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Living Museum Vienna

„Diagnosen und Titel werden bei uns am Eingang abgegeben“

Mitten in Wien, im angesagten 7. Bezirk, entsteht gerade das Living Museum Vienna – das erste seiner Art in Österreich. Ein Ort, an dem sich Personen mit psychischen Erkrankungen in der Kunst verwirklichen können. Markus Drechsler, Mitbegründer des Vereins, gab uns Einblicke in dieses einzigartige Projekt.

Bilder an schlichten Wänden, durch Licht gekonnt in Szene gesetzt – so stellt man sich ein Kunstmuseum im Allgemeinen vor. Ein Living Museum ist anders. Hier kann man nicht nur Kunstwerke studieren und bewundern, sondern hat die Gelegenheit, mit den Künstlern selbst in den direkten Dialog zu treten. Die Künstler hätten Geschichten zu erzählen – sie alle leben oder lebten mit einer psychischen Erkrankung. Diese Tatsache ist im Living Museum aber nicht relevant. Das Living Museum gibt ihnen Raum, sich neu zu orientieren. Sie durchleben dort die Wandlung ihrer Identität vom psychisch Kranken zum Künstler.

Was genau ist ein Living Museum? Was sind seine Aufgaben und Ziele? Welche Philosophie steckt dahinter? Was bedeutet das Living Museum für jene, die dort künstlerisch tätig sind? Für Antworten auf diese Fragen verweisen wir Sie gerne auf einen Bericht über das Living Museum in der Schweiz. Der QR-Code auf dieser Seite führt Sie direkt zum Bericht.

Fast zwei Jahre nach der Abfassung dieses Berichts treffen wir Markus Drechsler. Er und sein Team holen das Living Museum nun nach Wien.

„Die Living-Museum-Philosophie“, einen Bericht über das Living Museum Switzerland, können Sie online auf www.universimed.com nachlesen.

Herr Drechsler, wie kam es zur Gründung des Living Museum in Wien?

M. Drechsler: Ich besuchte einen Vortrag von Rokus Loopik, dem Direktor des Living Museum Amsterdam, der uns damals diese Einrichtung präsentierte. Ich war davon begeistert, recherchierte und musste feststellen, dass es in Österreich noch kein Living Museum gibt. Da beschloss ich, aktiv zu werden – ich wollte eines in Wien gründen.

Wir haben mit dem Living Museum in der Schweiz Kontakt aufgenommen – es hat eine Art Dachverbandsfunktion für die verschiedenen Museen, die es mittlerweile weltweit gibt –, um uns zu informieren. Es gibt in der Organisation der Living Museums unterschiedliche Ansätze bei der Umsetzung. Oft sind sie am Gelände einer psychiatrischen Klinik untergebracht, haben dort ein eigenes Gebäude. Wir wollten unseres aber anders konzipieren, mehr in die Gesellschaft integriert.

Wo lagen die Herausforderungen bei der Gründung des Vereins?

M. Drechsler: Die Finanzierung bereitete uns große Probleme. Wir brauchten einige Anläufe, bis die richtigen Ansprechpartner*innen bei der Stadt Wien gefunden waren. Unser Projekt integriert drei Bereiche: ein Museum, ein Sozialprojekt und außerdem ein Projekt für Menschen mit psychosozialen oder psychischen Einschränkungen. Innerhalb der Stadt Wien war lange nicht ganz klar, wer dafür zuständig ist. Am Ende sind wir beim Fonds Soziales Wien (FSW) und der Stadt Wien als Gesundheitsträger gelandet.

Aber dann kam die Pandemie …

M. Drechsler: Genau! Dann kam Corona und wir mussten alles auf Eis legen. Wir sind in der Aufbauphase, aber eigentlich so gut wie einsatzbereit. Uns fehlen nur noch das Ende der Pandemie und dann die fixen Zusagen der Stadt Wien und des FSW, die Finanzierung zu übernehmen.

Aus welchen Personen setzt sich das Team zusammen? Gibt es fachliche Unterstützung?

M. Drechsler: Auf unserer Webseite findet man Informationen zu den Gründer*innen des Vereins. Es wird in der Umsetzung aber auch viele freiwillige Helfer*innen brauchen. Der Personalbedarf im Betrieb wird durch angestellte und ehrenamtlicher Mitarbeiter*innen abgedeckt. Da werden zu den Öffnungszeiten nur wenige Personen anwesend sein. Diese müssen nicht zwingend eine psychosoziale oder medizinische Ausbildung oder andere Fachkenntnisse haben. Es werden ehrenamtliche Mitarbeiter*innen aus der Gesellschaft sein, die sich gerne dem Projekt widmen möchten.

Der Aspekt der Betreuung oder Aufsicht steht bei uns im Hintergrund. Wir wurden bei einem Finanzierungsgespräch gefragt: Was passiert, wenn bei einem der Besucher*innen eine Erkrankung akut wird? Die Antwort ist einfach: Das kann im Living Museum genauso passieren wie im Kunsthistorischen Museum, die Vorgehensweise ist immer die gleiche und wir werden darauf vorbereitet sein. Es braucht deshalb vor Ort aber keinen permanenten psychiatrischen Notdienst und keine geschulten Psycholog*innen.

Sie bemühen sich gerade um einen Beirat – wen suchen Sie?

M. Drechsler: Wir suchen Expert*innen aus verschiedenen Fachgebieten, die das Living Museum in beratender Funktion unterstützen: Künstler*innen, Psycholog*innen, Psychiater*innen, Sozialarbeiter*innenusw., alle, die an diesem Thema interessiert sind. Unser vorrangiges Ziel ist es, Personen zu finden, die sich mit dem Projekt identifizieren.

Wie kommen Künstler mit Ihnen in Kontakt?

M. Drechsler: Einmal im Monat veranstalten wir einen Informationsabend und können so Kontakt zu Künstler*innen mit psychischen Beeinträchtigungen herstellen. Das funktioniert hervorragend, der Zustrom ist enorm. Aus den Schilderungen der Besucher*innen haben wir erfahren, dass es in Wien zwar ähnliche Angebote wie das Living Museum gibt. Diese finden aber entweder nur in einem sehr kleinen Rahmen statt oder es steht ein hoher Kunstanspruch im Mittelpunkt: Die Kunst muss sich verkaufen lassen. Viele, die dort keinen Platz bekommen, nehmen daher schon jetzt mit uns Kontakt auf.

Muss man Künstler oder psychisch krank sein, um im Living Museum Kunst erschaffen zu dürfen?

M. Drechsler: Kunst liegt im Auge der Betrachter*innen. Daher kann man auch Künstler*in nicht definieren. Für uns ist jemand Künstler*in, wenn er das von sich behauptet. Wir maßen uns nicht an, zu beurteilen, was Kunst ist. Künstlerisch sein ist daher kein Aufnahmekriterium bei uns. Ebenso überprüfen wir nicht den Gesundheitszustand der Künstler*innen. Das Living Museum wird automatisch Personen anziehen, die diesen Platz suchen. Ob das eine/ein Pensionist*in ist, die/der sonst vereinsamt in ihrer/seiner Wohnung sitzen würde, oder jemand, der aus einer psychiatrischen stationären Unterbringung einen Tagesausgang hat – es gibt großen Bedarf!

Passende Räumlichkeiten für das Living Museum haben Sie schon gefunden. Können Sie uns diese beschreiben?

M. Drechsler: Für uns war wichtig, dass das Museum zentral gelegen ist. Es sollte nicht „am Rande der Gesellschaft“ funktionieren. Wir haben ein passendes Objekt im 7. Bezirk gefunden, einem Bezirk, in dem die Kunst zu Hause ist. Dann war es auch wichtig, dass eine gewisse Größe gegeben ist. Wir wollen möglichst vielen Personen die Möglichkeit geben, im Atelier zu arbeiten.

Das Objekt umfasst das Erdgeschoss und den Keller eines recht alten Hauses. Über die Einfahrt und einen mit Glas überdachten Innenhof gelangt man barrierefrei in das Gebäude. Im Innenbereich gibt es zwei großflächige Räume, die wir für die Künstler*innen adaptieren wollen. Während im Außenbereich mit Materialien gearbeitet werden kann, die einen hohen Verschmutzungsgrad haben, werden drinnen die Maler*innen und Zeichner*innen arbeiten.

Im Innenbereich gibt es außerdem Einzelräume, die Künstler*innen nutzen können, wenn sie im Stillen arbeiten wollen, die notwendigen Sanitäreinrichtungen, eine Küche, einen Aufenthaltsraum. Im Keller wird getöpfert, getanzt und musiziert. Alles in allem ca. 1000m2 – also genügend Platz.

Was ist das Living Museum: Therapieeinrichtung? Ausbildungsstätte?

M. Drechsler: Das Living Museum bietet keine Betreuung, Behandlung oder Therapie in irgendeiner Form. Es ist auch keine Kunsttherapie – das wird leider oft hineininterpretiert. Sowohl künstlerisch als auch die Erkrankung betreffend haben wir keinen Betreuungsauftrag. Wir werden auch keine bekannten Künstler*innen engagieren, die den Besucher*innen erklären, wie Kunst funktioniert. Es ist nicht unser Auftrag, aus den Menschen bessere Künstler*innen zu machen oder gesündere Menschen. Die Intention eines Living Museum ist, Platz zu schaffen für diese Menschen, eine künstlerische Oase. Das Gesünderwerden kommt automatisch mit dem „Sicheinbringen“ in die Kunst. Das wurde in den Museen in den Niederlanden, den USA und der Schweiz schon gesehen.

Ist das Living Museum tatsächlich auch ein Museum?

M. Drechsler: Selbstverständlich! In den Räumen des Living Museum wird man auch Werke unserer Künstler*innen betrachten können. Aber noch besser als in einem gewöhnlichen Museum wird man bei uns die Künstler*innen selbst antreffen und mit ihnen vor Ort über ihre Werke diskutieren können.

Wie trägt das Living Museum zur Entstigmatisierung der psychisch Kranken bei?

M. Drechsler: Besonders wichtig ist die Interaktion mit den Besucher*innen. Sie können im offenen Atelier Künstler*innen direkt bei der Arbeit zusehen. Man begegnet einander auf Augenhöhe, um etwa über Kunst zu diskutieren oder über andere Themen. So werden Barrieren abgebaut – es entsteht ein Raum der Inklusion.

Gerade dieses Zusammentreffen von Menschen unterschiedlichster mentaler Verfassung funktioniert erstaunlich gut. Das hat man in etablierten Living Museums erfahren. Was mir besonders gut gefällt: Am Eingang des Living Museum in Amsterdam ist ein Schild angebracht, auf dem sinngemäß steht: Bei Betreten des Museums gibt jeder seine Diagnosen und Titel ab. Das ist ein sehr guter Ansatz, finde ich. Auch uns in Wien interessiert es nicht, welche Krankheit eine/ein Künstler*in hat. Wir schaffen einfach für ihn Platz, ohne zu hinterfragen.

Welchen Zweck erfüllen die Kunstwerke?

M. Drechsler: Die Erschaffung von Kunst ist auf jeden Fall eine sinnvolle Beschäftigung für alle, die in dem System „Einsamkeit/Vereinsamung/psychische Erkrankungen/soziale Einschränkungen“ festsitzen. Menschen, die im Arbeitsleben nicht mehr Fuß fassen können, finden im Living Museum Regelmäßigkeit. Es gibt bedauerlicherweise sehr viele Künstler*innen mit psychischen Beeinträchtigungen, die alleine in ihren kleinen Wohnungen kreativ sind und denen der Platz zum Lagern der Kunstwerke und des Materials fehlt. Mir erzählte einer unserer Künstler*innen, er hätte schon an die 10000 Bilder daheim. Eine Option für die Künstler*innen wird also sein, dass sie ihre Werke im Rahmen des Museums auch verkaufen können. Wir möchten eine Win-win-Situation für alle Beteiligten schaffen. Manchmal schreibt das Living Museum dann auch ungeplant Erfolgsgeschichten: Zwei der Künstler*innen aus dem Living Museum in der Schweiz sind mittlerweile durch ihre Werke sehr bekannt geworden.

Was sind die nächsten Schritte und woran arbeiten Sie gerade?

M. Drechsler: Die Pandemie hat uns gestoppt. Wir brauchen daher einen Plan B. Sobald also der Lockdown vorbei ist, werden wir versuchen, die Räumlichkeiten mit Kunst unserer Klient*innen, die bereits vorhanden ist, zu bespielen. Wenn das Zusammentreffen von Personengruppen wieder möglich ist, können wir, sobald die Finanzierung gesichert ist, direkt in den Vollbetrieb übergehen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte
Dr. Gabriele Senti

Unser Gesprächspartner:
Markus Drechsler
Obfrau-Stellvertreter
Living Museum Vienna
E-Mail: markus.drechsler@living-museum.at

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