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Depressiv, weil gestresst
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Felicitas Witte
30
Min. Lesezeit
01.12.2016
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<p class="article-intro">Das Thema, das am Jahreskongress der Schweizer Gesellschaften für Psychiatrie und Psychotherapie am meisten diskutiert wurde, war die transgenerationale Vererbung von psychischen Krankheiten. Dabei spielen nicht so sehr genetische Veränderungen eine Rolle, sondern vielmehr epigenetische, die ebenfalls vererbt werden können. Mit Medikamenten und Psychotherapie versuchen Forscher, diese epigenetischen Veränderungen rückgängig zu machen.</p>
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<p class="article-content"><p>Die gesamte Familie wollten die Organisatoren des Jahreskongresses von SGPP und SGKJPP ins Zentrum rücken. Mehr als 1600 Teilnehmer aus über 30 Ländern tauschten sich in Basel über Neuigkeiten aus, über das tägliche Vorgehen in der Praxis und wie man die neuen Erkenntnisse in den Alltag umsetzen könne. Das Thema, welches am Kongress am meisten diskutiert wurde, war die transgenerationale Vererbung.</p> <p>«Zwillings- und Familienstudien zeigen eindeutig, dass das Risiko, eine psychische Krankheit zu erleiden, vererbt wird», sagte Prof. Gregor Hasler, Chef-Psychiater an der Uniklinik in Bern. Hierbei würde die genetische Vererbung aber nur eine kleine Rolle spielen. Ob die Krankheit wirklich ausbricht, scheinen epigenetische Veränderungen zu bestimmen, die ebenfalls vererbt werden können. «Wie wir heute wissen, bewirken bestimmte Umwelteinflüsse solche epigenetischen Veränderungen, zum Beispiel Stress», sagte Hasler. «Deshalb kann es sein, dass von genetisch identen Zwillingen der eine Zwilling depressiv wird und der andere nicht.»</p> <h2>Epigenetik auf dem Vormarsch</h2> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Neuro_1606_Weblinks_s41_1.jpg" alt="Zitat Prof. 'Hasler" width="250" /></p> <p>Der «Startschuss» für die Epigenetik-Revolution sei 2004 eine Studie an Ratten gewesen, erzählte der Psychiater.<sup>1</sup> Die Forscher hatten Jungtiere miteinander verglichen, die entweder von ihren Müttern liebevoll umsorgt oder missachtet worden waren: Im Gehirn der vernachlässigten Rattenbabys war das Gen für den Glukokortikoidrezeptor, das NR3C1-Gen, stärker methyliert. Es wurde vom Gen also nicht so viel abgelesen und damit wurden weniger Glukokortikoidrezeptoren produziert. An den Rezeptor binden Cortisol und andere Stresshormone, was normalerweise die Stressreaktion dämpft. Meaney und sein Team überprüften dann, ob ihre Entdeckung auch für den Menschen gilt,<sup>2</sup> und zwar bei Leichen von Personen, die sich das Leben genommen hatten. Im Hippocampusgewebe von zwölf Erwachsenen, die als Kinder sexuell oder physisch missbraucht worden waren und später Suizid begangen hatten, fanden sie bei den Probanden deutlich weniger Boten-RNA des NR3C1-Gens als bei den Kontrollpersonen; das Gen war also nicht so aktiv. Weitere Untersuchungen zeigten, dass das Gen durch angelagerte Methylgruppen blockiert worden war. Im Gegensatz dazu zeigte das NR3C1-Gen bei zwölf Vergleichspersonen, die zwar ebenfalls Suizid begangen hatten, denen aber ein kindliches Martyrium erspart geblieben war, eine vollkommen normale Aktivität der Boten-RNA. «Damit wiesen die Kollegen erstmals nach, dass sich traumatische Erlebnisse in das Erbgut der Betroffenen einbrennen», sagte Hasler. «Gene und Umwelt wirken aufeinander ein – in diesem Fall zum Nachteil für die Kinder, die psychische und sexuelle Gewalt erlebt haben.»</p> <h2>Wie Umweltfaktoren die Gene beeinflussen</h2> <p>Man sei erst am Beginn, zu erforschen, wie psychiatrische Krankheiten, Trauma und Stress sich über die Generationen weitervererben, sagte Prof. Elisabeth Binder, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. «Aus grossen epidemiologischen Studien wissen wir schon seit Längerem, dass sowohl genetische als auch Umweltfaktoren das Risiko für die Entstehung psychiatrischer Krankheiten beeinflussen. Aber wie Gene und Umwelt dabei interagieren, beginnen wir erst jetzt besser zu verstehen.»</p> <div id="fazit"> <h2>Factbox</h2> <p>Epigenetik ist eines der zentralen Themen der Genetik in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts. Der Begriff Epigenetik umschreibt Mechanismen und Konsequenzen vererbbarer Chromosomen-Modifikationen, die nicht auf Veränderungen der DNA-Sequenz beruhen. Die wesentlichen epigenetischen Modifikationen sind nachträgliche Modifikationen bestimmter DNA-Basen (DNA-Methylierung), die Veränderungen des Chromatins (Histon-Modifikationen) und RNAi-vermittelte Mechanismen.</p> <p>Quelle: <a href="http://epigenetics.uni-saarland.de/de/home/">http://epigenetics.uni-saarland.de/de/home/</a></p> </div> <p>Forscher der Universität in Massachusetts versuchten in Kooperation mit der Genanalyse-Firma 23andMe Genveränderungen bei psychiatrischen Krankheiten zu finden:<sup>3</sup> Mit Proben von 75 607 Menschen mit gesicherter Depression und von 231 747 gesunden Probanden identifizierten sie 17 Genorte, an denen bei Patienten mit Depressionen häufiger Veränderungen vorkamen als bei den Gesunden. «Diese Genvarianten erklären aber nur rund sechs Prozent des erhöhten Risikos, eine psychische Krankheit zu bekommen», sagte Binder, «ein weiterer Teil könnte durch epigenetische Veränderungen verursacht werden.»</p> <p>Traumata in der Kindheit erhöhen das Risiko für die Entwicklung von psychiatrischen Krankheiten. So haben Menschen, die als Kind missbraucht wurden, ein erhöhtes Risiko für Depressionen.<sup>4</sup> «Erfahrungen und Umwelteinflüsse in der Kindheit verändern unsere Zellen so, dass die DNA anders abgelesen wird und die Zelle anders reagiert – zum Beispiel mit weniger Produktion von Proteinen oder Botenstoffen.» Manche Menschen, die als Kind ein schlimmes Trauma erlebt haben, bekommen allerdings keine psychische Krankheit. Umgekehrt erkranken mitunter Personen an einer schweren Depression, die nur ein leichtes Trauma in der Kindheit hatten oder gar keines. «Es gibt Leute, die besonders sensibel sind, und solche, die sehr resilient sind», sagte Binder. «Jetzt wissen wir auch, woran das liegen könnte – nämlich an der Epigenetik, die in das Stresshormonsystem eingreift.»</p> <h2>Schlüsselrolle Stress</h2> <p>Eine wichtige Rolle im Stresshormonsystem spielt FKBP5, das unter anderem als Ko-Chaperon in Stresshormonrezeptorkomplexen wirkt. Chaperone «helfen» neu synthetisierten Proteinen, sich korrekt zu falten. FKBP5 schwächt die Affinität von Cortisol für den Glukokortikoidrezeptor ab, das heisst, das Stresshormon wird vom Rezeptor nicht so stark «angezogen» und der Rezeptor wird weniger stark aktiviert. Dadurch wird letztlich die Kontrolle des Stresshormonsystems im Gehirn blockiert, was zu einer überschiessenden Stressantwort führt. «Bei jedem Menschen steigt als Reaktion auf Stress die Konzentration von Cortisol an», erklärte Binder. «Wir haben inzwischen aber genetische Varianten von FKBP5 gefunden, bei denen FKBP5 sozusagen aktiver ist», erklärte Binder. «Das führt zu einer verlängerten Cortisolantwort im Körper.»<sup>5–8</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Neuro_1606_Weblinks_s41_2.jpg" alt="Zitat Prof. 'Hasler" width="250" /></p> <p>Forscher der Universitäten in Mannheim und Heidelberg setzten 195 junge Erwachsene Stress aus: Sie mussten beispielsweise einen Rechentest durchführen und Fragen in einem fingierten Jobinterview beantworten. Bei allen stieg der Cortisolanteil im Blut an. Bei denjenigen mit der genetischen FKBP5-Variante, also mit «aktiverem» Gen, sank aber der Cortisolspiegel im Laufe der darauffolgenden 70 Minuten deutlich langsamer als bei denen mit «normalem» FKBP5.<sup>4</sup> «Genetische Varianten mit aktiverem FKBP5 ändern die Antwort auf Stress», sagte Binder. «Die Betroffenen nehmen offenbar Bedrohungen oder negative Erlebnisse intensiver wahr, und das erhöht das Risiko für psychische Erkrankungen.»</p> <p>Ob jemand aber wirklich erkrankt, bestimmen epigenetische Faktoren, wie Binders Team vom Max-Planck-Institut herausfand. Menschen mit «aktiverem» FKBP5-Gen hatten ein erhöhtes Risiko, eine Depression zu bekommen, wenn sie in der Kindheit traumatisierenden Ereignissen, etwa körperlicher Gewalt oder sexuellem Missbrauch, ausgesetzt waren. Sind solche belastenden Ereignisse nicht eingetreten, weisen die Probanden trotz Risikogenotyps keine erhöhte Depressionswahrscheinlichkeit auf.<sup>9</sup> Es musste also an etwas anderem liegen als am FKBP5-Risikogenotyp – und hier kommt die Epigenetik ins Spiel. Binders Team fand bei Leuten mit kindlichem Trauma epigenetische Veränderungen in Glukokortikoidrezeptor-Bindungsstellen im FKBP5-Gen, aber nur bei denjenigen mit gene­tisch bedingtem «aktiverem» FKBP5.<sup>10</sup> Die epigenetischen Veränderungen, so vermuten die Forscher, wurden vermutlich durch den genetisch bedingten übermässigen Anstieg von Cortisol als Antwort auf den erlebten Stress in der Kindheit verursacht. «Umwelt und Genetik bedingen sich gegenseitig», sagte Binder. «Nur wenn mehrere Faktoren zusammenkommen, also eine genetische Prädisposition und zusätzlich epigenetische Veränderungen, scheint es zum Ausbruch einer psychiatrischen Krankheit zu kommen.» Die epigenetischen Veränderungen können durch Einflüsse nach der Geburt auftreten, etwa kindliche Traumata, schon während der Schwangerschaft oder möglicherweise sogar schon davor in den Keimzellen. So fand Binders Team gemeinsam mit Kollegen aus New York bei Kindern von Holocaust-Überlebenden ähnliche epigenetische Veränderungen am FKBP5-Gen wie bei ihren Eltern.<sup>11</sup> Auch wenn eine Schwangere Stress erlebe, könne das epigenetische Veränderungen bei ihr hervorrufen, die sie ihren Kindern vererbt, erzählte Binder. Das könnte erklären, warum Menschen, deren Eltern Stress erlebt haben – etwa durch traumatische Erlebnisse im Krieg oder auf der Flucht –, an einer psychischen Krankheit erkranken. Im Hinblick auf die aktuelle Flücht­lingsdiskussion bekommen die neuen Forschungserkenntnisse eine weitere Brisanz.</p> <h2>Reversibles Epigenom?</h2> <p>«Wir haben jetzt erste Hinweise darauf, dass epigenetische Veränderungen das Risiko für psychiatrische Erkrankungen erhöhen und dass Psychotherapie und Medikamente das Epigenom des Gehirns wieder zum Gesunden verändern können», resümierte Hasler. «Es ist aber nicht so einfach, wie es vielleicht die Studien suggerieren.» So entstünden bleibende gesund machende Effekte meist erst dann, wenn man relativ lange behandle. «Ausserdem bleiben die krank machenden epigenetischen Effekte oft bestehen, und die therapeutische Wirkung ist mit epigenetischen Veränderungen an anderen Stellen des Genoms verknüpft. Was das bedeutet, wissen wir noch nicht.»</p> <p>Die Psychiatrie befände sich in einer sehr spannenden Phase, findet Hasler, und das war auch bei vielen Teilnehmern am Kongress zu spüren. «Es ist nun möglich, psychosoziale und neurobiologische Ansätze miteinander zu verbinden und Gen-Umwelt-Interaktionen psychisch, sozial und molekular zu verstehen», so Hasler. Leider dauere es lange und es sei mühsam, die neuen Erkenntnisse aus dem Forschungslabor in einen praktischen Nutzen umzuwandeln. «Das ist eine grosse Herausforderung. Aber vielleicht werden wir mit anderen Ansätzen unsere Patienten viel besser behandeln können: mit neuen Medikamenten und Psychotherapie oder einfach dadurch, dass wir uns um das psychische Wohlbefinden von Kindern besonders kümmern – vor allem, wenn ihre Eltern schweren Stress erlebt haben.»</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Jahreskongress der SGPP & SGKJPP: Psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive, 17.–19. August 2016, Basel
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Weaver IC et al: Epigenetic programming by maternal behavior. Nat Neurosci 2004; 7(8): 847-54 <strong>2</strong> McGowan PO et al: Epigenetic regulation of the glucocorticoid receptor in human brain associates with childhood abuse. Nat Neurosci 2009; 12: 342-8 <strong>3</strong> Hyde CL et al: Identification of 15 genetic loci associated with risk of major depression in individuals of European descent. Nat Genet 2016; 48: 1031-6 <strong>4</strong> Buchmann AF et al: Moderating role of FKBP5 genotype in the impact of childhood adversity on cortisol stress response during adulthood. Eur Neuropsychopharmacology 2014; 24: 837-45 <strong>5</strong> Binder EB et al: Polymorphisms in FKBP5 are associated with in­creased recurrence of depressive episodes and rapid response to antidepressant treatment. Nat Genet 2004; 36: 1319-25 <strong>6</strong> Binder EB et al: Association of FKBP5 polymorphisms and childhood abuse with risk of posttraumatic stress disorder symptoms in adults. JAMA 2008; 299(11): 1291-305 <strong>7</strong> Klengel T et al: Allele-specific FKBP5 DNA demethylation mediates gene-childhood trauma interactions. Nat Neurosci 2013; 16: 33-41 <strong>8</strong> Luijk MP et al: FKBP5 and resistant attachment predict cortisol reactivity in infants: gene-environment interaction. Psychoneuroendocrinology 2010; 35: 1454-61 <strong>9</strong> Zimmermann P et al: Interaction of FKBP5 gene variants and adverse life events in predicting depression onset: results from a 10-year pro­spective community study. American Journal of Psychiatry 2011; 168: 1107-16 <strong>10</strong> Klengel T, Binder E: FKBP5 Allele-specific epigenetic modification in gene by environment interaction. Neuropsychopharmacology 2015; 40: 244-6 <strong>11</strong> Yehuda R et al: Holocaust exposure induced intergenerational effects on FKBP5 methylation. Biol Psychiatry 2016; 80: 372-80</p>
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