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Bipolare Störungen korrekt diagnostizieren und abgrenzen
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Felicitas Witte
30
Min. Lesezeit
01.12.2016
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<p class="article-intro">Wie wichtig es wäre, bipolare Störungen korrekt zu diagnostizieren, und wie man bipolare von unipolaren und von schizoaffektiven Störungen abgrenzt und adäquat therapiert, diskutierten Experten aus der Schweiz und Deutschland auf der Fachtagung Bipolar in Zürich.</p>
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<p class="article-content"><p>Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein; Langen und bangen in schwebender Pein; Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt … » – so beschrieb schon Goethe in seinem «Egmont» das zyklothyme Temperament des liebenden Clärchen. Bipolare Störungen haben viele Gesichter; sie sind klinisch relevant, denn von ihnen hängt die Therapie ab. «Bipolare Störungen werden oft zu spät oder falsch diagnostiziert», sagte Prof. Gregor Hasler, Chefarzt an der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern und Organisator der Fachtagung Bipolar. Die Möglichkeiten der Pharmako- und Psychotherapie würden oft nicht voll ausgeschöpft, und viele Betroffene sähen nie einen Experten. Auch bei der beruflichen Wiedereingliederung werden wichtige Chancen verpasst. «Bipolare Störungen sind immer noch mit einem grossen Stigma behaftet. Um das zu verringern, braucht es Aufklärung und Wissen – das wollten wir mit unserer Tagung vermitteln.»</p> <p>Prof. Jules Angst, von 1969 bis 1994 Professor für Klinische Psychiatrie an der Uniklinik in Zürich, der immer noch intensiv forscht und publiziert, gab einen anschaulichen Überblick über das Spektrum der bipolaren und affektiven Störungen mit praktischen Konsequenzen: «Würden wir bipolare Störungen korrekt diagnostizieren und therapieren, könnten wir die kardiale Mortalität, das Suizid- und Demenzrisiko deutlich vermindern.»</p> <p>In das DSM-5 wurde neu die Gruppe der zyklothymen Störungen aufgenommen. «Diese kommen aber viel seltener vor, als man denkt», sagte Angst. «Man darf sie nicht verwechseln mit einem zyklothymen Temperament.» Gemäss dem psychiatrischen Kontinuum hat jeder Mensch ab und zu Stimmungsschwankungen. Für die Diagnose einer zyklothymen Störung gibt es neue klare Kriterien im DSM-5: So muss der Patient unter anderem zwei Jahre lang während mehr als der Hälfte der Zeit zahlreiche Episoden mit hypomanen und depressiven Symptomen erlebt haben. In der Zürich-Studie mit 30- bis 50-Jährigen stellte Angst die Diagnose während eines Jahres nur bei einem von 140 Patienten mit minor bipolarer Erkrankung oder mit minor Depression – das entspricht einer Prävalenz von 0,05 % . «In vielen Fällen vermischt man das mit dem zyklothymen Temperament, was viele haben», sagte Angst. «Meiner Meinung nach wäre noch zu beweisen, ob die zyklothyme Störung wirklich eine Krankheit ist.»</p> <p>Der Psychiater kritisiert die DSM-5-Kriterien für Bipolarität. In seiner Zürich-Studie mit 591 Erwachsenen würden gemäss DSM-5-Kriterien 24,2 % unter einer Major Depression (MD) leiden, 1,2 % unter einer Bipolar-I-(BP-I-) und 0,6 % unter einer Bipolar-II-(BP-II-)Störung. Wendet man die modifizierten Kriterien von Jules Angst an, wären es nur 18,2 % mit MD, 2,7 % mit BP-I und 6,5 % mit BP-II. «Die Modifikation ist nötig», sagte er. «Im DSM-5 sind nämlich die Manien zu streng definiert.» So werden im jetzigen DSM-5 einige Patienten als MD diagnostiziert, die gemäss DSM-IV-Kriterien als bipolar klassifiziert wurden. «Das erscheint mir ungerechtfertigt. Alle BP-Patienten müssen neu nun eine Steigerung von Aktivität oder Energie aufweisen – die Stimmung wird der Aktivität untergeordnet.» Seine Arbeitsgruppe hat deshalb die Kriterien für die Diagnose «manische Episode» modifiziert.<sup>1, 2</sup> Im neuen Kriterium A müssen die Betroffenen demnach entweder eine erhöhte Aktivität/Energie aufweisen und/oder eine erhöhte Stimmung oder Gereiztheit. Ferner wurden Individuen, die neben der MD ein volles manisches Beschwerdebild zeigen oder wegen hypomanischer Syndrome behandelt wurden oder unter sozialen Folgen leiden, als BP-II klassifiziert. «Man muss nach der Bipolarität suchen, wenn jemand depressiv ist», sagte Angst. «Die Betroffenen selbst klagen ja nicht über manische Symptome.» Als er bei Prof. Eugen Bleuler gearbeitet habe, erzählte er, wurde die Diagnose erst nach zwei Wochen gestellt. «In der Zeit sprachen wir intensiv mit dem Patienten selbst, mit Familie, Arbeitgeber und anderen Bezugspersonen und untersuchten ihn gründlich, auch körperlich – dafür muss man sich Zeit nehmen.» Bei der Unterscheidung zwischen BP-I und BP-II kann helfen, dass bestimmte Komorbiditäten häufiger in der einen oder in der anderen Gruppe vorkommen. So leiden zum Beispiel BP-I-Patienten öfter unter spezifischen Phobien, Panik oder Hypertonie, und bei PB-II-Patienten wird häufiger Hypotonie, Alkohol- oder Nikotinabusus festgestellt.</p> <p>Bipolare Störungen korrekt zu diagnostizieren sei enorm wichtig, schloss Angst. «Setzen wir rechtzeitig Lithium ein, können wir damit Komorbiditäten vermeiden und das bei den Betroffenen erhöhte Risiko für Demenz senken.» Es gebe sogar schon Kollegen, sagte er scherzhaft, die überlegten, selbst Lithium als Demenzprophylaxe zu nehmen.</p> <p>Auch der Begriff «schizoaffektive Störung» und sein Bezug zu Schizophrenien und Affektstörungen werden kontrovers diskutiert. Die Definition gemäss ICD-10 stützt sich nur auf den momentanen Querschnittbefund und berücksichtigt den Langzeitverlauf nicht. Gemäss DSM-IV und DSM-5 liegt eine schizoaffektive Störung vor, wenn die Kriterien A bis D erfüllt sind. A besagt ähnlich wie in ICD-10, dass während derselben Krankheitsperiode gleichzeitig schizophrene wie auch affektive Symptome auftreten müssen. «Diese Forderung ist aber umstritten», sagte Martin Preisig, Professor für Psychiatrie an der Uni in Lausanne, der seit 1984 über schizoaffektive Störungen forscht. «Das Vorliegen von affektiven Episoden und psychotischen Symptomen im Längsschnitt sollte eigentlich genügen. Auch müsste es reichen, wenn der Betroffene Wahnphänomene oder Halluzinationen spürt – es muss nicht das ganze A-Kriterium erfüllt sein.» Den Punkt A bräuchte es dann nicht mehr für die Diagnose einer schizoaffektiven Störung. Gemäss Punkt B müssen während des Krankheitsverlaufs Wahnphänomene oder Halluzinationen für mindestens zwei Wochen bei gleichzeitiger Abwesenheit ausgeprägter affektiver Symptome vorliegen. In Punkt C ist die Abgrenzung zur Schizophrenie definiert: Der Patient muss gemäss DSM-5 in mehr als der Hälfte der gesamten Dauer der Krankheitsepisoden affektive Symptome zeigen. «Im Vergleich zu DSM-IV wurde somit die Schwelle zur Diagnose der schizoaffektiven Störung heraufgesetzt», sagte Preisig. «Viele schizo­affektive Störungen werden neu nun als Schizophrenien klassifiziert.» Dies sei in Bezug auf die Therapie problematisch, weil die Patienten nicht die optimale Behandlung bekommen würden. «Eine klare manische Episode sollte für die Diagnose einer bipolaren schizoaffektiven Erkrankung reichen», so Preisig. Gemäss Punkt D dürfen die Symptome nicht durch Me­dikamente oder Drogen verursacht worden sein.</p> <p>Bei der bipolaren schizoaffektiven Störung stehen atypische Neuroleptika im Vordergrund der Therapie, mit oder ohne Stimmungsstabilisierer. «Lithium oder Carbamazepin allein reichen bei diesen Störungen nicht, aber in Kombination mit einem Neuroleptikum sind sie berechtigt.» Bei der depressiven schizoaffektiven Störung werden atypische Neuroleptika als Langzeitbehandlung eingesetzt, und Antidepressiva versucht man während der depressiven Episoden, obwohl kaum wissenschaftliche Daten über den Einsatz von Antidepressiva bei der unipolaren schizoaffektiven Störung existieren.</p> <p>«Bipolare Störungen sind komplex – sowohl was Diagnostik und Subtypen angeht als auch Pharmako- und Psychotherapie», resümierte Hasler in Zürich. «Ausserdem sind die sozialen Probleme, die durch Manien entstehen, besonders anspruchsvoll. Kaum eine andere Krankheit ist derart belastend für die Angehörigen wie die bipolare Störung – dem müssen wir mit korrekten Diagnosen und adäquaten Therapien begegnen.»</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Fachtagung Bipolar, 5. November 2016, Zürich
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Angst J et al: Epidemiol Psychiatr Sci 2016; 25: 24-32 <strong>2</strong> Angst J: Int J Bipolar Disord 2013; 1: 12</p>
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