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Unterstützung für Kinder psychisch erkrankter Eltern

CAPSY – Prävention in der Erwachsenenpsychiatrie

Kinder psychisch erkrankter Eltern sind häufig ebenfalls psychisch belastet, werden aber durch das psychiatrische Behandlungssystem oft erst spät wahrgenommen und erhalten zu wenig Unterstützung. Das Projekt CAPSY (Children and Adolescents in Adult Psychiatry) soll dies ändern, indem die Situation der Kinder während der Behandlung ihres Elternteils vermehrt thematisiert wird.

Keypoints

  • Ein Fünftel aller Kinder lebt mit einem psychisch erkrankten Elternteil, viele davon sind durch die Situation belastet.

  • Kinder psychisch erkrankter Eltern brauchen in erster Linie altersgemässe Erklärungen über die Erkrankung des Elternteils sowie eine verlässliche erwachsene Bezugsperson, mit der sie über ihre Sorgen sprechen können.

  • Das Projekt CAPSY schafft in vier psychiatrischen Kliniken die nötigen Rahmenbedingungen, damit die Kinder während der stationären Behandlung ihrer Mutter oder ihres Vaters besser unterstützt werden können.

Kinder psychisch erkrankter Eltern – eine verpasste präventive Zielgruppe

Ist ein Elternteil psychisch erkrankt, ist das für die mitbetroffenen Kinder belastend und sie tragen ein höheres Risiko, psychisch zu erkranken.1,2,3,4 Die Kinder verstehen häufig nicht, was passiert, können in vielen Fällen mit niemandem über ihre Sorgen sprechen und müssen oft viel allein bewältigen.5 Diese Situation betrifft viele Kinder: Schätzungen gehen davon aus, dass weltweit rund ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen mit einem psychisch erkrankten Elternteil zusammenlebt.6 Gemäss den aktuellen Bevölkerungszahlen des Bundesamts für Statistik entspricht dies ca. 320.000 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren in der Schweiz.7

Obwohl dieser Zusammenhang seit Längerem bekannt ist,2,3 werden viele Kinder von psychisch erkrankten Eltern lange nicht gesehen und erhalten oft erst dann Unterstützung, wenn sie selbst psychiatrische Hilfe benötigen.6,8 Dies ist aus Sicht der Prävention ungünstig, denn es gibt Faktoren, auf die von aussen eingewirkt werden kann, um die Kinder frühzeitig zu unterstützen. Gemäss aktueller Forschungslage sind neben der Behandlung der elterlichen Erkrankung die folgenden Punkte am wichtigsten für eine gesunde Entwicklung der Kinder: die altersadäquate Aufklärung der Kinder über die Erkrankung der Eltern, ein offener Umgang mit der Erkrankung, eine gemeinsame Krankheitsbewältigung sowie praktische Unterstützung für die Kinder bzw. die ganze Familie.8

Ein präventives Zeitfenster, das für die Identifikation und Unterstützung der Kinder von psychisch erkrankten Eltern genutzt werden könnte, stellt der stationäre Aufenthalt eines erkrankten Elternteils dar. Das Thema «Kinder psychisch erkrankter Eltern» vermehrt in der psychiatrischen Erwachsenenversorgung zu verankern, hat sich in den vergangenen Jahren jedoch als keine leichte Aufgabe erwiesen. So gilt beispielsweise in Norwegen seit 2010 die gesetzlich verpflichtende Vorgabe, die Kinder von erwachsenen Patient:innen im Rahmen der erwachsenenpsychiatrischen Behandlung zu berücksichtigen.9 Das begleitende Monitoring zeigte, dass zehn Jahre nach Einführung dieser gesetzlichen Massnahme erst gut die Hälfte der Kinder registriert wurde und dass es wahrscheinlich ab Inkrafttreten des neuen Gesetzes insgesamt fast 20 Jahre dauern wird, bis dies flächendeckend der Fall sein wird.9

Die Gründe, weshalb es so schwierig ist, das Thema «Kinder von psychisch erkrankten Eltern» in der Erwachsenenpsychiatrie vermehrt zu verankern, lassen sich in strukturelle und psychologische einteilen. So zeigte eine Befragung von erwachsenenpsychiatrischen Fachpersonen, dass bei der Einführung eines familienzentrierten Ansatzes einerseits strukturelle Hürden wahrgenommen werden (z.B. ungenügende Ressourcen, unklare Rollen, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten);10 andererseits stehen psychologische Faktoren im Raum, die es den Fachpersonen zusätzlich erschweren, sich vermehrt auf die Kinder ihrer Patient:innen zu fokussieren (z.B. mangelndes Vertrauen in die eigene Kompetenz, mit Kindern zu arbeiten, Befürchtung, die therapeutische Allianz zur/zum erwachsenen Patient:in zu gefährden, Angst vor Bedürfniskonflikten).10 Als förderlich für ein vermehrt familienzentriertes Vorgehen wurden im strukturellen Bereich klare Rahmenbedingungen, das Bekenntnis der Klinikleitung zum Thema sowie klar dem Thema zugewiesene Ressourcen genannt, während im psychologischen Bereich ein Fokus auf die Stärken der Eltern und die Zusammenarbeit im Team bzw. im ganzen Unterstützungsnetz als hilfreich erlebt wurden.10

Eine 2022 im Auftrag des Instituts Kinderseele Schweiz (iks) durchgeführte Umfrage in 27 schweizerischen psychiatrischen Einrichtungen zeigte auf, dass in der Schweiz sowohl hinsichtlich der strukturellen als auch der psychologischen Faktoren Handlungsbedarf besteht.11 Viele Teilnehmer:innen der Umfrage wünschen sich zwar, dass die Situation und Bedürfnisse der Kinder von Patient:innen in ihrer Einrichtung mehr Beachtung fänden. Doch viele Teilnehmer:innen geben auch an, sie bräuchten dazu klarere Strukturen und entsprechende Angebote, mehr Fachwissen und mehr zeitliche Ressourcen, um das Thema «Kinder» mit ihren Patient:innen ansprechen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde vom iks das Projekt CAPSY (Children and Adolescents in Adult Psychiatry) lanciert.

Das Projekt CAPSY

Das Projekt CAPSY soll es ermöglichen, das Zeitfenster eines stationären Aufenthalts von psychisch erkrankten Eltern vermehrt zu nutzen, um deren minderjährige Kinder zu identifizieren (= Schliessen der Identifikationslücke nach Christansen et al., 2020)8 und die oben genannten beeinflussbaren Unterstützungsfaktoren für die Kinder zu bearbeiten oder deren Bearbeitung extern in die Wege zu leiten (= Schliessen der Präventionslücke nach Christiansen et al., 2020).8 Um dies zu erreichen, sollen in vier Pilotkliniken einerseits Strukturen und Prozesse geschaffen werden, die es den Mitarbeitenden in den erwachsenenpsychiatrischen Kliniken möglichst einfach machen, an die Kinder der Patient:innen zu denken und, falls nötig, Aufklärungsarbeit zu leisten und Unterstützung zu organisieren (z.B. Optimierung der IT-Prozesse, Anpassen von Interviewleitfäden). Andererseits soll durch Schulung, Supervision, stufengerechte Verantwortung, klare Grenzen und realistische Erwartungen sichergestellt werden, dass sich alle Mitarbeitenden der Kliniken dazu befähigt fühlen. Generell wird ein Normalisierungsprozess angestrebt – es soll in den Erwachsenenkliniken Standard werden, an die Kinder zu denken und gegebenenfalls Schritte zur Unterstützung einzuleiten. Parallel zur Projektarbeit in den vier Pilotkliniken wird im Rahmen von CAPSY die Vernetzung der relevanten Fachpersonen gefördert und frühzeitig eine nachhaltige Finanzierung der eingeführten Neuerungen angestrebt.

Die Projektleitung übernimmt das iks. Das Projekt wird gemeinsam mit vier erwachsenenpsychiatrischen Kliniken (Clienia Littenheid AG, Integrierte Psychiatrie Winterthur, Privatklinik Hohenegg, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich) sowie mit der SWICA Krankenversicherung durchgeführt. Jede Klinik nimmt mit einer Psychotherapiestation mit dem Schwerpunkt Angst- und Depressionserkrankungen am Projekt teil. Die Projektarbeiten erstrecken sich über vier Jahre (2023-2026) und werden finanziell unterstützt durch die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz im Rahmen des Fonds «Prävention in der Gesundheitsversorgung».

Das Projekt CAPSY stützt sich in seiner Vorgehensweise auf ein bestehendes Implementationsmodell,12 um eine möglichst günstige Ausgangslage für eine nachhaltige Implementation der einzuführenden Neuerungen zu schaffen. Gemäss diesem Modell sind Mitarbeitende aus verschiedenen Ebenen an der Erarbeitung und Umsetzung der einzuführenden Neuerungen beteiligt. Für CAPSY bedeutet das, dass die Klinikleitungen die Ist-Situation in ihren Einrichtungen analysieren, spezifische Ziele für die entsprechende Klinik festlegen und die nötigen Rahmenbedingungen schaffen (Einbettung in die Klinikstrategie, Ressourcen, Sicherstellen Weiterbildung, Supervision). Zudem können sie für die Umsetzung der konkreten Neuerungen zum Thema «Kinder von Patient:innen» zwischen drei Massnahmenpaketen wählen (s. Abbildung 1).

Abb. 1: Massnahmenpakete Projekt CAPSY

Die Mitarbeiter:innen der Pilotstationen gestalten den Prozess mit, erarbeiten die Neuerungen zum Thema «Kinder psychisch kranker Eltern» und nehmen an Schulungen und Supervisionen teil. So soll auf der Ebene der Patient:innen erreicht werden, dass sie und ihre Kinder im Rahmen des stationären Aufenthalts Informationen darüber erhalten, was Eltern und Kinder in der herausfordernden Situation einer psychischen Erkrankung eines Elternteils besonders brauchen und wie sie in diesem Prozess am besten unterstützt werden können.

1 Albermann et al.: Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil. Paediatrica 2021; 32(4): 29-35 2 Devlin JM, O‘Brien LM: Children of parents with mental illness: An overview from a nursing perspective. Aust N Z J Ment Health nurs 1999; 8(1): 19-29 3 Mattejat F, Remschmidt H: The Children of Mentally Ill Parents. Dtsch Arztebl Int 2008; 105(23): 413-8 4 Schuler D et al: Psychische Gesundheit in der Schweiz. Monitoring 2020; Obsan Bericht 15/2020. Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium 5 Plattner A: Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Eltern richtig einschätzen und fördern. (2. aktualisierte Ausgabe). München: Ernst Reinhardt Verlag 2019 6 Leijdesdorff S et al.: Prevalence of psycho-pathology in children of parents with mental illness and/or addiction: an up to date narrative review. Curr Opin Psychiatry 2017; 30(4): 312-7 7 Bundesamt für Statistik: Ständige Wohnbevölkerung nach Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeitskategorie, 2010-2022. Online: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/alter.assetdetail. 26565150.html (Last accessed 11.01.2024) 8 Christiansen H et al.: Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen. State of the Art für Psychotherapeutinnen, Pädiaterinnen, Pädagoginnen. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2020 9 Reedtz C et al.: Identification of mentally ill patients and provision of support according to the Norwegian Health Legislation: A 11-year review. Front Psychiatry 2022; 12: 815526 10 Tuck M et al.: A balancing act: A systematic review an metasynthesis of family-focused practice in adult mental health services. Clin Child Fam Psychol Rev 2023; 26(1): 190-211 11 Müller B: Angebote für Kinder psychiatrisch hospitalisierter Eltern: Online-Befragung in psychiatrischen Kliniken zu Bestand und Bedarf. 2023 Online: https://www.kinderseele.ch/wp-content/uploads/2023/08/Bericht-Onlinebefragung-Kliniken-24-05-23_FINAL.pdf (Last accessed 11.01.2024) 12 Allchin B et al.: A sustainability model for family-focused practice in adult mental health services. Front Psychiatry 2022; 12: 761889

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