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Fachtagung Bipolar

Bipolare Störungen korrekt diagnostizieren und abgrenzen

<p class="article-intro">Wie wichtig es wäre, bipolare Störungen korrekt zu diagnostizieren, und wie man bipolare von unipolaren und von schizoaffektiven Störungen abgrenzt und adäquat therapiert, diskutierten Experten aus der Schweiz und Deutschland auf der Fachtagung Bipolar in Zürich.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein; Langen und bangen in schwebender Pein; Himmelhoch jauchzend, zum Tode betr&uuml;bt &hellip; &raquo; &ndash; so beschrieb schon Goethe in seinem &laquo;Egmont&raquo; das zyklothyme Temperament des liebenden Cl&auml;rchen. Bipolare St&ouml;rungen haben viele Gesichter; sie sind klinisch relevant, denn von ihnen h&auml;ngt die Therapie ab. &laquo;Bipolare St&ouml;rungen werden oft zu sp&auml;t oder falsch diagnostiziert&raquo;, sagte Prof. Gregor Hasler, Chefarzt an der Uniklinik f&uuml;r Psychiatrie und Psychotherapie Bern und Organisator der Fachtagung Bipolar. Die M&ouml;glichkeiten der Pharmako- und Psychotherapie w&uuml;rden oft nicht voll ausgesch&ouml;pft, und viele Betroffene s&auml;hen nie einen Experten. Auch bei der beruflichen Wiedereingliederung werden wichtige Chancen verpasst. &laquo;Bipolare St&ouml;rungen sind immer noch mit einem grossen Stigma behaftet. Um das zu verringern, braucht es Aufkl&auml;rung und Wissen &ndash; das wollten wir mit unserer Tagung vermitteln.&raquo;</p> <p>Prof. Jules Angst, von 1969 bis 1994 Professor f&uuml;r Klinische Psychiatrie an der Uniklinik in Z&uuml;rich, der immer noch intensiv forscht und publiziert, gab einen anschaulichen &Uuml;berblick &uuml;ber das Spektrum der bipolaren und affektiven St&ouml;rungen mit praktischen Konsequenzen: &laquo;W&uuml;rden wir bipolare St&ouml;rungen korrekt diagnostizieren und therapieren, k&ouml;nnten wir die kardiale Mortalit&auml;t, das Suizid- und Demenzrisiko deutlich vermindern.&raquo;</p> <p>In das DSM-5 wurde neu die Gruppe der zyklothymen St&ouml;rungen aufgenommen. &laquo;Diese kommen aber viel seltener vor, als man denkt&raquo;, sagte Angst. &laquo;Man darf sie nicht verwechseln mit einem zyklothymen Temperament.&raquo; Gem&auml;ss dem psychiatrischen Kontinuum hat jeder Mensch ab und zu Stimmungsschwankungen. F&uuml;r die Diagnose einer zyklothymen St&ouml;rung gibt es neue klare Kriterien im DSM-5: So muss der Patient unter anderem zwei Jahre lang w&auml;hrend mehr als der H&auml;lfte der Zeit zahlreiche Episoden mit hypomanen und depressiven Symptomen erlebt haben. In der Z&uuml;rich-Studie mit 30- bis 50-J&auml;hrigen stellte Angst die Diagnose w&auml;hrend eines Jahres nur bei einem von 140 Patienten mit minor bipolarer Erkrankung oder mit minor Depression &ndash; das entspricht einer Pr&auml;valenz von 0,05 % . &laquo;In vielen F&auml;llen vermischt man das mit dem zyklothymen Temperament, was viele haben&raquo;, sagte Angst. &laquo;Meiner Meinung nach w&auml;re noch zu beweisen, ob die zyklothyme St&ouml;rung wirklich eine Krankheit ist.&raquo;</p> <p>Der Psychiater kritisiert die DSM-5-Kriterien f&uuml;r Bipolarit&auml;t. In seiner Z&uuml;rich-Studie mit 591 Erwachsenen w&uuml;rden gem&auml;ss DSM-5-Kriterien 24,2 % unter einer Major Depression (MD) leiden, 1,2 % unter einer Bipolar-I-(BP-I-) und 0,6 % unter einer Bipolar-II-(BP-II-)St&ouml;rung. Wendet man die modifizierten Kriterien von Jules Angst an, w&auml;ren es nur 18,2 % mit MD, 2,7 % mit BP-I und 6,5 % mit BP-II. &laquo;Die Modifikation ist n&ouml;tig&raquo;, sagte er. &laquo;Im DSM-5 sind n&auml;mlich die Manien zu streng definiert.&raquo; So werden im jetzigen DSM-5 einige Patienten als MD diagnostiziert, die gem&auml;ss DSM-IV-Kriterien als bipolar klassifiziert wurden. &laquo;Das erscheint mir ungerechtfertigt. Alle BP-Patienten m&uuml;ssen neu nun eine Steigerung von Aktivit&auml;t oder Energie aufweisen &ndash; die Stimmung wird der Aktivit&auml;t untergeordnet.&raquo; Seine Arbeitsgruppe hat deshalb die Kriterien f&uuml;r die Diagnose &laquo;manische Episode&raquo; modifiziert.<sup>1, 2</sup> Im neuen Kriterium A m&uuml;ssen die Betroffenen demnach entweder eine erh&ouml;hte Aktivit&auml;t/Energie aufweisen und/oder eine erh&ouml;hte Stimmung oder Gereiztheit. Ferner wurden Individuen, die neben der MD ein volles manisches Beschwerdebild zeigen oder wegen hypomanischer Syndrome behandelt wurden oder unter sozialen Folgen leiden, als BP-II klassifiziert. &laquo;Man muss nach der Bipolarit&auml;t suchen, wenn jemand depressiv ist&raquo;, sagte Angst. &laquo;Die Betroffenen selbst klagen ja nicht &uuml;ber manische Symptome.&raquo; Als er bei Prof. Eugen Bleuler gearbeitet habe, erz&auml;hlte er, wurde die Diagnose erst nach zwei Wochen gestellt. &laquo;In der Zeit sprachen wir intensiv mit dem Patienten selbst, mit Familie, Arbeitgeber und anderen Bezugspersonen und untersuchten ihn gr&uuml;ndlich, auch k&ouml;rperlich &ndash; daf&uuml;r muss man sich Zeit nehmen.&raquo; Bei der Unterscheidung zwischen BP-I und BP-II kann helfen, dass bestimmte Komorbidit&auml;ten h&auml;ufiger in der einen oder in der anderen Gruppe vorkommen. So leiden zum Beispiel BP-I-Patienten &ouml;fter unter spezifischen Phobien, Panik oder Hypertonie, und bei PB-II-Patienten wird h&auml;ufiger Hypotonie, Alkohol- oder Nikotinabusus festgestellt.</p> <p>Bipolare St&ouml;rungen korrekt zu diagnostizieren sei enorm wichtig, schloss Angst. &laquo;Setzen wir rechtzeitig Lithium ein, k&ouml;nnen wir damit Komorbidit&auml;ten vermeiden und das bei den Betroffenen erh&ouml;hte Risiko f&uuml;r Demenz senken.&raquo; Es gebe sogar schon Kollegen, sagte er scherzhaft, die &uuml;berlegten, selbst Lithium als Demenzprophylaxe zu nehmen.</p> <p>Auch der Begriff &laquo;schizoaffektive St&ouml;rung&raquo; und sein Bezug zu Schizophrenien und Affektst&ouml;rungen werden kontrovers diskutiert. Die Definition gem&auml;ss ICD-10 st&uuml;tzt sich nur auf den momentanen Querschnittbefund und ber&uuml;cksichtigt den Langzeitverlauf nicht. Gem&auml;ss DSM-IV und DSM-5 liegt eine schizoaffektive St&ouml;rung vor, wenn die Kriterien A bis D erf&uuml;llt sind. A besagt &auml;hnlich wie in ICD-10, dass w&auml;hrend derselben Krankheitsperiode gleichzeitig schizophrene wie auch affektive Symptome auftreten m&uuml;ssen. &laquo;Diese Forderung ist aber umstritten&raquo;, sagte Martin Preisig, Professor f&uuml;r Psychiatrie an der Uni in Lausanne, der seit 1984 &uuml;ber schizoaffektive St&ouml;rungen forscht. &laquo;Das Vorliegen von affektiven Episoden und psychotischen Symptomen im L&auml;ngsschnitt sollte eigentlich gen&uuml;gen. Auch m&uuml;sste es reichen, wenn der Betroffene Wahnph&auml;nomene oder Halluzinationen sp&uuml;rt &ndash; es muss nicht das ganze A-Kriterium erf&uuml;llt sein.&raquo; Den Punkt A br&auml;uchte es dann nicht mehr f&uuml;r die Diagnose einer schizoaffektiven St&ouml;rung. Gem&auml;ss Punkt B m&uuml;ssen w&auml;hrend des Krankheitsverlaufs Wahnph&auml;nomene oder Halluzinationen f&uuml;r mindestens zwei Wochen bei gleichzeitiger Abwesenheit ausgepr&auml;gter affektiver Symptome vorliegen. In Punkt C ist die Abgrenzung zur Schizophrenie definiert: Der Patient muss gem&auml;ss DSM-5 in mehr als der H&auml;lfte der gesamten Dauer der Krankheitsepisoden affektive Symptome zeigen. &laquo;Im Vergleich zu DSM-IV wurde somit die Schwelle zur Diagnose der schizoaffektiven St&ouml;rung heraufgesetzt&raquo;, sagte Preisig. &laquo;Viele schizo&shy;affektive St&ouml;rungen werden neu nun als Schizophrenien klassifiziert.&raquo; Dies sei in Bezug auf die Therapie problematisch, weil die Patienten nicht die optimale Behandlung bekommen w&uuml;rden. &laquo;Eine klare manische Episode sollte f&uuml;r die Diagnose einer bipolaren schizoaffektiven Erkrankung reichen&raquo;, so Preisig. Gem&auml;ss Punkt D d&uuml;rfen die Symptome nicht durch Me&shy;dikamente oder Drogen verursacht worden sein.</p> <p>Bei der bipolaren schizoaffektiven St&ouml;rung stehen atypische Neuroleptika im Vordergrund der Therapie, mit oder ohne Stimmungsstabilisierer. &laquo;Lithium oder Carbamazepin allein reichen bei diesen St&ouml;rungen nicht, aber in Kombination mit einem Neuroleptikum sind sie berechtigt.&raquo; Bei der depressiven schizoaffektiven St&ouml;rung werden atypische Neuroleptika als Langzeitbehandlung eingesetzt, und Antidepressiva versucht man w&auml;hrend der depressiven Episoden, obwohl kaum wissenschaftliche Daten &uuml;ber den Einsatz von Antidepressiva bei der unipolaren schizoaffektiven St&ouml;rung existieren.</p> <p>&laquo;Bipolare St&ouml;rungen sind komplex &ndash; sowohl was Diagnostik und Subtypen angeht als auch Pharmako- und Psychotherapie&raquo;, res&uuml;mierte Hasler in Z&uuml;rich. &laquo;Ausserdem sind die sozialen Probleme, die durch Manien entstehen, besonders anspruchsvoll. Kaum eine andere Krankheit ist derart belastend f&uuml;r die Angeh&ouml;rigen wie die bipolare St&ouml;rung &ndash; dem m&uuml;ssen wir mit korrekten Diagnosen und ad&auml;quaten Therapien begegnen.&raquo;</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: Fachtagung Bipolar, 5. November 2016, Zürich </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Angst J et al: Epidemiol Psychiatr Sci 2016; 25: 24-32 <strong>2</strong> Angst J: Int J Bipolar Disord 2013; 1: 12</p> </div> </p>
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