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Depressionsbehandlung 2018: Was bringt die Zukunft?
Jatros
30
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10.05.2018
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<p class="article-intro">Die Behandlung einer Depression ist schwierig und stellt den Arzt vor große Herausforderungen wie Behandlungsresistenzen und hohe Rezidivraten. Auch persistierende Einschränkungen abseits der depressiven Symptomatik werden ein immer wichtigeres Thema. Patienten und Behandelnde hoffen auf neue, rasch wirkende oder multimodale Wirkstoffe, die hier ansetzen.</p>
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<p class="article-content"><p>Die Depression zählt zu den weltweit häufigsten psychischen Erkrankungen mit weitreichenden Konsequenzen für die Betroffenen und die Gesellschaft.<br /> Sie führt zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität und verkürzt die durchschnittliche Lebenserwartung. Laut WHO führt die unipolare Depression das Ranking der durch psychische Krankheiten verlorenen Tage an, weit vor Alkoholmissbrauch, Demenz und Schizophrenie.<sup>1</sup><br /> Die Produktpalette an Antidepressiva (AD) ist relativ groß – in Österreich stehen rund 30 Substanzen zur Verfügung –, trotzdem bestehen noch immer „unmet needs“ in der Depressionsbehandlung. Diese haben sich in den letzten Jahren gewandelt. Stand bis Mitte der 2000er-Jahre die Linderung der depressiven Symptomatik im Mittelpunkt, wünschen sich Patienten heute immer mehr die rasche Rückkehr zu mentaler Gesundheit sowie zum ursprünglichen kognitiven Funktionsniveau und die Minimierung der unerwünschten Wirkungen.<sup>2</sup><br /> Dies erfordert einen Paradigmenwechsel in der antidepressiven Pharmakotherapie von der ausschließlichen Symptomlinderung hin zu einer emotionalen Normalität und sozialen Reintegration. Multimodale Wirkmechanismen und Therapieansätze gewinnen daher immer mehr an Bedeutung.</p> <h2>Eine breite Palette an therapeutischen Optionen</h2> <p>Dual bzw. multimodal wirkende Substanzen stehen seit den 1990er-Jahren zur Verfügung, beispielsweise als duale selektive AD in Form von Serotonin-Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmern (SNRI; Milnacipran, Venlafaxin, Duloxetin). Bei unzureichendem Ansprechen auf ein bestimmtes AD kann eine pharmakotherapeutische Augmentation mit einem atypischen Antipsychotikum (z.B. Quetiapin, Olanzapin, Aripiprazol), einem modernen Hypnotikum oder einem Stimmungsstabilisierer oft den erwünschten Erfolg bringen. Bei den nicht medikamentösen, biologischen Therapieverfahren stehen Elektrokrampftherapie, repetitive transkranielle Magnetstimulation, Vagusnervstimulation, „deep brain stimulation“, Schlafentzugsbehandlung und Lichttherapie zur Wahl.</p> <h2>Normalisierung des Schlaf-wach-Rhythmus</h2> <p>Agomelatin ist ein multimodaler Wirkstoff, dessen Wirkprofil über die Reduktion der antidepressiven Symptomatik hinausgeht. Es handelt sich dabei um ein Analogon des Melatoninmoleküls, das agonistisch auf die melatonergen MT1- und MT2-Rezeptoren sowie antagonistisch auf die postsynaptischen serotonergen 5-HT<sub>2C</sub>-Rezeptoren wirkt.<sup>3, 4</sup> Die Effizienz von Agomelatin wurde in mehreren Studien untersucht, Sie belegen einen antidepressiven Effekt bei moderaten und schweren Depressionen und eine Regulation gestörter zirkadianer Rhythmen bei depressiven Menschen.<sup>5, 6</sup> Agomelatin verbesserte die Schlafqualität und die Schlafarchitektur.<sup>7, 8</sup> Im Vergleich zu anderen AD zeigt Agomelatin ein geringes Nebenwirkungspotenzial: Typische ADNebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Libidoverlust und Erektionsstörungen wurden nicht beobachtet.<sup>9</sup></p> <h2>Zurück zur kognitiven Leistungsfähigkeit</h2> <p>Studien belegen, dass kognitive Beeinträchtigungen neben Niedergeschlagenheit und Schlafbeeinträchtigung zu den Kernsymptomen der Major Depression gehören.<sup>10</sup> Gerade diese kognitiven Störungen sind oft besonders schwer zu behandeln. Vortioxetin ist ein multimodaler Wirkstoff, mit dem hier gute Erfolge erzielt werden können. Er kombiniert die Funktion eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers sowohl mit agonistischen als auch antagonistischen Effekten an fünf verschiedenen prä- und postsynaptischen Serotoninrezeptoren (5HT<sub>1a</sub>, 5HT<sub>1b</sub>, 5HT<sub>1d</sub>, 5HT<sub>3</sub>, 5HT<sub>7</sub>). Vortioxetin bewirkt somit nicht nur eine erhöhte Freisetzung von Serotonin, sondern fördert auch die cholinerge, dopaminerge, histaminerge und noradrenerge Neurotransmission. Die signifikante Verbesserung der depressiven Symptomatik und der kognitiven Defizite wurde in mehreren Studien belegt.<sup>11–14</sup></p> <h2>Ketamin: wirkt rasch, auch antisuizidal</h2> <p>Verschiedene Studien haben in den letzten Jahren eine rasch (innerhalb weniger als einer Stunde) einsetzende, transiente antidepressive und antisuizidale Wirksamkeit von Ketamin, einem Phencyclidinderivat, belegt.<sup>15–17</sup> Neben antagonistischen Eigenschaften an NMDA-Rezeptoren hat Ketamin auch Bindungsaffinitäten zu Serotonin- und Dopamintransportern sowie Opioid-, Glutamat- und AMPA-Rezeptoren. Der komplexe Wirkmechanismus ist nicht eindeutig geklärt, Forschungsergebnisse lassen Interaktionen mit Rezeptoren und Transportern, Steigerung der synaptischen Plastizität, Freisetzung von neuronalen Wachstumsfaktoren, Modulation von Transkriptionsfaktoren und Signaltransduktionswegen innerhalb der Zelle vermuten.<sup>18</sup> Der relevanteste Wirkort scheint am Glutamat-NMDARezeptorkomplex zu sein, wodurch das bisher kaum genutzte glutamaterge System in der Erforschung der Depression neue Bedeutung erlangt.<br /> Eine Zulassung als Antidepressivum liegt für Ketamin noch nicht vor, es kommt deshalb als „Off-label“-Behandlung bei therapieresistenten uni- und bipolaren Depressionen im stationären psychiatrischen Setting zum Einsatz. Eine antidepressive „Off-label“-Therapie mit Ketamin in anderen Fachabteilungen, ambulanten Arztpraxen, sogenannten „Ketamin-Kliniken“ oder „Ketamin-Ambulanzen“ ist laut der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB) nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft nicht zu befürworten.<sup>19</sup><br /> Der Einsatz von Ketamin sollte rechtlich und medizinisch gut abgesichert erfolgen und bedarf daher einiger grundlegender Voraussetzungen, wie der mündlichen und schriftlichen Aufklärung sowie der Einholung einer Einverständniserklärung des Patienten. Die Behandlung soll gut dokumentiert erfolgen, damit der Therapieverlauf (Indikationsstellung, Einverständnis des Patienten, Ketaminverabreichung, Therapieansprechen) z.B. im Fall von Komplikationen nachvollzogen werden kann. Zur Unterstützung der Ketamintherapie haben Kraus et al. einen Leitfaden zur Ketamintherapie entwickelt.<sup>20</sup> Ein Einverständnisformular kann ebenfalls bei den Autoren angefordert werden.</p> <h2>In der Pipeline</h2> <p>Vilazodon und Levomilnacipran wurden von der FDA bereits zugelassen. L-4-Chlorokynurenin, Rapastinel, Apimostinel und Botulinumtoxin befinden sich in laufenden Phase-IIStudien oder in der Vorbereitung für Phase-III-Studien und sind somit Kandidaten für neue Therapieoptionen in der Behandlung der MDD in den nächsten Jahren. Ketamin könnte bereits in naher Zukunft die Zulassung als Antidepressivum bei therapieresistenter Depression erhalten und die bestehenden Therapieoptionen ergänzen.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: PWP – Psychiatrie in Wissenschaft und Praxis, 24. Februar 2018, Wien
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<p><strong>1</strong> GBD 2015 Disease and Injury Incidence and Prevalence Collaborators: Lancet 2016; 388: 1545-1602 <strong>2</strong> Danner M et al.: Int J Technol Assess Health Care 2011; 27: 369-75 <strong>3</strong> Audinot VF et al.: Naunyn-Schmiedeberg's Arch Pharmacol 2003; 367: 553-61 <strong>4</strong> Millan MJ et al.: J Pharmacol Exp Ther 2003; 306: 954-64 <strong>5</strong> Kennedy SH et al.: Eur Neuropsychopharmacol 2006; 16: 93-100 <strong>6</strong> Olié JP, Kasper S: Int J Neuropsychopharmacol 2007; 10: 661-73 <strong>7</strong> Lemoine P et al.: J Clin Psychiatry 2007; 68: 1723-32 <strong>8</strong> Kasper S et al.: Int J Neuropsychopharmacol 2008; 11(Suppl 1): 193 <strong>9</strong> Loo H et al.: Int Clin Psychopharmacol 2002; 17: 239-47 <strong>10</strong> Conradi HJ et al.: Psychol Med 2011; 41: 1165-74 <strong>11</strong> Alvarez E et al.: Int J Neuropsychopharmacol 2012; 15: 589-600 <strong>12</strong> Montgomery SA et al.: Hum Psychopharmacol Clin Exp 2014; 29: 470-82 <strong>13</strong> Katona C et al.: Int Clin Psychopharmacol 2012; 27: 215-22 <strong>14</strong> McIntyre RS et al.: Int J Neuropsychopharmacol 2014; 17: 1557-67 <strong>15</strong> McGirr A et al.: Psychol Med 2015; 45: 693-704 <strong>16</strong> Coyle CM: Hum Psychopharmacol 2015; 30: 152-63 <strong>17</strong> Reinstatler L, Youssef NA: Drugs 20 2015. 15; 37-43 <strong>18</strong> Duman RS et al.: Nat Med 2016; RD. 238-49 <strong>19</strong> http://oegpb.at/2016/09/14/ vorsicht-sorgfalt-bei-der-ketamin-therapie <strong>20</strong> Kraus C et al.: Administration of ketamine for unipolar and bipolar depression. Int J Psychiatry Clin Pract 2017; 21(1): 2-12</p>
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