 Wir können davon ausgehen, dass unsere Therapien insgesamt sehr erfolgreich sind und sich bei der Überlegenheit von Verum gegenüber Placebo mit Interventionen der inneren Medizin messen können.8 Dennoch sind Placebo und Nocebo im klinischen Alltag allgegenwärtig. Bei der Beurteilung randomisierter klinischer Studien entgeht den Klinikern häufig, dass bei allen Interventionen der Spontanverlauf sowie Erwartungseffekte mitspielen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um die Verum- oder Placebogruppe handelt. Schwieriger noch ist die Beurteilung bei Psychotherapiestudien, die in der Regel zwar verblindete Messungen, jedoch selten verblindete Patient*innen beinhalten.7 Der Vergleich der wirksamen Therapie mit einer Wartegruppe ist kompliziert. Daneben tragen die unspezifischen Wirkfaktoren wie die wahrgenommene Güte der therapeutischen Beziehung mit zum Erfolg von Behandlungen bei, egal ob es sich um die Scheinbehandlung oder die untersuchte Therapie handelt.
Information und Weiterbildung sind gefragt
Ein Expertenkonsensus empfiehlt für die klinische Praxis, dass sich Behandelnde zu Placebo und Nocebo weiterbilden, dass Behandelnde die Erwartungen ihrer Patient*innen kennen und diese über Placebo- und Noceboeffekte aufklären.9 So sollten Patient*innen wissen, dass Placeboeffekte grundsätzlich gut sind und Noceboeffekte Nebenwirkungen hervorrufen können. Die Informationen müssen jeweils dem Kontext und dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand angepasst werden.
Die klinische Tätigkeit in der Psychiatrie setzt sich stets mit einer grossen Zahl an möglichen Interventionen mit sehr variabler Evidenz sowie mit enorm vielen Meinungen auseinander. Daher ist es wichtig, die Evidenzlage gut zu kennen und die Effekte von Placebo und Nocebo gut einordnen zu können.
Literatur:
1 Turner JA et al.: The importance of placebo effects in pain treatment and research. JAMA 1994; 271(20): 1609-14 2 Barsky AJ et al.: Nonspecific medication side effects and the nocebo phenomenon. JAMA 2002; 287(5): 622-7 3 Colloca L, Barsky AJ: Placebo and nocebo effects. N Engl J Med 2020; 382(6): 554-61 4 Blackwell B et al.: Demonstration to medical students of placebo responses and non-drug factors. Lancet 1972; 1(7763): 1279-82 5 Colloca L, Benedetti F: Placebo analgesia induced by social observational learning. Pain 2009; 144(1-2): 28-34 6 Benedetti F et al.: Nocebo and placebo modulation of hypobaric hypoxia headache involves the cyclooxygenase-prostaglandins pathway. Pain 2014; 155(5): 921-8 7 Weimer K et al.: Placebo eff ects in psychiatry: mediators and moderators. Lancet Psychiatry 2015; 2(3): 246-57 8 Leucht S et al.: Putting the efficacy of psychiatric and general medicine medication into perspective: review of meta-analyses. Br J Psychiatry 2012; 200(2): 97-106 9 Evers AWM et al.: What should clinicians tell patients about placebo and nocebo effects? Practical Considerations based on expert consensus. Psychother Psychosom 2021; 90(1): 49-56
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