<p class="article-intro">In Publikationen und Vorträgen wird beim Thema „Suizidalität“ oft auf die Rolle von Allgemeinmedizinern als Gatekeeper verwiesen und im Weiteren das Erfordernis betont, bei Feststellung von Suizidalität rasch zu einem Facharzt für Psychiatrie oder Kinder- und Jugendpsychiatrie oder in den stationären Bereich zu überweisen. Die Rollenanforderung an den Hausarzt und die Hausärztin bei diesem Thema ist allerdings weitaus breiter.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Hausärzte und -ärztinnen sind oft die ersten Ansprechpartner von Patienten mit Suizidgedanken.</li> <li>Der Beziehungsarbeit mit Patienten, Patientinnen, Angehörigen kommt in diesem Kontext besondere Bedeutung zu.</li> <li>Sowohl bei der Überweisung von der Hausarzt- in eine Facharztpraxis oder in den stationären Bereich als auch bei der Rücküberweisung erleichtert ein umfassender Informationsaustausch die mittel- und langfristige Weiterbetreuung der Patienten.</li> <li>Multidisziplinarität und Interdisziplinarität wirken für alle Beteiligten bereichernd und bilden einen zusätzlichen Schutz für die Betroffenen.</li> </ul> </div> <p>Die besondere professionelle Rolle ergibt sich aus dem in der Regel umfangreichen Wissen um Abläufe, Phänomene und Notwendigkeiten im Umfeld der Patienten und Patientinnen, um deren soziale Einbettung sowie aus der kontinuierlichen Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse und Anliegen. Dazu kommt die Erfahrung bezüglich der eigenen Vernetzung im medizinisch- sozialen Bereich sowie der eigenen Kompetenz und auch der eigenen Begrenztheit bezüglich der Beziehungsgestaltung zum Patienten und zur Patientin.</p> <p>Es sind also mehrere Faktoren und Perspektiven, die beim Thema Suizidalität im hausärztlichen Kontext Berücksichtigung finden sollten, von denen ich die wesentlichen im Folgenden näher betrachte:</p> <ul> <li>die Relevanz hausärztlicher Tätigkeit im Umgang mit dem Thema Suizidalität</li> <li>die Herausforderungen in der Rolle als Hausarzt bzw. Hausärztin und deren Möglichkeiten im Helfernetzwerk</li> <li>die Kommunikation mit den anderen beteiligten Ärzten</li> <li>die Beratungsanlässe im hausärztlichen Bereich</li> </ul> <p>Die spezifisch hausärztliche Relevanz in Bezug auf Suizidalität entsteht aus der Tatsache, „dass die überwiegende Mehrzahl der Patientinnen und Patienten im Vorfeld des Suizids oder des Suizidversuchs den Arzt oder die Ärztin des Vertrauens aufsucht, unter Umständen Hinweise auf Suizidabsichten gibt“, schreibt Fritz Meyer<sup>1</sup> und verweist auf eine Befragung Angehöriger von Suizidopfern.<sup>2</sup> Die besondere Rolle der Hausärzte unterstreicht auch die Gotlandstudie<sup>3</sup> sowie eine österreichische Initiative: das Wiener Hausärzteprojekt.<sup>4</sup></p> <p>Ärztinnen und Ärzte im hausärztlichen Kontext sind beim Thema Suizidalität in einem breiten Spannungsbogen herausgefordert, der von der bloßen Vermutung einer suizidalen Gestimmtheit bis zu einer vollzogenen Suizidhandlung reichen kann. Wohl jeder hat Patientinnen und Patienten schon auf suizidale Gedanken angesprochen und darauf möglicherweise eine verneinende oder zustimmende Antwort bekommen. „Leitlinie“ ist jedenfalls die Aufforderung von Sonneck G. im Sinne der Suizidprävention: „… wenn Du Suizidalität vermutest, dann frag danach“.<sup>5</sup> Die ärztliche Aufmerksamkeit gegenüber ausgesprochenen oder unausgesprochenen Erwartungen von Patienten und Patientinnen eröffnet diesen die Möglichkeit, Befürchtungen und Hoffnungen zu thematisieren und selbst dabei hören zu können, was sie im Stillen denken.</p> <p>Diametral dazu werden Hausärzte und Hausärztinnen aber auch manchmal überraschend und unerwartet von einer Suizidhandlung eines Patienten oder einer Patientin oder gar vom vollzogenen Suizid informiert und denken in der Folge betroffen über letzte Kontakte und mögliche ungehörte Signale nach. Orientierung kann dabei die von Robert Braun, einem Pionier der Allgemeinmedizin, im allgemeinmedizinischen Alltag hilfreiche Unterscheidungsmöglichkeit geben:<sup>6</sup> Ist oder war das ein „abwendbar gefährlicher“ oder vielleicht ein „unabwendbar gefährlicher“ Verlauf? Und dennoch bleiben offene und unbeantwortbare Fragen, wann der Entschluss gefallen ist und welche vielen kleinen, nicht beeinflussbaren Faktoren den abwendbaren zum nicht abwendbaren Ereignis machten. Manche Zusammenhänge werden erst aus der Perspektive der Rückschau erstmals sichtbar.</p> <p>Grundsätzlich geht es beim Umgang mit dem Thema Suizidalität darum, zunächst einen schützenden Zeitraum zu implementieren, um folgende weitere Schritte gehen zu können:</p> <ul> <li>Herstellung und Aufrechterhaltung der Arzt/Ärztin-Patient/Patientin-Beziehung</li> <li>Auftragsklärung und Planung des weiteren Vorgehens</li> <li>gegebenenfalls Erweiterung des Helfersystems und</li> <li>Etablierung eines Helfernetzwerkes</li> </ul> <h2>Beziehungsarbeit als zentrale Aufgabe in der Allgemeinpraxis</h2> <p>Als wichtigster Schritt im hausärztlichen Gespräch kann das Herstellen einer affektiven Rahmung als erste vertrauensbildende Maßnahme gelten, damit in der eingeengten Krisensituation Beziehung entstehen oder aufrechterhalten werden kann. Beziehung steht vor Veränderung. Vor der manchmal notwendigen Überweisung bzw. Einweisung sollte es gelingen, mit gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit die Arzt-Patient-Beziehung und den aktuellen Anlassfall im Auge zu haben und zu ermöglichen, dass das weitere Vorgehen zum gemeinsamen Anliegen wird.</p> <p>Damit dies gelingen kann, verwies Ebbecke- Nohlen A. auf die Notwendigkeit, dem Patienten bzw. der Patientin auftragsklärende Fragen zu stellen und im besten Fall seinen/ihren Auftrag auszuverhandeln: Was ist im Sinne des Patienten bzw. der Patientin, wenn er/sie seine/ihre suizidalen Gedanken im hausärztlichen Gespräch offenbart? Möchte er/sie Erleichterung, Verständnis oder Trost? Möchte er/ sie Verantwortung für sich übernehmen oder Verantwortung abgeben? Oder möchte er/sie Sicherheit und Entscheidungshilfe dabei, sich an einen Ort zu begeben, an dem für seine/ihre Sicherheit gesorgt wird?<sup>7</sup></p> <p>Ein wichtiger Schritt kann in diesem Zusammenhang auch sein, bei der Kontaktaufnahme zu Familienmitgliedern unterstützend zur Seite zu stehen. Auftragsklärende Fragen helfen dabei, den weiteren Weg der Hilfe zur Selbsthilfe mitzugestalten. Je eingeengter, desto behutsamer sollte das Vorgehen sein, desto mehr sollten vertrauenssichernde Faktoren im Vordergrund stehen, auch und gerade dann, wenn eine manchmal notwendige Einweisung ohne Zustimmung unabwendbar ist.</p> <h2>Wie die Kooperation von haus- und fachärztlichem Bereich gelingt</h2> <p>Neben der Bestätigung oder Differenzierung einer Diagnose kann eine Überweisung auch dazu dienen, die Behandlung zu erweitern oder zu delegieren, eine passende Medikation zu finden und den Patienten oder die Patientin und nicht zuletzt auch sich selbst als Hausarzt oder Hausärztin abzusichern. Es macht einen Unterschied, aus welchem und auf wessen Wunsch die Überweisung zum niedergelassenen Facharzt oder zur Fachärztin oder die Einweisung in eine psychiatrische Abteilung erfolgt. Damit die Überweisung vom Patienten oder der Patientin als hilfreich erlebt werden kann, im Sinne einer Erweiterung des Helfernetzes, das trägt und Sicherheit vermittelt, und nicht als „Wegweisung“, lohnt es sich, gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten zu überlegen, was dieses erweiterte Helfersystem ermöglichen soll. Sonst kann eine Einweisung als Enttäuschung erlebt und als Hilflosigkeit des Arztes oder der Ärztin wahrgenommen werden.</p> <p>Wenn der ambulante Kontext um den stationären oder teilstationären Bereich erweitert wird, sollte der stationäre Aufenthalt als Übergangszeitraum im besten Fall ermöglichen, dass Patienten ihre Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Lösungsstrategien wieder erweitern und lernen, neben ihren Problemen und Defiziten vor allem ihre Stärken und Ressourcen in den Blick zu nehmen.</p> <p>Folgende Fragen können sich an dieser Stelle als hilfreich erweisen: Was könnte aus der Sicht des Patienten oder der Patientin durch diesen stationären Aufenthalt, der auch zu räumlichem Abstand führt und einen zeitlich begrenzten Übergangszeitraum darstellt, im besten Fall erreicht werden? Wann könnte der Aufenthalt aus seiner/ ihrer Sicht wieder beendet werden, welche bisherigen problemzentrierten Sichtweisen und Lösungsversuche könnte er/sie dadurch hinter sich lassen?</p> <p>Metaphorisch gesprochen wäre die Erweiterung des Helfersystems dann die Etablierung eines Netzwerkes, das trägt und in dem der Hausarzt und die Hausärztin einen der tragenden Knotenpunkte verkörpern. Durch telefonische Kontaktaufnahme und Vorankündigung bzw. Begleitbrief könnten Überweisung bzw. Einweisung und Rücküberweisung von allen beteiligten Helfern als verbindende Schnittstellen erlebt werden. Es macht für Patientinnen und Patienten einen großen Unterschied, wie diese erfolgen. Werden zudem die ärztlichen Überlegungen transparent kommuniziert, wird von Patientenseite zusätzliche vertrauensvoll sichernde Kompetenz erlebt.</p> <p>Konsequenterweise könnte eine aktivere Kooperation zwischen den beteiligten Ärzten die Rücküberweisung anlässlich der Entlassung in den hausärztlichen Kontext erleichtern. Gut gemeint wird oft im stationären Kontext ein neues Helfersystem vor der Entlassung implementiert, z. B. zu einem niedergelassenen Facharzt oder einer Fachärztin, Beratungsstellen, psychosozialen Zentren etc. Da Hausärzte und Hausärztinnen üblicherweise die wohnortnahen Möglichkeiten und Schwierigkeiten, bisherige Kooperationen mit niedergelassenem Facharzt oder Fachärztin oder Psychotherapeuten gut kennen, macht es Sinn, sie auch an dieser Stelle in das weitere Procedere miteinzubeziehen. Vor der Entlassung könnten von psychiatrischer Seite folgende Fragen hilfreich sein: Was soll Ihr Hausarzt bzw. Ihre Hausärztin unbedingt wissen und was nicht? Wie kann er/sie Sie in Ihrem Vorhaben unterstützen? Solche und weitere Fragen können den Übergang in die hausärztliche Betreuung vorbereiten, ebenso wie Fragen, welche zusätzlichen Betreuungsmöglichkeiten der Patient oder die Patientin selbst kennt und in Anspruch nehmen möchte.</p> <p>Im Weiteren ist es für hausärztliche Kollegen und Kolleginnen immer hilfreich, wenn im Arztbrief an den Einweisenden die Hypothesen, die zur Wahl oder zum Wechsel der Medikation geführt haben, ausgeführt werden. Diese Hypothesen, die sich auf Symptome, erhoffte Medikamentenwirkung oder z. B. auf notwendige Dauer der Medikation beziehen, tragen im hausärztlichen Kontakt dazu bei, mit dem Patienten oder der Patientin besser auf lange Sicht im Gespräch zu bleiben, was Prognose und Dauer der Medikamenteneinnahme betrifft. Dies erleichtert auch Allgemeinmedizinern und -medizinerinnen, die diesbezüglichen Überlegungen in eine Gesamterfassung – alle anderen medizinischen und psychosozialen Gegebenheiten berücksichtigend – miteinfließen zu lassen. Die Erweiterung des Helfersystems durch Multidisziplinarität und Interdisziplinarität wirkt in der Regel bereichernd für alle Beteiligten und kann zu einem zusätzlichen schützenden Faktor für die Betroffenen werden.</p> <h2>Beratungsanlässe, in denen Suizidalität für Hausärzte und Hausärztinnen Thema werden kann</h2> <p>Im Folgenden soll auf die fünf häufigsten Beratungsanlässe beim Thema Suizidalität und die damit verbundenen Herausforderungen im hausärztlichen Kontext exemplarisch eingegangen werden:</p> <ul> <li>psychiatrische Erkrankungen</li> <li>akute Krisensituationen</li> <li>suizidale Ankündigungen bei Jugendlichen</li> <li>Suizidgedanken als hausärztlicher Konsultationsgrund</li> <li>Suizid und Angehörigenbetreuung</li> </ul> <p><strong>Suizidalität bei psychiatrischen Erkrankungen</strong><br /> Bei Suizidalität, die in Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen, wie z. B. schwerer Depression oder Abhängigkeitserkrankungen, auftritt, gilt es, neben dem ärztlichen Wissen um erhöhte Suizidalität auch Störungen des Wahrnehmens, Erlebens, Denkens und Handelns im Rahmen dieser Erkrankungen mit zu berücksichtigen. Kommt es zusätzlich zum Zusammentreffen mehrerer kritischer Lebensereignisse und mehrerer „lebensgefährdender Bedingtheiten“ kann eine erlebte (Un-)Summe von Überforderung, Kränkung, Angst und Erschöpfung dazu führen, dass auf bisherige Copingstrategien nicht mehr zurückgegriffen werden kann.</p> <p><strong>Suizidalität im Rahmen einer akuten Krisensituation</strong><br /> Akute Suizidalität kann im Rahmen einer akuten Lebenskrise, wie z. B. eines Verlusterlebnisses, einer traumatischen Erfahrung oder eines lebensverändernden Umbruchs, oder im Rahmen einer somatischen Erkrankung ausbrechen, die in der Bedeutungsgebung des Betroffenen die Lebensbedingungen unerträglich erscheinen lassen. Hier ist es von besonderer Bedeutung, die unterschiedlichen Bemühungen der verschiedenen helfenden Subsysteme sowohl auf der professionellen Seite wie auch auf Patienten- und Patientinnenseite so zu vernetzen, dass sie zu Ressourcen werden können.</p> <p><em>Ein 70-jähriger Mann, an ALS erkrankt, ruft mich, da er nach stationärer Abklärung und Diagnosestellung über fehlende heilende Medikation informiert wurde. Er fragt, ob man die Erkrankung psychologisch heilen könne. Im Weiteren lässt er die Lade seines Schreibtisches öffnen, in der eine Pistole liegt. Er kündigt an: „… bevor ich die Hand nicht mehr heben kann, erschieße ich mich!“ Auch vom Vater war der Tod durch Erschießen bekannt. Im weiteren Gespräch versichere ich ihm, auch wenn es bislang für diese Erkrankung keine ursächliche Medikation gibt, so könne er sich bis dorthin auf die wesentlichen Lebensqualitäten verlassen: Er brauche nicht zu hungern, Durst zu haben, könne schmerzarm sein, er müsse nicht durch Atemnot ersticken; auch habe er ein Recht auf adäquate medizinische Betreuung und vor allem müsse er nicht einsam sein. Zwei Jahre später ruft er mich wieder und teilt mir mit, dass er jetzt Atemnot habe. Es beginnt eine intensivierte Palliativbetreuung gemeinsam mit dem Palliativteam. Der Gedanke, auch die Wahl zu haben, sich zu erschießen, hat ihn die Zeit der zunehmenden Einschränkung durch die Erkrankung gut leben lassen.</em></p> <p><strong>Suizidale Ankündigungen bei Jugendlichen</strong><br /> Hier gilt es insbesondere den Überweisungskontext zu berücksichtigen und herauszufinden, wo, wann und wer zu wem etwas gesagt hat, welche Begrifflichkeiten verwendet wurden und was die gewollte Botschaft sein sollte? Von besonderer Bedeutung sind in der Einschätzung die Beachtung der feinen Signale, wie Mimik, nachdenkendes Stirnrunzeln, Tonalität, Tränen oder Feindseligkeit. Die verbale Kommunikation ermöglicht zunächst, in Beziehung zu treten, die feinen nonverbalen Signale geben Hinweise, ob wir etwas verstanden haben oder bezweifeln oder gar eine Gegenposition dazu haben.</p> <p><em>Eines der Warnsignale kann z. B. die inadäquate Reaktion eines Jugendlichen nach einem Verkehrsunfall sein, bei dem der Fahrer im besten Fall unverletzt oder mit ein paar Kratzern neben dem Auto mit Totalschaden steht und dann auf meinen Kommentar „Oh je“ mit den Schultern zuckt und lediglich mit einem gleichgültigen „Mmh“ antwortet. Diese unangemessene Affektreaktion in Zusammenhang mit weiteren kritischen Lebensereignissen ist ein höchst beachtenswertes Warnsignal.</em></p> <p>Jugendliche Burschen, die sich im Lebenszyklus in einer normativen Übergangssituation befinden, zu deren Selbstwert ein Auto gehört, die nun zusätzlich zu einem finanziellen Problem die Angst haben, ihre altersentsprechende Unabhängigkeit zu verlieren, da sie im ländlichen Raum auf ein Auto angewiesen sind, sehen nun den Verlust ihrer Möglichkeiten vor sich stehen. Dazu kommt möglicherweise, dass ihr Selbstwert in ihrer Bedeutungsgebung kränkend beschädigt ist, da sie das Auto manchmal als Teil von sich selbst betrachten. Eine inadäquate Reaktion nach einem Unfall braucht daher besondere präventive Beachtung schon am Unfallort sowie vernetzende Unterstützung der Jugendlichen zu ihren Bezugspersonen in ihrer im Moment möglicherweise höchst irritierten Weltsicht.</p> <p><strong>Suizidgedanken als hausärztlicher Konsultationsgrund</strong><br /> Wenn Suizidalität zum gemeinsam besprochenen Thema im Rahmen einer hausärztlichen Konsultation wird, kann dies aus Angst vor den Lebensbedingungen sein, aus Angst davor, diese Lebensbedingungen zu verändern, oder aus Angst, im Rahmen einer Krise überhaupt auf diese Weise zu denken. Der Rahmen der Ordination oder des Hausbesuches kann beiderseitig genützt werden, um „Gedachtes“ zur Sprache zu bringen.</p> <p>Es macht einen Unterschied, welche Begriffe wir als Medizinerinnen und Mediziner verwenden und welche Patientinnen, Patienten oder Angehörige verwenden, um das Thema Suizidalität im Rahmen einer Krise zur Sprache zu bringen. Es gilt herauszufinden, welche Ideen mit welchen Begrifflichkeiten verbunden sind, wie z. B. lebensmüde sein, sich umbringen, „Ich kann nicht mehr“, „Ich bin in einem Tunnel ohne Aussicht“, „Am liebsten würde ich runterspringen“, „Es hat eh alles keinen Sinn mehr“, „Ich hab Angst, dass mein Sohn sich was antut“, „Angst, dass er auf dumme Gedanken kommt“ und Ähnliches. Die mit den Begriffen verbundenen Ideen sind ihrerseits Anknüpfungspunkt bei der gemeinsamen Suche, was so schlimm sei, was beendet werden soll oder welche Hoffnung es auf Ersehntes gibt.</p> <p>Die Fragen nach Lebenssinn, Menschenbild, Weltbild, Gottesbild und persönlichem Lebensentwurf, die der Patient oder die Patientin oder die Angehörigen sich und auch dem Arzt oder der Ärztin stellen, lassen es nicht zu, sich hinter Wissen und therapeutischen Techniken zu verstecken. Wissen um Pathogenese jedoch auch um das Vorhandensein von Ressourcen, Bewältigungsstrategien und Widerstandsfähigkeit der Patientinnen und Patienten kann das Gewebe des Überganges sein. Es gibt Forschung, die ermutigt, nicht sofort mit Störungsbegriffen das Blickfeld einzuengen.</p> <p>Stattdessen kann auch hier der Blick auf die Arzt/Ärztin-Patient/Patientin-Beziehung hilfreich sein. „Ich kann es nicht für Sie entscheiden, ich persönlich würde mich aber freuen, wenn Sie sich für das Leben entscheiden.“<sup>7</sup> Mit diesem Satz stellt man ärztlicherseits die Entscheidungsmöglichkeit wieder in den Raum und macht zugleich ein Bindungsangebot in einer Situation, in der Bindungserleben oft eingeschränkt ist. Patientinnen und Patienten können zeitgleich erleben, dass da jemand ist, der signalisiert, dass sie ihm wichtig sind. Rahm nennt es das „Konzept der selektiven Offenheit und Authentizität“;<sup>8</sup> Offenheit und Authentizität als ärztliche Haltung, wann immer es der Entwicklung des Patienten oder der Patientin dient.</p> <p><strong>Suizidalität als Thema in der Angehörigenbetreuung</strong><br /> Hier geht es um Angehörige in ihrem Schock, nicht um Patientinnen und Patienten, sondern um Menschen, die plötzlich unerwartet oder schon lange befürchtet vom Tod eines Familienmitglieds erfahren. Die Angehörigen benötigen im Suizidfall nicht nur die Feststellung des Todes, der Todesursache sowie der Todesart und die Ausstellung des Totenscheins, sie brauchen vor allem unsere professionelle, mitmenschliche Hilfe und Sicherheit in der Erstsituation. In der akuten Krisensituation gilt es auch zu berücksichtigen, dass in Abhängigkeit vom Näheverhältnis und von der Bedeutungsgebung des Umfeldes der Suizid eines Familienmitglieds vom primären Schock bis zur suizidalen Krise eines Angehörigen führen kann.<sup>9</sup></p> <p>Was der akuten Krisenintervention folgen kann, ist ein Prozess der kleinen Schritte. Der rote Faden entsteht durch die vielen Kontakte, die der hausärztliche Kontext ermöglicht, in denen an bestehende Fäden angeknüpft werden kann. Hier spiegelt sich in der Sprache oft auch die seelische Verfassung wider. Häufig ist dann auch Thema, wie viele oder wie wenige Möglichkeiten derjenige, der durch eine Suizidhandlung sein Leben beendet hat, den anderen gelassen hat und was das für jeden persönlich bedeutet.</p> <p>Viele allgemeinmedizinische Kolleginnen und Kollegen haben sich durch die Notwendigkeiten, die sich aus Krisen von Patientinnen und Patienten ergeben, zusätzlich vertiefend fortgebildet, so z. B. in Fortbildungsveranstaltungen, im Rahmen der Psy-Diplome oder sie nützen den Rahmen einer Balintgruppe. Letztere ist wesentlich geprägt durch die Beziehung der Mitglieder zueinander, die eine Atmosphäre entstehen lässt, die sowohl das Thema wie auch schwierige oder unbeachtete Gefühle in der Arzt/Ärztin-Patient/Patientinnen- Beziehung zulässt.</p> <h2>Was für alle Situationen in Bezug auf das Thema Suizidalität im hausärztlichen Kontext gilt</h2> <p>Jeder Patient hat im Laufe seines Lebens „Landkarten“ erworben, wie auf Kontrollverlust und Ängste reagiert werden kann. Krisenerleben kann daher nur im Zusammenhang von Lebenswelt und Lebensgeschichte beleuchtet werden und schließt Kenntnis um bisherige Erfahrungen und Erlebnisse mit ein. Nicht für jeden wird ein Schicksalsschlag zum Trauma, und nicht jeder benötigt in Krisensituationen professionelle Hilfe – „wohl aber erlebbare, zwischenmenschliche Solidarität und Hilfestellung“.<sup>10</sup> Zu familienmedizinischer Tätigkeit gehört es daher auch, die Vernetzung zum persönlichen Umfeld des Betroffenen anzuregen und diese im Familiengespräch zu nützen.</p> <p>Im Kontakt zu Patientinnen, Patienten und Angehörigen in Krisensituationen braucht es Achtsamkeit auf der biologischen, der psychischen, der sozialen und auf der spirituellen Ebene – und die Aufmerksamkeit dafür, was besondere Zeit und langen Atem braucht.<br /> Im Kontakt zu ärztlichen Kollegen und Kolleginnen benötigt es das Wissen um die eigene Vernetztheit, das Bewusstsein, gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen für biologische, soziale und psychologische Fragen da zu sein, und die Erfahrung und den Mut, den eigenen Platz und den eigenen Spielraum in diesem Gesamtgewebe zu nutzen.</p> <p>Ob unser ärztliches Tun insgesamt erfolgreich war, bleibt jedoch immer auch den Überlegungen der Patientin oder des Patienten ausgesetzt. Oft Jahre später bekommen wir manchmal eine Rückmeldung: Ein scheinbar kleiner, beiläufiger Kommentar, eine Frage, eine Geste habe damals so geholfen. Als Hausarzt oder Hausärztin erinnert man sich kaum oder staunend, was in der langen Begleitung letztlich als hilfreich bewertet wurde, weil es uns damals einfach selbstverständlich schien.</p></p>
<p class="article-footer">
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<p><strong>1</strong> Meyer F: Der Allgemeinarzt 2012; 34(16): 18-20 <strong>2</strong> Michel K: Suizide und Suizidversuche: Könnte der Arzt mehr tun? Ergebnisse einer Befragung Angehöriger von Suizidversuchern und Suizidopfern. Schweiz Med Wochenschr 1986; 116: 770-4 <strong>3</strong> Rihmer Z et al.: Depression and suicide on Gotland. An intensive study of all suicides before and after a depression-training programme for general practitioners. J Affective Disord 1995; 35(4): 147-52 <strong>4</strong> https://www.bmgf.gv.at/cms/home/attachments/9/0/5/ CH1453/CMS1410263464786/supra_tagung_wshop_gatekeeper_kapitany315.pdf <strong>5</strong> Sonneck G (1996): Krisenintervention und Suizidverhütung. 3. aktual. Auflage. Wien: Facultas, 2016. ISBN 9783825246419 <strong>6</strong> Braun RN, Mader FH: Programmierte Diagnostik in der Allgemeinmedizin. 82 Checklisten für Anamnese und Untersuchung. 5. Auflage. Berlin – Heidelberg – New York: Springer, 1995. ISBN 978-3-540- 23763-1 <strong>7</strong> Ebbecke-Nohlen A: Borderline-Störung aus systemischer Perspektive –im Einzel- und Familiensetting. Seminar im Rahmen des PSY-3-Diplom-Curriculums, Systemische Tradition der WGPM, in Graz am 19./20. 6. 2015 <strong>8</strong> Rahm D et al.: Einführung in die Integrative Therapie. Grundlagen und Praxis. Paderborn: Junfermann, 1993 <strong>9</strong> Etzersdorf E: Der unerwartete Suizid. psychopraxis.neuropraxis 2/2018, doi. org/10.1007/s00739-017-0440-4 <strong>10</strong> Hasiba B: Krisenintervention in der allgemeinmedizinischen Praxis. Vortrag im Rahmen der ifsg-Tagung: ÜBERLEBEN, Suizidprävention wirkt, 29. 9. 2018 in Graz</p>
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