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Die Aufgabe der Beziehung in der Sozialmedizin?!
Jatros
Autor:
Prim. i. R. MR Dr. Harald P. David
Facharzt für Psychiatrie und Neurologie<br> 1230 Wien<br> E-Mail: david.psych.log@aon.at
30
Min. Lesezeit
08.09.2016
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<p class="article-intro">Prolog: Wir begegnen einander mit Wertschätzung und Toleranz. Wir unterstützen uns gegenseitig. Wechselseitige Information und Kommunikation sind die Grundlagen unserer Zusammenarbeit. (Leitbild KAV)</p>
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<p class="article-content"><p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1604_Weblinks_Seite40.jpg" alt="" width="439" height="290" /></p> <p>Spüren Sie, was dieser Text in Ihnen auslöst: Hoffnung, Anregung, Irritation, Skepsis oder ironisches Lachen.<br /> <br /> Und heißt jetzt der Titel, dass Beziehungen in der Sozialmedizin eine Aufgabe sind bzw. haben oder dass sie aufgegeben werden?<br /> <br /> „Soziale Beziehung soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, dass in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht.“ (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft; Kapitel 1, § 3, 1921).<br /> <br /> Wie ist das heute in der Sozialmedizin, speziell in der Situation Wiens?<br /> Wer bezieht sich im Sinngehalt seines Verhaltens auf wen? Und wo funktionieren diese Beziehungen nicht mehr oder wo wurden sie aufgekündigt?<br /> <br /> Beginnen wir bei den Patienten: Diese können zumeist die Beziehungen zu den Behandlungseinrichtungen kaum von sich aus mitgestalten, weil sie im Wesentlichen darauf angewiesen sind, was ihnen angeboten wird. Natürlich könnte mehr Gesundheitsbewusstsein vonseiten der Patienten das Bedürfnis- oder sogar Anspruchsverhalten reduzieren; allerdings steht dem die Inkonsequenz der Politik, z.B. die ständige Reduzierung von Turnstunden, der Zeitdruck bei der Tagesbewältigung (Sie erinnern sich an die Fütterungsmaschine in Charlie Chaplins „Modern Times“), das Herumeiern um eindeutige Rauchregeln etc., entgegen. Das jeweils am Nationalfeiertag zur Schau getragene Körper- und Naturbewusstsein reicht da bei Weitem nicht aus. Und wenn die Gemeinde in den Krankenhäusern Zeitmessgeräte ausgibt, auf denen die jeweiligen Tätigkeiten dokumentiert werden sollen, aber Zeit für Entspannung oder körperliche Bewegung nicht vorkommt, hat man sich von den Zielen des gesundheitsfördernden Krankenhauses schon weit entfernt.<br /> Wie aber sehen die Beziehungen der beamteten Versorgungseinrichtungen zu den Patienten aus? Das lässt sich mit zwei Worten beschreiben: sparsam und daher spärlich. Durch den Ärztemangel und die Restriktion der zur Verfügung stehenden Arbeitsstunden und Einrichtungen findet allein schon aufgrund der Tatsache, dass zur Beziehungsgestaltung kein verlässliches Gegenüber da ist, der Aufbau von sicherer Kommunikation, vertrauensvollem Gespräch und informierter Zusammenarbeit kaum mehr statt.<br /> Auch die Beziehung der beamteten Versorgungseinrichtungen zu den Kooperationspartnern ist keine gleichrangig re­spektvolle, obwohl sich das der KAV selbst so vorgibt (Leitbild: Wir verstehen uns als Teil des Gesundheitssystems und fördern die Kooperation mit unseren externen Partnern). Zwei Beispiele:<br /> a) KAV – Justiz: „Die Betreuung von psychisch kranken Häftlingen ist Sache der Justiz und nicht unser Problem.“ (O-Ton Stadtratbüro) Außerdem wird übersehen, dass Menschen nicht in Module aufteilbar sind. Das hätte man schon aus der Flüchtlingsfrage lernen können (die Aufnahme von Flüchtlingen ist das Problem von Griechenland und der Türkei, nicht unseres – eine Erfolgsstory?). Natürlich werden akut erkrankte Häftlinge, die in der Justiz­anstalt nicht ausreichend behandelt werden können, in die nächste öffentliche Krankenanstalt gebracht (§ 71 Abs. 2 StVG).<br /> b) KAV – niedergelassene Ärzteschaft: Der KAV schließt Ambulanzen bzw. schränkt deren Betrieb ein, ohne sicherzustellen, dass es auf der Seite der niedergelassenen Ärzteschaft genügend Kapazitäten und ausreichende Finanzierung gibt.<br /> <br /> Und dann gibt es noch die Beziehung zu den Mitarbeitern. So sehr diese – vor allem auch die Führungskräfte – in den 1980er- und 1990er-Jahren noch im partizipativen Führungsstil geschult wurden und dieser auch zum Gutteil gelebt wurde, so sehr ist er in den letzten Jahren abhandengekommen. Der Respekt vor Mitarbeitern und das Eingehen auf deren Kompetenzen und Engagement sind nicht nur verloren, sondern definitiv abgeschafft. Beispiele gibt es viele, herausgehoben werden drei:<br /> <br /> a) Am Suchtzentrum des OWS wurde den Mitarbeitern im April mitgeteilt, dass die Suchtstation (eine kurzfristige Entwöhnungseinrichtung, die ohnehin schon einen Kompromiss zwischen den Sparansprüchen der Gemeinde Wien mit der Vorstellung, dass fast alles ambulant und damit billiger behandelt werden könne, und den Bedürfnissen eines bestimmten Teils der Patientenschaft darstellte) im Dezember geschlossen werde und man sich darauf vorbereiten solle. Diskussion oder gar Widerspruch wurde nicht geduldet. Im Mai erfolgte die lapidare Mitteilung, dass die Schließung Anfang Juni erfolgen werde – was auch geschah. Das gewachsene Team mit spezifischen therapeutischen Kompetenzen wurde zerschlagen, Personen mit viel Erfahrung in der Langzeittherapie wurden auf Akutstationen versetzt, mit allen Folgen der Demotivierung. Wer will schon ideenreiche und erfahrene Mitarbeiter, wenn es um die Durchsetzung eigener Strategien geht.<br /> <br /> b) Bei der Planung des Projekts Alkohol 2020 wurden wesentliche Ressourcen wie die Erfahrung von in diesem Feld tätigen Abteilungsleitern nicht genutzt, sondern diese bewusst ausgeschlossen. Das eingeforderte Gespräch wurde vonseiten der Leitung verweigert.<br /> <br /> c) Psychiatrie ist nach wie vor ein Mangelfach. Viel zu wenige junge Kollegen sind bereit, sich unter den herrschenden Arbeitsbedingungen in Österreich und speziell auch in Wien ausbilden zu lassen, sie ziehen Stellen in der Schweiz und Deutschland vor; nicht nur wegen der besseren Bezahlung, sondern wegen der größeren Wertschätzung, die ihnen dort durch das Angebot von Fortbildungstagen und interessanten Aufgaben entgegengebracht wird.<br /> <br /> Epilog: Der Rückzug aller an der Behandlung von Menschen beteiligten Institutionen und Akteure auf ihre Kernaufgaben führt dazu, dass die Distanzen zwischen den Behandlungs- und Betreuungsangeboten immer größer werden. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Behandlungsbedürftigen immer mehr Zeit und Strecken zwischen diesen „Kernen“, sprich „Kompetenzzentren“, zurücklegen. Die Wahrscheinlichkeit, auf dieser Strecke zu bleiben, weil niemand mehr da ist, der sie auf diesen Wegen begleitet, steigt exponentiell.<br /> <br /> Der Arzt Arthur Schnitzler könnte auch dieses System mit seiner Aussage gemeint haben: „In einer kranken Beziehung haben wir wie in einem kranken Organismus auch das scheinbar Nichtigste als Symptom der Krankheit zu deuten.“ Die Ansätze zur Heilung können nur im wechselseitigen respektvollen Austausch liegen.</p></p>
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