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Besonderheiten bei Patienten mit Demenz in Theorie und Praxis
Jatros
Autor:
Dr. med. Michaela Defrancesco, MSc, PhD
Universitätsklinik für Allgemeine und Sozialpsychiatrie, Innsbruck<br> E-Mail: michaela.defrancesco@tirol-kliniken.at
30
Min. Lesezeit
09.03.2017
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<p class="article-intro">Bei geriatrischen Patienten – insbesondere solchen mit komorbider demenzieller Erkrankung – steigt das Risiko für das Auftreten von unerwünschten Arzneimittelereignissen durch die altersbedingte Funktionseinschränkung von Organen und Einflussfaktoren wie Multimorbidität und Polypharmazie deutlich an. Bei der Verschreibung von Psychopharmaka an Patienten mit Demenz müssen daher neben möglichen somatischen Komorbiditäten auch kognitive Defizite und die Versorgungssituation in die Art und Auswahl der Medikation mit einbezogen werden.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Bei der psychopharmakologischen Behandlung von Patienten mit Demenz besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für das Auftreten von unerwünschten Arzneimittel­ereignissen.</li> <li>Zahlreiche Psychopharmaka werden bei Patienten mit Demenz aufgrund ihrer ungünstigen Neben- wie auch Wechselwirkungen als sogenannte „potenziell inadäquate Medikamente“ (PIM) eingestuft.</li> <li>Bei Patienten mit Demenz sollten in Abhängigkeit von den kognitiven Defiziten immer die Angehörigen sowie das Betreuerteam über die Wirkung und mögliche Nebenwirkungen der verordneten Psychopharmakotherapie aufgeklärt werden.</li> <li>Neben pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Veränderungen im Alter spielen auch praktische Faktoren wie die Applikationsform, der Einnahmezeitpunkt oder die Handhabung der Medikation bei Patienten mit Demenz eine immer größere Rolle.</li> <li>Schlafstörungen sind bei Demenz ein häufiges Begleitsymp­tom. Aufgrund der zahlreichen Nebenwirkungen von gängigen Hypnotika wie Benzodiazepinen sollten diese erst nach strenger Indikationsstellung und Ausschöpfen von nicht pharmakologischen Therapiestrategien möglichst kurzzeitig verordnet werden.</li> </ul> </div> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1701_Weblinks_istock-518528920_web.jpg" alt="" width="820" height="303" /></p> <h2>Begriffsdefinition „geriatrischer Patient“</h2> <p>„Ein geriatrischer Patient ist ein biologisch älterer Patient, der durch altersbedingte Funktionseinschränkungen bei Erkrankungen akut gefährdet ist, der zu Multimorbidität neigt und bei dem ein besonderer Handlungsbedarf rehabilitativ, somato-psychisch und psychosozial besteht.“ (Gemäß der Zentraleuropäischen Arbeitsgemeinschaft Geriatrisch-Gerontologischer Gesellschaften [1990])</p> <p>Hinzu kommen im klinischen Alltag die häufig atypische Symptompräsentation, verlängerte Krankheitsverläufe und Rehabilitationszeiten, eine vielfach veränderte Reaktion auf Medikamente, Fehl- oder Mangelernährung, Inkontinenz, Stürze, kognitive Einschränkungen im Rahmen einer Demenz sowie interventionsbedürftige psychosoziale Faktoren.</p> <p>Bei geriatrischen Patienten mit Demenz stellt die Verordnung von sogenannten „potenziell inadäquaten Medikamenten“ (PIM) einen wichtigen Risikofaktor und eine häufige Ursache für unerwünschte Arzneimittelereignisse („ad­verse drug reactions“, ADR) dar. Neben Analgetika und verschiedenen internistischen Arzneimitteln wie Antiarrhythmika, Antihypertensiva und Antikoagulanzien nehmen Psychopharmaka und andere psychotrop wirksame Substanzen einen Anteil von nahezu 50 % in bereits gängigen PIM-Listen nationaler und internationaler geriatrischer Fachgesellschaften ein. Immer wieder sind diese Medikamentenverordnungen maßgeblich an potenziell vermeidbaren Spitalszuweisungen mit assoziierten hohen Gesundheitskosten beteiligt. Polypharmazie und die Behandlung mit solchen PIM führt besonders bei geriatrischen Patienten mit Demenz zu multiplen, teils schwerwiegenden Folgen wie Stürzen, häufigen Zuweisungen zu Notaufnahmen bis zu tödlichen Nebenwirkungen.</p> <p>Laut rezenten Untersuchungen wie auch dem Bericht der österreichischen Volksanwaltschaft erhalten nach wie vor etwa 70 % aller Heimbewohner in Österreich potenziell inadäquate Medikamente.<sup>1</sup> Trotz der erarbeiteten nationalen wie auch internationalen PIM-Listen erweist sich die Umsetzung in der klinischen Routine als nur unzureichend und schwierig. Insbesondere bei der psychopharmakologischen Behandlung von geriatrischen Patienten mit einem demenziellen Syndrom sind neben den genannten ADR und der Beachtung von PIM auch multiple psychosoziale und praktische Herausforderungen für eine sichere und adäquate psychopharmakologische Therapie zu beachten. Einige Besonderheiten und Hinweise sollen im folgenden Artikel aufgezeigt und anhand der Behandlung von Schlafstörungen bei Patienten mit Demenz beispielhaft dargestellt werden.</p> <h2>Sichere Pharmakotherapie: Einfluss von Kognition bei geriatrischen Patienten unterschätzt?</h2> <p>Neben der Überprüfung der medikamentösen Therapie spielt auch der psychopathologische und insbesondere kognitive Status des Patienten für die Vermeidung von ADR eine entscheidende Rolle. Kognitiv beeinträchtigte Patienten können nach Verschreibung von adäquaten Medikamenten durch Fehler in Dosierung oder Applikation gefährliche ADR entwickeln. In dieser Patientengruppe ist daher auch die wiederholte Evaluation des kognitiven Status sowie der häuslichen Versorgungs- und Betreuungssituation sehr wichtig.</p> <p>Auch können bei geriatrischen multimorbiden Patienten psychiatrische Symptome wie Verwirrtheit, Depression und kognitive Beeinträchtigungen somatische Symptome verschleiern oder auch vice versa bei somatischen Erkrankungen vordergründig imponieren. Die diagnostische Abklärung einer eventuellen demenziellen oder auch affektiven Erkrankung kann jedoch entscheidend den weiteren Therapieverlauf auf somatischer, psychiatrischer wie auch sozialer Ebene beeinflussen.</p> <p>Das Vorliegen einer Demenz gilt nicht als eigenständiger Risikofaktor für das Auftreten von ADR, ist jedoch der wichtigste Faktor, der das Risiko für ADR bei geriatrischen Patienten erhöht. Zu diesen Risikofaktoren zählen insbesondere Polypharmazie, eine hohe Zahl an Komorbiditäten, häufige Verschreibung von PIM, hohe Prävalenz von psychotropen Substanzen, hohes Interaktionspotenzial, hohes Alter und geminderte Therapieadhärenz.<sup>2</sup></p> <p>Zu den typischen Symptomen der häufigsten Demenzform Demenz vom Alzheimer-Typ (AD) zählen besonders im Anfangsstadium unter anderem: Agnosie (reduzierte Krankheitswahrnehmung und Krankheitseinsicht), Denkstörungen wie der Gebrauch von Floskeln sowie häufig eine ausgeprägte Fassade. Alle genannten Symptome können besonders in Akutsituationen sowie bei begrenzten zeitlichen Ressourcen eine valide und verlässliche Anamneseerhebung behindern. Die Folge kann ein therapeutisches Prozedere sein, welches von den Patienten aufgrund von kognitiven Defiziten entweder gar nicht oder mangelhaft verstanden und in weiterer Folge befolgt wird. Besonders bei Medikamenten mit geringer therapeutischer Breite, strengen Dosierempfehlungen oder hohen Anforderungen an die Compliance des Patienten können so trotz einer PIM-Listen-konformen Arzneimittelauswahl schwerwiegende ADR resultieren.</p> <h2>Probleme der Psychopharmakotherapie bei Patienten mit Demenz</h2> <p>Grundsätzlich ist der Einsatz von psychopharmakologischen Substanzen bei Patienten mit Demenz unzureichend in Arzneimittelstudien untersucht. Insbesondere Zulassungsstudien von Psychopharmaka schließen Patienten mit hohem Lebensalter und demenziellem Abbau aus der Studienpopulation aus. Außer Risperidon sowie den vier zugelassenen Antidementiva (Rivastigmin, Galantamin, Donepezil, Memantin) sind in Österreich wie auch Deutschland keine anderen Psychopharmaka für die Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten und anderen psychiatrischen Symptomen bei demenziellen Erkrankungen wie der AD zugelassen.</p> <p>Zu beachten sind auch unterschiedliche psychopharmakologische Therapieempfehlungen für Patienten mit und ohne demenzielle Erkrankungen. Besonders Patienten mit Demenz und subkortikaler vaskulärer Pathologie sollten nur mit großer Zurückhaltung anticholinerg wirksame Substanzen erhalten, während bei Patienten ohne eine demenzielle Erkrankung mit subkortikaler vaskulärer Pathologie auch solche Wirkstoffgruppen im Sinne einer sorgfältigen Risiko-Nutzen-Abwägung empfohlen werden können. Ein Beispiel hierfür ist die Verschreibung von Saroten (trizyklisches Antidepressivum), welches besonders bei geriatrischen Patienten mit Spannungskopfschmerzen erfolgreich eingesetzt wird, bei komorbider Demenz jedoch zu akuter Verwirrtheit sowie deutlich erhöhter Sturzgefahr führen kann.</p> <h2>Zwischen „off-label use“, Richtlinien und Empfehlungen</h2> <p>In der Praxis stellt die psychopharmakologische Einstellung eines dementen Patienten immer wieder eine Gratwanderung zwischen Risiko und Nutzen für den Patienten dar. Auch kann sich die Auswahl einer geeigneten psychopharmakologischen Behandlung bei verschiedenen Formen demenzieller Erkrankungen wesentlich unterscheiden. Während eine antidementive Therapie mit Acetylcholinesterase-Hemmern und in fortgeschrittenem Stadium mit dem nicht kompetitiven NMDA-Antagonist Memantin bei der Demenz vom Alzheimertyp (auch der gemischten Form) empfohlen wird, besteht bei einer Demenz im Rahmen der frontotemporalen lobären Degeneration (FTLD) keine Therapieempfehlung für diese Substanzen. Auch muss insbesondere bei der Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten mit Neuroleptika eine Verschlechterung der Parkinsonsymptomatik im Rahmen der Parkinson- bzw. Lewy-Körper-Demenz beachtet werden. Bei letzterer Demenzform wird sogar in den Diagnosekriterien nach McKeith<sup>3</sup> auf eine ausgeprägte Neuroleptikaüberempfindlichkeit hingewiesen, während bei der behavioralen Variante der FTLD die Gabe von Neuroleptika empfohlen und meist unumgänglich ist. Bei geriatrischen Patienten mit Demenz und multiplen Komorbiditäten wird die Wahl der Therapie immer eine für den Patienten individuelle Entscheidung bleiben. Es bestehen jedoch Richtlinien und Empfehlungen, welche auch im klinischen Alltag den Entscheidungsprozess etwas vereinfachen können (Tab. 1, 2). <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1701_Weblinks_seite47.jpg" alt="" /> <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1701_Weblinks_seite48_1.jpg" alt="" /></p> <p>Weiters können folgende Kriterien und Empfehlungen zur Pharmakotherapie beim geriatrischen Patienten empfohlen werden:</p> <ul> <li>PRISCUS-Liste: Auflistung von 83 Arzneistoffen aus insgesamt 18 Arzneistoffklassen (<a href="http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf" target="_blank">http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf)</a><sup>4</sup></li> <li>FORTA(„fit for the aged“)-Prinzip: bewertet Arzneimittel nach ihrem Nutzen-Risiko-Profil und ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit im Alter</li> <li>START/STOPP-Methode<br /> a. STOPP („Screening Tool of Older Persons’ potentially inappropriate Prescriptions“): beinhaltet 65 Kriterien nach Arzneistoffgruppen und einzelnen Wirkstoffen<br /> b. START („Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment“): Indikatorenliste von 22 Punkten</li> <li>Beers-Liste (letzte Version 2015): mit Angaben zu Nierenadaptation, Interaktionen sowie Belegen wissenschaftlicher Evidenz</li> </ul> <h2>Praktisches Vorgehen am Beispiel von Schlafstörungen bei Patienten mit Demenz</h2> <p>Schlafstörungen wie Tag-Nacht-Rhythmus-Störungen, Ein- und Durchschlafstörungen und auch das Sundowning zählen zu häufigen und für den Menschen mit Demenz wie auch das Betreuungsumfeld besonders belastenden Symptomen. <br />Im Zentrum der Diagnostik und Therapie von Schlafstörungen von Patienten mit Demenz steht eine ausführliche und valide Schlafanamnese (Abb. 1). Diese sollte nach Möglichkeit durch eine Außenanamnese sowie wenn nötig auch mittels zusätzlicher Polygrafie ergänzt werden. Besonders zu beachten ist die subjektive Erwartungshaltung des Patienten sowie des Umfeldes bezüglich Schlafqualität und Schlafdauer. Besonders im Alter sind eine ununterbrochene Schlafdauer von über 6 Stunden sowie eine tägliche Gesamtschlafzeit (einschließlich eines kurzen Mittagsschlafs) von über 8 Stunden unrealistisch. <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1701_Weblinks_seite48_2.jpg" alt="" /></p> <p>Bezüglich der Indikation zur pharmakologischen Therapie von Schlafstörungen wird auch in den 2016 revidierten S3-Leitlinien angeführt, dass aufgrund von Sedierung, Sturzgefahr und Verschlechterung der kognitiven Funktionen Hypnotika nur nach erfolgloser oder nicht ausreichender nicht pharmakologischer Intervention (Tab. 3) und zusätzlich bei erheblicher Belastung des Patienten mit Demenz sowie des Betreuungsumfelds verordnet werden sollen. Wie bei zahlreichen anderen psychiatrischen Begleitsymptomen bei Patienten mit Demenz liegen auch bei Schlafstörungen keine evidenzbasierten pharmakologischen Therapieempfehlungen vor. Da bei Patienten mit Demenz vielfach in der Praxis die zumindest kurzfristige Gabe von schlafinduzierender Medikation unvermeidbar ist, werden beispielsweise im Konsensus-Statement der ÖGPB (Demenzerkrankungen. Medikamentöse Therapie; State of the Art 2015) einige psychopharmakologische Therapiemöglichkeiten angeführt (Tab. 4).</p> <p>Bei allen nicht medikamentösen Therapiestrategien (Tab. 3) müssen immer der kognitive und der somatische Status sowie die Bereitschaft des Patienten miteinbezogen werden. Schlafhygienische Maßnahmen wie beispielsweise die Schlafrestriktion dürfen keinesfalls aus pflegerischen Gründen implementiert werden und niemals die Lebensqualität des Patienten vermindern. <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1701_Weblinks_seite49.jpg" alt="" /> <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Neuro_1701_Weblinks_seite50.jpg" alt="" width="628" height="553" /></p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Mann E et al: Prevalence and associations of potentially inappropriate prescriptions in Austrian nursing home residents: secondary analysis of a cross-sectional study. Wien Klin Wochenschr 2013; 125(7-8): 180-8 <strong>2</strong> Gómez-Pavón J et al: Recommendations for the prevention of adverse drug reactions in older adults with dementia. Rev Esp Geriatr Gerontol 2010; 45(2): 89-96 <strong>3</strong> McKeith I et al: Dementia with Lewy bodies: diagnosis and management: Third Report of the DLB Consortium. Neurology 2005; 65(12): 1863-72 <strong>4</strong> Holt S et al: Potentiell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS Liste. Deutsches Ärzteblatt 2010; 107: 543–51 <strong>5</strong> Eingeschränkte Empfehlung laut: McCleery J et al: Pharmacotherapies for sleep disturbances in Alzheimer's disease. Cochrane Database Syst Rev 2014; 3:CD009178. doi: 10.1002/14651858.CD009178.pub2. <strong>6</strong> Eingeschränkte Empfehlung laut: Kasper S et al: Demenz­erkrankungen. Medikamentöse Therapie. Konsensus-Statement – State of the Art 2015. CliniCum neuropsy; Sonderausgabe November 2015 <strong>7</strong> S3-Leitlinien: Nicht erholsamer Schlaf – Schlafstörungen. Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Somnologie 2009; 13 (1) <strong>8</strong> Schlitzer J et al: Schlaf und Schlafstörungen beim alten Menschen. Z Gerontol Geriat 2014; 47: 611-20</p>
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