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Suizidalität im hausärztlichen Kontext

Das Beziehungsnetzwerk als Ressource

<p class="article-intro">In Publikationen und Vorträgen wird beim Thema „Suizidalität“ oft auf die Rolle von Allgemeinmedizinern als Gatekeeper verwiesen und im Weiteren das Erfordernis betont, bei Feststellung von Suizidalität rasch zu einem Facharzt für Psychiatrie oder Kinder- und Jugendpsychiatrie oder in den stationären Bereich zu überweisen. Die Rollenanforderung an den Hausarzt und die Hausärztin bei diesem Thema ist allerdings weitaus breiter.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Haus&auml;rzte und -&auml;rztinnen sind oft die ersten Ansprechpartner von Patienten mit Suizidgedanken.</li> <li>Der Beziehungsarbeit mit Patienten, Patientinnen, Angeh&ouml;rigen kommt in diesem Kontext besondere Bedeutung zu.</li> <li>Sowohl bei der &Uuml;berweisung von der Hausarzt- in eine Facharztpraxis oder in den station&auml;ren Bereich als auch bei der R&uuml;ck&uuml;berweisung erleichtert ein umfassender Informationsaustausch die mittel- und langfristige Weiterbetreuung der Patienten.</li> <li>Multidisziplinarit&auml;t und Interdisziplinarit&auml;t wirken f&uuml;r alle Beteiligten bereichernd und bilden einen zus&auml;tzlichen Schutz f&uuml;r die Betroffenen.</li> </ul> </div> <p>Die besondere professionelle Rolle ergibt sich aus dem in der Regel umfangreichen Wissen um Abl&auml;ufe, Ph&auml;nomene und Notwendigkeiten im Umfeld der Patienten und Patientinnen, um deren soziale Einbettung sowie aus der kontinuierlichen Wahrnehmung ihrer Bed&uuml;rfnisse und Anliegen. Dazu kommt die Erfahrung bez&uuml;glich der eigenen Vernetzung im medizinisch- sozialen Bereich sowie der eigenen Kompetenz und auch der eigenen Begrenztheit bez&uuml;glich der Beziehungsgestaltung zum Patienten und zur Patientin.</p> <p>Es sind also mehrere Faktoren und Perspektiven, die beim Thema Suizidalit&auml;t im haus&auml;rztlichen Kontext Ber&uuml;cksichtigung finden sollten, von denen ich die wesentlichen im Folgenden n&auml;her betrachte:</p> <ul> <li>die Relevanz haus&auml;rztlicher T&auml;tigkeit im Umgang mit dem Thema Suizidalit&auml;t</li> <li>die Herausforderungen in der Rolle als Hausarzt bzw. Haus&auml;rztin und deren M&ouml;glichkeiten im Helfernetzwerk</li> <li>die Kommunikation mit den anderen beteiligten &Auml;rzten</li> <li>die Beratungsanl&auml;sse im haus&auml;rztlichen Bereich</li> </ul> <p>Die spezifisch haus&auml;rztliche Relevanz in Bezug auf Suizidalit&auml;t entsteht aus der Tatsache, &bdquo;dass die &uuml;berwiegende Mehrzahl der Patientinnen und Patienten im Vorfeld des Suizids oder des Suizidversuchs den Arzt oder die &Auml;rztin des Vertrauens aufsucht, unter Umst&auml;nden Hinweise auf Suizidabsichten gibt&ldquo;, schreibt Fritz Meyer<sup>1</sup> und verweist auf eine Befragung Angeh&ouml;riger von Suizidopfern.<sup>2</sup> Die besondere Rolle der Haus&auml;rzte unterstreicht auch die Gotlandstudie<sup>3</sup> sowie eine &ouml;sterreichische Initiative: das Wiener Haus&auml;rzteprojekt.<sup>4</sup></p> <p>&Auml;rztinnen und &Auml;rzte im haus&auml;rztlichen Kontext sind beim Thema Suizidalit&auml;t in einem breiten Spannungsbogen herausgefordert, der von der blo&szlig;en Vermutung einer suizidalen Gestimmtheit bis zu einer vollzogenen Suizidhandlung reichen kann. Wohl jeder hat Patientinnen und Patienten schon auf suizidale Gedanken angesprochen und darauf m&ouml;glicherweise eine verneinende oder zustimmende Antwort bekommen. &bdquo;Leitlinie&ldquo; ist jedenfalls die Aufforderung von Sonneck G. im Sinne der Suizidpr&auml;vention: &bdquo;&hellip; wenn Du Suizidalit&auml;t vermutest, dann frag danach&ldquo;.<sup>5</sup> Die &auml;rztliche Aufmerksamkeit gegen&uuml;ber ausgesprochenen oder unausgesprochenen Erwartungen von Patienten und Patientinnen er&ouml;ffnet diesen die M&ouml;glichkeit, Bef&uuml;rchtungen und Hoffnungen zu thematisieren und selbst dabei h&ouml;ren zu k&ouml;nnen, was sie im Stillen denken.</p> <p>Diametral dazu werden Haus&auml;rzte und Haus&auml;rztinnen aber auch manchmal &uuml;berraschend und unerwartet von einer Suizidhandlung eines Patienten oder einer Patientin oder gar vom vollzogenen Suizid informiert und denken in der Folge betroffen &uuml;ber letzte Kontakte und m&ouml;gliche ungeh&ouml;rte Signale nach. Orientierung kann dabei die von Robert Braun, einem Pionier der Allgemeinmedizin, im allgemeinmedizinischen Alltag hilfreiche Unterscheidungsm&ouml;glichkeit geben:<sup>6</sup> Ist oder war das ein &bdquo;abwendbar gef&auml;hrlicher&ldquo; oder vielleicht ein &bdquo;unabwendbar gef&auml;hrlicher&ldquo; Verlauf? Und dennoch bleiben offene und unbeantwortbare Fragen, wann der Entschluss gefallen ist und welche vielen kleinen, nicht beeinflussbaren Faktoren den abwendbaren zum nicht abwendbaren Ereignis machten. Manche Zusammenh&auml;nge werden erst aus der Perspektive der R&uuml;ckschau erstmals sichtbar.</p> <p>Grunds&auml;tzlich geht es beim Umgang mit dem Thema Suizidalit&auml;t darum, zun&auml;chst einen sch&uuml;tzenden Zeitraum zu implementieren, um folgende weitere Schritte gehen zu k&ouml;nnen:</p> <ul> <li>Herstellung und Aufrechterhaltung der Arzt/&Auml;rztin-Patient/Patientin-Beziehung</li> <li>Auftragskl&auml;rung und Planung des weiteren Vorgehens</li> <li>gegebenenfalls Erweiterung des Helfersystems und</li> <li>Etablierung eines Helfernetzwerkes</li> </ul> <h2>Beziehungsarbeit als zentrale Aufgabe in der Allgemeinpraxis</h2> <p>Als wichtigster Schritt im haus&auml;rztlichen Gespr&auml;ch kann das Herstellen einer affektiven Rahmung als erste vertrauensbildende Ma&szlig;nahme gelten, damit in der eingeengten Krisensituation Beziehung entstehen oder aufrechterhalten werden kann. Beziehung steht vor Ver&auml;nderung. Vor der manchmal notwendigen &Uuml;berweisung bzw. Einweisung sollte es gelingen, mit gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit die Arzt-Patient-Beziehung und den aktuellen Anlassfall im Auge zu haben und zu erm&ouml;glichen, dass das weitere Vorgehen zum gemeinsamen Anliegen wird.</p> <p>Damit dies gelingen kann, verwies Ebbecke- Nohlen A. auf die Notwendigkeit, dem Patienten bzw. der Patientin auftragskl&auml;rende Fragen zu stellen und im besten Fall seinen/ihren Auftrag auszuverhandeln: Was ist im Sinne des Patienten bzw. der Patientin, wenn er/sie seine/ihre suizidalen Gedanken im haus&auml;rztlichen Gespr&auml;ch offenbart? M&ouml;chte er/sie Erleichterung, Verst&auml;ndnis oder Trost? M&ouml;chte er/ sie Verantwortung f&uuml;r sich &uuml;bernehmen oder Verantwortung abgeben? Oder m&ouml;chte er/sie Sicherheit und Entscheidungshilfe dabei, sich an einen Ort zu begeben, an dem f&uuml;r seine/ihre Sicherheit gesorgt wird?<sup>7</sup></p> <p>Ein wichtiger Schritt kann in diesem Zusammenhang auch sein, bei der Kontaktaufnahme zu Familienmitgliedern unterst&uuml;tzend zur Seite zu stehen. Auftragskl&auml;rende Fragen helfen dabei, den weiteren Weg der Hilfe zur Selbsthilfe mitzugestalten. Je eingeengter, desto behutsamer sollte das Vorgehen sein, desto mehr sollten vertrauenssichernde Faktoren im Vordergrund stehen, auch und gerade dann, wenn eine manchmal notwendige Einweisung ohne Zustimmung unabwendbar ist.</p> <h2>Wie die Kooperation von haus- und fach&auml;rztlichem Bereich gelingt</h2> <p>Neben der Best&auml;tigung oder Differenzierung einer Diagnose kann eine &Uuml;berweisung auch dazu dienen, die Behandlung zu erweitern oder zu delegieren, eine passende Medikation zu finden und den Patienten oder die Patientin und nicht zuletzt auch sich selbst als Hausarzt oder Haus&auml;rztin abzusichern. Es macht einen Unterschied, aus welchem und auf wessen Wunsch die &Uuml;berweisung zum niedergelassenen Facharzt oder zur Fach&auml;rztin oder die Einweisung in eine psychiatrische Abteilung erfolgt. Damit die &Uuml;berweisung vom Patienten oder der Patientin als hilfreich erlebt werden kann, im Sinne einer Erweiterung des Helfernetzes, das tr&auml;gt und Sicherheit vermittelt, und nicht als &bdquo;Wegweisung&ldquo;, lohnt es sich, gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten zu &uuml;berlegen, was dieses erweiterte Helfersystem erm&ouml;glichen soll. Sonst kann eine Einweisung als Entt&auml;uschung erlebt und als Hilflosigkeit des Arztes oder der &Auml;rztin wahrgenommen werden.</p> <p>Wenn der ambulante Kontext um den station&auml;ren oder teilstation&auml;ren Bereich erweitert wird, sollte der station&auml;re Aufenthalt als &Uuml;bergangszeitraum im besten Fall erm&ouml;glichen, dass Patienten ihre Wahlm&ouml;glichkeiten in Bezug auf L&ouml;sungsstrategien wieder erweitern und lernen, neben ihren Problemen und Defiziten vor allem ihre St&auml;rken und Ressourcen in den Blick zu nehmen.</p> <p>Folgende Fragen k&ouml;nnen sich an dieser Stelle als hilfreich erweisen: Was k&ouml;nnte aus der Sicht des Patienten oder der Patientin durch diesen station&auml;ren Aufenthalt, der auch zu r&auml;umlichem Abstand f&uuml;hrt und einen zeitlich begrenzten &Uuml;bergangszeitraum darstellt, im besten Fall erreicht werden? Wann k&ouml;nnte der Aufenthalt aus seiner/ ihrer Sicht wieder beendet werden, welche bisherigen problemzentrierten Sichtweisen und L&ouml;sungsversuche k&ouml;nnte er/sie dadurch hinter sich lassen?</p> <p>Metaphorisch gesprochen w&auml;re die Erweiterung des Helfersystems dann die Etablierung eines Netzwerkes, das tr&auml;gt und in dem der Hausarzt und die Haus&auml;rztin einen der tragenden Knotenpunkte verk&ouml;rpern. Durch telefonische Kontaktaufnahme und Vorank&uuml;ndigung bzw. Begleitbrief k&ouml;nnten &Uuml;berweisung bzw. Einweisung und R&uuml;ck&uuml;berweisung von allen beteiligten Helfern als verbindende Schnittstellen erlebt werden. Es macht f&uuml;r Patientinnen und Patienten einen gro&szlig;en Unterschied, wie diese erfolgen. Werden zudem die &auml;rztlichen &Uuml;berlegungen transparent kommuniziert, wird von Patientenseite zus&auml;tzliche vertrauensvoll sichernde Kompetenz erlebt.</p> <p>Konsequenterweise k&ouml;nnte eine aktivere Kooperation zwischen den beteiligten &Auml;rzten die R&uuml;ck&uuml;berweisung anl&auml;sslich der Entlassung in den haus&auml;rztlichen Kontext erleichtern. Gut gemeint wird oft im station&auml;ren Kontext ein neues Helfersystem vor der Entlassung implementiert, z. B. zu einem niedergelassenen Facharzt oder einer Fach&auml;rztin, Beratungsstellen, psychosozialen Zentren etc. Da Haus&auml;rzte und Haus&auml;rztinnen &uuml;blicherweise die wohnortnahen M&ouml;glichkeiten und Schwierigkeiten, bisherige Kooperationen mit niedergelassenem Facharzt oder Fach&auml;rztin oder Psychotherapeuten gut kennen, macht es Sinn, sie auch an dieser Stelle in das weitere Procedere miteinzubeziehen. Vor der Entlassung k&ouml;nnten von psychiatrischer Seite folgende Fragen hilfreich sein: Was soll Ihr Hausarzt bzw. Ihre Haus&auml;rztin unbedingt wissen und was nicht? Wie kann er/sie Sie in Ihrem Vorhaben unterst&uuml;tzen? Solche und weitere Fragen k&ouml;nnen den &Uuml;bergang in die haus&auml;rztliche Betreuung vorbereiten, ebenso wie Fragen, welche zus&auml;tzlichen Betreuungsm&ouml;glichkeiten der Patient oder die Patientin selbst kennt und in Anspruch nehmen m&ouml;chte.</p> <p>Im Weiteren ist es f&uuml;r haus&auml;rztliche Kollegen und Kolleginnen immer hilfreich, wenn im Arztbrief an den Einweisenden die Hypothesen, die zur Wahl oder zum Wechsel der Medikation gef&uuml;hrt haben, ausgef&uuml;hrt werden. Diese Hypothesen, die sich auf Symptome, erhoffte Medikamentenwirkung oder z. B. auf notwendige Dauer der Medikation beziehen, tragen im haus&auml;rztlichen Kontakt dazu bei, mit dem Patienten oder der Patientin besser auf lange Sicht im Gespr&auml;ch zu bleiben, was Prognose und Dauer der Medikamenteneinnahme betrifft. Dies erleichtert auch Allgemeinmedizinern und -medizinerinnen, die diesbez&uuml;glichen &Uuml;berlegungen in eine Gesamterfassung &ndash; alle anderen medizinischen und psychosozialen Gegebenheiten ber&uuml;cksichtigend &ndash; miteinflie&szlig;en zu lassen. Die Erweiterung des Helfersystems durch Multidisziplinarit&auml;t und Interdisziplinarit&auml;t wirkt in der Regel bereichernd f&uuml;r alle Beteiligten und kann zu einem zus&auml;tzlichen sch&uuml;tzenden Faktor f&uuml;r die Betroffenen werden.</p> <h2>Beratungsanl&auml;sse, in denen Suizidalit&auml;t f&uuml;r Haus&auml;rzte und Haus&auml;rztinnen Thema werden kann</h2> <p>Im Folgenden soll auf die f&uuml;nf h&auml;ufigsten Beratungsanl&auml;sse beim Thema Suizidalit&auml;t und die damit verbundenen Herausforderungen im haus&auml;rztlichen Kontext exemplarisch eingegangen werden:</p> <ul> <li>psychiatrische Erkrankungen</li> <li>akute Krisensituationen</li> <li>suizidale Ank&uuml;ndigungen bei Jugendlichen</li> <li>Suizidgedanken als haus&auml;rztlicher Konsultationsgrund</li> <li>Suizid und Angeh&ouml;rigenbetreuung</li> </ul> <p><strong>Suizidalit&auml;t bei psychiatrischen Erkrankungen</strong><br /> Bei Suizidalit&auml;t, die in Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen, wie z. B. schwerer Depression oder Abh&auml;ngigkeitserkrankungen, auftritt, gilt es, neben dem &auml;rztlichen Wissen um erh&ouml;hte Suizidalit&auml;t auch St&ouml;rungen des Wahrnehmens, Erlebens, Denkens und Handelns im Rahmen dieser Erkrankungen mit zu ber&uuml;cksichtigen. Kommt es zus&auml;tzlich zum Zusammentreffen mehrerer kritischer Lebensereignisse und mehrerer &bdquo;lebensgef&auml;hrdender Bedingtheiten&ldquo; kann eine erlebte (Un-)Summe von &Uuml;berforderung, Kr&auml;nkung, Angst und Ersch&ouml;pfung dazu f&uuml;hren, dass auf bisherige Copingstrategien nicht mehr zur&uuml;ckgegriffen werden kann.</p> <p><strong>Suizidalit&auml;t im Rahmen einer akuten Krisensituation</strong><br /> Akute Suizidalit&auml;t kann im Rahmen einer akuten Lebenskrise, wie z. B. eines Verlusterlebnisses, einer traumatischen Erfahrung oder eines lebensver&auml;ndernden Umbruchs, oder im Rahmen einer somatischen Erkrankung ausbrechen, die in der Bedeutungsgebung des Betroffenen die Lebensbedingungen unertr&auml;glich erscheinen lassen. Hier ist es von besonderer Bedeutung, die unterschiedlichen Bem&uuml;hungen der verschiedenen helfenden Subsysteme sowohl auf der professionellen Seite wie auch auf Patienten- und Patientinnenseite so zu vernetzen, dass sie zu Ressourcen werden k&ouml;nnen.</p> <p><em>Ein 70-j&auml;hriger Mann, an ALS erkrankt, ruft mich, da er nach station&auml;rer Abkl&auml;rung und Diagnosestellung &uuml;ber fehlende heilende Medikation informiert wurde. Er fragt, ob man die Erkrankung psychologisch heilen k&ouml;nne. Im Weiteren l&auml;sst er die Lade seines Schreibtisches &ouml;ffnen, in der eine Pistole liegt. Er k&uuml;ndigt an: &bdquo;&hellip; bevor ich die Hand nicht mehr heben kann, erschie&szlig;e ich mich!&ldquo; Auch vom Vater war der Tod durch Erschie&szlig;en bekannt. Im weiteren Gespr&auml;ch versichere ich ihm, auch wenn es bislang f&uuml;r diese Erkrankung keine urs&auml;chliche Medikation gibt, so k&ouml;nne er sich bis dorthin auf die wesentlichen Lebensqualit&auml;ten verlassen: Er brauche nicht zu hungern, Durst zu haben, k&ouml;nne schmerzarm sein, er m&uuml;sse nicht durch Atemnot ersticken; auch habe er ein Recht auf ad&auml;quate medizinische Betreuung und vor allem m&uuml;sse er nicht einsam sein. Zwei Jahre sp&auml;ter ruft er mich wieder und teilt mir mit, dass er jetzt Atemnot habe. Es beginnt eine intensivierte Palliativbetreuung gemeinsam mit dem Palliativteam. Der Gedanke, auch die Wahl zu haben, sich zu erschie&szlig;en, hat ihn die Zeit der zunehmenden Einschr&auml;nkung durch die Erkrankung gut leben lassen.</em></p> <p><strong>Suizidale Ank&uuml;ndigungen bei Jugendlichen</strong><br /> Hier gilt es insbesondere den &Uuml;berweisungskontext zu ber&uuml;cksichtigen und herauszufinden, wo, wann und wer zu wem etwas gesagt hat, welche Begrifflichkeiten verwendet wurden und was die gewollte Botschaft sein sollte? Von besonderer Bedeutung sind in der Einsch&auml;tzung die Beachtung der feinen Signale, wie Mimik, nachdenkendes Stirnrunzeln, Tonalit&auml;t, Tr&auml;nen oder Feindseligkeit. Die verbale Kommunikation erm&ouml;glicht zun&auml;chst, in Beziehung zu treten, die feinen nonverbalen Signale geben Hinweise, ob wir etwas verstanden haben oder bezweifeln oder gar eine Gegenposition dazu haben.</p> <p><em>Eines der Warnsignale kann z. B. die inad&auml;quate Reaktion eines Jugendlichen nach einem Verkehrsunfall sein, bei dem der Fahrer im besten Fall unverletzt oder mit ein paar Kratzern neben dem Auto mit Totalschaden steht und dann auf meinen Kommentar &bdquo;Oh je&ldquo; mit den Schultern zuckt und lediglich mit einem gleichg&uuml;ltigen &bdquo;Mmh&ldquo; antwortet. Diese unangemessene Affektreaktion in Zusammenhang mit weiteren kritischen Lebensereignissen ist ein h&ouml;chst beachtenswertes Warnsignal.</em></p> <p>Jugendliche Burschen, die sich im Lebenszyklus in einer normativen &Uuml;bergangssituation befinden, zu deren Selbstwert ein Auto geh&ouml;rt, die nun zus&auml;tzlich zu einem finanziellen Problem die Angst haben, ihre altersentsprechende Unabh&auml;ngigkeit zu verlieren, da sie im l&auml;ndlichen Raum auf ein Auto angewiesen sind, sehen nun den Verlust ihrer M&ouml;glichkeiten vor sich stehen. Dazu kommt m&ouml;glicherweise, dass ihr Selbstwert in ihrer Bedeutungsgebung kr&auml;nkend besch&auml;digt ist, da sie das Auto manchmal als Teil von sich selbst betrachten. Eine inad&auml;quate Reaktion nach einem Unfall braucht daher besondere pr&auml;ventive Beachtung schon am Unfallort sowie vernetzende Unterst&uuml;tzung der Jugendlichen zu ihren Bezugspersonen in ihrer im Moment m&ouml;glicherweise h&ouml;chst irritierten Weltsicht.</p> <p><strong>Suizidgedanken als haus&auml;rztlicher Konsultationsgrund</strong><br /> Wenn Suizidalit&auml;t zum gemeinsam besprochenen Thema im Rahmen einer haus&auml;rztlichen Konsultation wird, kann dies aus Angst vor den Lebensbedingungen sein, aus Angst davor, diese Lebensbedingungen zu ver&auml;ndern, oder aus Angst, im Rahmen einer Krise &uuml;berhaupt auf diese Weise zu denken. Der Rahmen der Ordination oder des Hausbesuches kann beiderseitig gen&uuml;tzt werden, um &bdquo;Gedachtes&ldquo; zur Sprache zu bringen.</p> <p>Es macht einen Unterschied, welche Begriffe wir als Medizinerinnen und Mediziner verwenden und welche Patientinnen, Patienten oder Angeh&ouml;rige verwenden, um das Thema Suizidalit&auml;t im Rahmen einer Krise zur Sprache zu bringen. Es gilt herauszufinden, welche Ideen mit welchen Begrifflichkeiten verbunden sind, wie z. B. lebensm&uuml;de sein, sich umbringen, &bdquo;Ich kann nicht mehr&ldquo;, &bdquo;Ich bin in einem Tunnel ohne Aussicht&ldquo;, &bdquo;Am liebsten w&uuml;rde ich runterspringen&ldquo;, &bdquo;Es hat eh alles keinen Sinn mehr&ldquo;, &bdquo;Ich hab Angst, dass mein Sohn sich was antut&ldquo;, &bdquo;Angst, dass er auf dumme Gedanken kommt&ldquo; und &Auml;hnliches. Die mit den Begriffen verbundenen Ideen sind ihrerseits Ankn&uuml;pfungspunkt bei der gemeinsamen Suche, was so schlimm sei, was beendet werden soll oder welche Hoffnung es auf Ersehntes gibt.</p> <p>Die Fragen nach Lebenssinn, Menschenbild, Weltbild, Gottesbild und pers&ouml;nlichem Lebensentwurf, die der Patient oder die Patientin oder die Angeh&ouml;rigen sich und auch dem Arzt oder der &Auml;rztin stellen, lassen es nicht zu, sich hinter Wissen und therapeutischen Techniken zu verstecken. Wissen um Pathogenese jedoch auch um das Vorhandensein von Ressourcen, Bew&auml;ltigungsstrategien und Widerstandsf&auml;higkeit der Patientinnen und Patienten kann das Gewebe des &Uuml;berganges sein. Es gibt Forschung, die ermutigt, nicht sofort mit St&ouml;rungsbegriffen das Blickfeld einzuengen.</p> <p>Stattdessen kann auch hier der Blick auf die Arzt/&Auml;rztin-Patient/Patientin-Beziehung hilfreich sein. &bdquo;Ich kann es nicht f&uuml;r Sie entscheiden, ich pers&ouml;nlich w&uuml;rde mich aber freuen, wenn Sie sich f&uuml;r das Leben entscheiden.&ldquo;<sup>7</sup> Mit diesem Satz stellt man &auml;rztlicherseits die Entscheidungsm&ouml;glichkeit wieder in den Raum und macht zugleich ein Bindungsangebot in einer Situation, in der Bindungserleben oft eingeschr&auml;nkt ist. Patientinnen und Patienten k&ouml;nnen zeitgleich erleben, dass da jemand ist, der signalisiert, dass sie ihm wichtig sind. Rahm nennt es das &bdquo;Konzept der selektiven Offenheit und Authentizit&auml;t&ldquo;;<sup>8</sup> Offenheit und Authentizit&auml;t als &auml;rztliche Haltung, wann immer es der Entwicklung des Patienten oder der Patientin dient.</p> <p><strong>Suizidalit&auml;t als Thema in der Angeh&ouml;rigenbetreuung</strong><br /> Hier geht es um Angeh&ouml;rige in ihrem Schock, nicht um Patientinnen und Patienten, sondern um Menschen, die pl&ouml;tzlich unerwartet oder schon lange bef&uuml;rchtet vom Tod eines Familienmitglieds erfahren. Die Angeh&ouml;rigen ben&ouml;tigen im Suizidfall nicht nur die Feststellung des Todes, der Todesursache sowie der Todesart und die Ausstellung des Totenscheins, sie brauchen vor allem unsere professionelle, mitmenschliche Hilfe und Sicherheit in der Erstsituation. In der akuten Krisensituation gilt es auch zu ber&uuml;cksichtigen, dass in Abh&auml;ngigkeit vom N&auml;heverh&auml;ltnis und von der Bedeutungsgebung des Umfeldes der Suizid eines Familienmitglieds vom prim&auml;ren Schock bis zur suizidalen Krise eines Angeh&ouml;rigen f&uuml;hren kann.<sup>9</sup></p> <p>Was der akuten Krisenintervention folgen kann, ist ein Prozess der kleinen Schritte. Der rote Faden entsteht durch die vielen Kontakte, die der haus&auml;rztliche Kontext erm&ouml;glicht, in denen an bestehende F&auml;den angekn&uuml;pft werden kann. Hier spiegelt sich in der Sprache oft auch die seelische Verfassung wider. H&auml;ufig ist dann auch Thema, wie viele oder wie wenige M&ouml;glichkeiten derjenige, der durch eine Suizidhandlung sein Leben beendet hat, den anderen gelassen hat und was das f&uuml;r jeden pers&ouml;nlich bedeutet.</p> <p>Viele allgemeinmedizinische Kolleginnen und Kollegen haben sich durch die Notwendigkeiten, die sich aus Krisen von Patientinnen und Patienten ergeben, zus&auml;tzlich vertiefend fortgebildet, so z. B. in Fortbildungsveranstaltungen, im Rahmen der Psy-Diplome oder sie n&uuml;tzen den Rahmen einer Balintgruppe. Letztere ist wesentlich gepr&auml;gt durch die Beziehung der Mitglieder zueinander, die eine Atmosph&auml;re entstehen l&auml;sst, die sowohl das Thema wie auch schwierige oder unbeachtete Gef&uuml;hle in der Arzt/&Auml;rztin-Patient/Patientinnen- Beziehung zul&auml;sst.</p> <h2>Was f&uuml;r alle Situationen in Bezug auf das Thema Suizidalit&auml;t im haus&auml;rztlichen Kontext gilt</h2> <p>Jeder Patient hat im Laufe seines Lebens &bdquo;Landkarten&ldquo; erworben, wie auf Kontrollverlust und &Auml;ngste reagiert werden kann. Krisenerleben kann daher nur im Zusammenhang von Lebenswelt und Lebensgeschichte beleuchtet werden und schlie&szlig;t Kenntnis um bisherige Erfahrungen und Erlebnisse mit ein. Nicht f&uuml;r jeden wird ein Schicksalsschlag zum Trauma, und nicht jeder ben&ouml;tigt in Krisensituationen professionelle Hilfe &ndash; &bdquo;wohl aber erlebbare, zwischenmenschliche Solidarit&auml;t und Hilfestellung&ldquo;.<sup>10</sup> Zu familienmedizinischer T&auml;tigkeit geh&ouml;rt es daher auch, die Vernetzung zum pers&ouml;nlichen Umfeld des Betroffenen anzuregen und diese im Familiengespr&auml;ch zu n&uuml;tzen.</p> <p>Im Kontakt zu Patientinnen, Patienten und Angeh&ouml;rigen in Krisensituationen braucht es Achtsamkeit auf der biologischen, der psychischen, der sozialen und auf der spirituellen Ebene &ndash; und die Aufmerksamkeit daf&uuml;r, was besondere Zeit und langen Atem braucht.<br /> Im Kontakt zu &auml;rztlichen Kollegen und Kolleginnen ben&ouml;tigt es das Wissen um die eigene Vernetztheit, das Bewusstsein, gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen f&uuml;r biologische, soziale und psychologische Fragen da zu sein, und die Erfahrung und den Mut, den eigenen Platz und den eigenen Spielraum in diesem Gesamtgewebe zu nutzen.</p> <p>Ob unser &auml;rztliches Tun insgesamt erfolgreich war, bleibt jedoch immer auch den &Uuml;berlegungen der Patientin oder des Patienten ausgesetzt. Oft Jahre sp&auml;ter bekommen wir manchmal eine R&uuml;ckmeldung: Ein scheinbar kleiner, beil&auml;ufiger Kommentar, eine Frage, eine Geste habe damals so geholfen. Als Hausarzt oder Haus&auml;rztin erinnert man sich kaum oder staunend, was in der langen Begleitung letztlich als hilfreich bewertet wurde, weil es uns damals einfach selbstverst&auml;ndlich schien.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Meyer F: Der Allgemeinarzt 2012; 34(16): 18-20 <strong>2</strong> Michel K: Suizide und Suizidversuche: K&ouml;nnte der Arzt mehr tun? Ergebnisse einer Befragung Angeh&ouml;riger von Suizidversuchern und Suizidopfern. Schweiz Med Wochenschr 1986; 116: 770-4 <strong>3</strong> Rihmer Z et al.: Depression and suicide on Gotland. An intensive study of all suicides before and after a depression-training programme for general practitioners. J Affective Disord 1995; 35(4): 147-52 <strong>4</strong> https://www.bmgf.gv.at/cms/home/attachments/9/0/5/ CH1453/CMS1410263464786/supra_tagung_wshop_gatekeeper_kapitany315.pdf <strong>5</strong> Sonneck G (1996): Krisenintervention und Suizidverh&uuml;tung. 3. aktual. Auflage. Wien: Facultas, 2016. ISBN 9783825246419 <strong>6</strong> Braun RN, Mader FH: Programmierte Diagnostik in der Allgemeinmedizin. 82 Checklisten f&uuml;r Anamnese und Untersuchung. 5. Auflage. Berlin &ndash; Heidelberg &ndash; New York: Springer, 1995. ISBN 978-3-540- 23763-1 <strong>7</strong> Ebbecke-Nohlen A: Borderline-St&ouml;rung aus systemischer Perspektive &ndash;im Einzel- und Familiensetting. Seminar im Rahmen des PSY-3-Diplom-Curriculums, Systemische Tradition der WGPM, in Graz am 19./20. 6. 2015 <strong>8</strong> Rahm D et al.: Einf&uuml;hrung in die Integrative Therapie. Grundlagen und Praxis. Paderborn: Junfermann, 1993 <strong>9</strong> Etzersdorf E: Der unerwartete Suizid. psychopraxis.neuropraxis 2/2018, doi. org/10.1007/s00739-017-0440-4 <strong>10</strong> Hasiba B: Krisenintervention in der allgemeinmedizinischen Praxis. Vortrag im Rahmen der ifsg-Tagung: &Uuml;BERLEBEN, Suizidpr&auml;vention wirkt, 29. 9. 2018 in Graz</p> </div> </p>
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