
Depressionen bei Älteren: zu oft verkannt
Es ist ein zu wenig beachtetes Problem – sowohl in der Gesellschaft als auch unter Ärzten: Depressionen bei älteren Menschen. Das haben auch die Organisatoren des europäischen Psychiatriekongresses EPA in Nizza gemerkt und diesem Thema einen mehrstündigen Workshop gewidmet. Wie man Depressionen bei Senioren erkennt, wie man mit Angehörigen spricht und worauf man bei der Behandlung achten muss, erklärte Prof. Gabriela Stoppe.
Depressionen sind nach Angststörungen und Schlaflosigkeit das dritthäufigste psychische Problem in Europa. 30,3 Millionen Menschen sind von einer Major Depression betroffen, das sind 6,9 % der Bevölkerung.1 „Wegen der zunehmenden Lebenserwartung gehen wir davon aus, dass Depressionen in den kommenden Dekaden die häufigste psychische Krankheit sein werden“, sagte Prof. Gabriela Stoppe, Leiterin von MentAge in Basel. „Das belastet nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Angehörigen und das Gesundheitssystem.“ Die Prävalenz von Depressionen bei Senioren werde jedoch in Studien unterschätzt, was an den Komorbiditäten läge. „Weil Komorbiditäten so häufig vorkommen und diese als Grund für die depressive Verstimmung angesehen werden, werden Depressionen nicht diagnostiziert“, berichtete die Psychiaterin. Je älter Menschen werden, desto größer wird das Risiko für eine Depression, wie eine Analyse von Krankenkassendaten zeigte.2
Häufig: Komorbiditäten
Die wichtigsten Risikofaktoren einer Altersdepression sind Schlafstörungen, körperliche Erkrankungen, frühere depressive Phasen, weibliches Geschlecht und Verlusterlebnisse.3 Auch kognitive Einschränkung kann eine Rolle spielen, allein zu leben oder neu aufgetretene Krankheiten, etwa Krebs oder der Verlust des Augenlichtes wie bei der altersabhängigen Makuladegeneration (AMD). „Es ist sehr wichtig, nachvollziehbare Trauer von einer Depression zu unterscheiden“, so Stoppe. Abgesehen davon bedeute ein erhöhtes Risiko noch nicht, dass ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. „Man sollte aber sensibler sein und zum Beispiel bei Menschen mit AMD daran denken.“ Der Zusammenhang zwischen chronischen Krankheiten und Depressionen ist schon länger bekannt. Hat man eine Depression, erhöht sich das Risiko an kardiovaskulären Störungen zu erkranken und zu sterben auf das 1,8-Fache4–6 und an Alzheimer7– 9 sowie Parkinson10, 11 zu erkranken auf das Doppelte bzw. Dreifache. Je nach Studie bekommen 20–60 % der Patienten nach einem Schlaganfall eine Depression, was mit einer schlechteren funktionellen Rückbildung, längerem Spitalsaufenthalt, häufigeren Wiedereinweisungen und Einweisungen in Pflegeheime und einer mindestens 3-fach erhöhten Mortalität verbunden ist.12–14 Auch Menschen mit Diabetes mellitus haben ein höheres Risiko für eine Depression, bis zu 75 % von ihnen leiden unter rezidivierenden Episoden.15, 16 Umgekehrt ist eine Depression mit einer schlechteren glykämischen Kontrolle verbunden.16 „Deshalb ist es wichtig, dass wir Patienten mit diesen Krankheiten auch psychiatrisch beziehungsweise psychosomatisch betreuen“, sagte Stoppe. Eine weitere häufige Komorbidität sind chronische Schmerzen.17
Zu wenig beachtet seien auch Angststörungen als Komorbidität bei Depressionen, so die Psychiaterin. „Viele Depressive klagen darüber, wenn man danach fragt“, erzählte Stoppe. Eine besondere Angst im Alter sei die Angst zu fallen, etwa im Dunkeln oder wenn sie Treppen hinuntergehen. „Viele Menschen, die im Alter eine Angsterkrankung haben, hatten diese auch schon im jungen Erwachsenenalter.“ Die niederländische Studie Depression und Ängstlichkeit (NESDA) untersuchte bei 1209 Patienten den Verlauf der beiden Krankheiten einzeln und in Kombination.18 Bei Patienten mit alleiniger Depression war der Verlauf günstiger als bei denen mit alleiniger Angststörung: Eine Episode dauerte bei der Depression im Median 6 Monate und bei der Angststörung 16 Monate. Den schlechtesten Verlauf zeigten die Patienten mit Doppeldiagnose; hier dauerte die Episode im Median mehr als 24 Monate. Prädiktoren für einen ungünstigen Verlauf waren unter anderem Schwere und Dauer der Indexepisode, gleichzeitiges Auftreten von Depression und Angststörung sowie höheres Alter.
Bei der Anamnese sei es wichtig, die sozialen Beziehungen genau zu erfragen. Je nachdem, was für eine soziale Unterstützung man hat, wie die Qualität der Beziehungen ist und ob man Menschen hat, denen man sich anvertrauen kann, erhöht oder verringert sich das Risiko für eine Depression.19 „Manche haben eine große Familie, fühlen sich aber trotzdem einsam und alleine“, so Stoppe. Einsamkeit sei subjektiv, die soziale Unterstützung könne man objektivieren, zum Beispiel anhand der Anzahl der Besuche oder der Telefonanrufe pro Woche. „Depressive pflegen typischerweise ihre sozialen Beziehungen nicht mehr, nehmen das Telefon nicht mehr ab oder verabreden sich nicht mehr.“ So kann gerade im Alter durch eine Depression auch längerfristiger Schaden entstehen. Generell sei im Alter kein großer Wandel im sozialen Verhalten zu beobachten. Gemäß der Berliner Altersstudie hatten Menschen, die bis an ihr Lebensende sozial integriert waren, auch schon mit 25 und mit 60 ein gut funktionierendes soziales Netzwerk.20 „Ein wenig Extraversion scheint im Alter vorteilhaft zu sein“, so Stoppe. Auch Altersarmut und Verlusterfahrungen spielen eine Rolle für die psychische Gesundheit und seien besonders gefährlich, wenn sie unvorhersehbar waren.
Depressionen oft nicht erkannt
Depressionen äußern sich bei älteren Menschen anders als bei jüngeren. So klagen die Betroffenen seltener, sie seien niedergeschlagen oder traurig, sondern öfter über somatische Beschwerden, etwa Schwindel, Schmerzen oder Magen-Darm- Probleme. Manche sind reizbarer als früher oder aggressiv – vor allem Männer.
Depressive ziehen sich von ihren Mitmenschen zurück und interessieren sich nicht mehr für Dinge, die ihnen früher Spaß gemacht haben. „Leider denken immer noch viele, so ein Verhalten sei im Alter normal“, sagte Stoppe. „Aber ein gesunder älterer Mensch ist immer noch lebendig und interessiert an seiner Umgebung.“ Sorgfältig sollte man die Medikamentenanamnese machen, denn bestimmte Arzneien können eine Depression auslösen, etwa Kortisonpräparate. Eine Medikamenten- induzierte Depression kommt dann als Diagnose infrage, wenn die Symptome in engem zeitlichem Zusammenhang mit einer Medikationsänderung auftreten. Im Frühstadium ist die Abgrenzung zu einer Demenz manchmal nicht einfach: „Grundsätzlich sind es zwei verschiedene Krankheiten, aber oft überlappen sich die Symptome: Jemand mit einer bipolaren Erkrankung wird diese auch bei einer Altersdemenz haben.“ Bei rund 30 bis 40 % der Demenzkranken treten in der Anfangsphase depressive Beschwerden wie Rückzug, Interessenverlust und Antriebslosigkeit auf. „Anders herum gibt es Depressionen mit geistigen Beeinträchtigungen, die dann von der Demenz unterschieden werden müssen.“ Treten bei einer Depression kognitive Einschränkungen auf, sind diese bei einer leichten Depression leicht und bei einer schweren Depression schwer. „Hat ein Patient mit einer leichten Depression schwere kognitive Einschränkungen, steckt in der Regel eine Demenz dahinter“, erklärte Stoppe. Wichtig ist auch, Trauer abzugrenzen. „Trauer ist keine Depression. Trauerarbeit – etwa nach dem Tod des Partners – ist ein aktiver Prozess, ist (schwere) Arbeit, sie folgt keinen strengen Stadien und ist individuell sehr unterschiedlich.“
Screenen oder nicht?
Stoppe verwendet zum Screening die HADS (Hospital Anxiety and Depression Scale) oder die geriatrische Depressions- Skala, GDS. „Die GDS gibt es in verschiedenen Versionen mit unterschiedlicher Sensitivität.“ Bisher ist noch unklar, ob alle älteren Menschen auf eine Depression gescreent werden sollten. Das NICE (National Institute for Health and Care Excellence, Großbritannien) empfiehlt dem Hausarzt ein Screening bei Risikopersonen, etwa bei verwitweten und allein lebenden, chronisch kranken Menschen oder bei Personen mit einer Selbstverletzung in der Vorgeschichte.
Ein wichtiger Pfeiler der Therapie sind Medikamente. Das Antidepressivum sollte man sorgfältig auswählen. Oft nehmen nämlich ältere Menschen schon diverse Medikamente ein und es kann zu gefährlichen Wechselwirkungen kommen. Der zweite Pfeiler in der Behandlung ist genau wie bei Jüngeren eine Psychotherapie. Insbesondere für die kognitive Verhaltenstherapie gibt es inzwischen ausreichende Belege dafür, dass sie auch bei älteren Menschen wirkt. Es hapere aber überall am Angebot an Psychotherapien für ältere Menschen, sagte Stoppe. „Dabei wissen wir doch, dass sich das Gehirn auch im Alter noch verändern kann. Für mich ist es immer wieder sehr erfüllend, zu sehen, wie ältere Menschen lernen, dass eine Behandlung bei ihnen noch wirken kann, und wie sie sich darüber freuen.“
Quelle: Vortrag „Depressionen bei Älteren“, 26. Europäischer Psychiatriekongress der European Psychiatric Association (EPA 2018), 3.–6. März 2018
1 Wittchen HU et al.: European Neuropsychopharmacol 2011; 21: 655-79 2 Stoppe G et al.: Volkskrankheit Depression. Springer-Verlag, 2006 3 Cole MG, Dendukuri N: Am J Psych 2003; 160: 1147-56 4 Whooley et al.: Arch Intern Med 1998; 29: 2311-7 5 Ford et al.: Arch Intern Med 1998; 158: 1422-6 6 Albus C et al.: Gesundheitswesen 2005; 67: 1-8 7 Ownby RL et al.: Arch Gen Psychiatry 2006; 63: 530-8 8 Byers Y: Nat Rev Neurol 2011; 7: 323-31 9 Köhler et al.: J Am Geriatr Soc 2015; 63: 692-8 10 Gustafsson H et al.: Neurology 2015 (ePub) 11 Shen CC et al.: Neurology 2013; 81: 1538-44 12 Beekman AT et al.: Soc. Psychiatry Psychiatr Epidemiol 1998; 33: 463-70 13 Morris PLP et al.: Am J Psychiatry 1993; 150: 124-9 14 Kronenberg G et al.: Nervenarzt 2006; 77(10): 1176, 1179-82, 1184-5 15 Härter M et al.: Nervenarzt 2010; 81: 1049-68 16 Semenkovich K et al.: Drugs 2015; 75: 577-87 17 Gurejee O et al.: Curr Opin Psychiatry 2007; 20: 42-6 18 Penninx BW et al.: J Affect Disor 2011; 133(1-2): 76-85 19 Schwarzbach M et al.: Int J Geriatr Psychiatry 2014; 29: 1-21
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