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Wenn die Therapie zum Patienten kommt

Besondere Menschen besonders behandeln

Warum braucht es den aufsuchenden Dienst der heilpädagogisch-psychiatrischen Behandlung für Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen, wenn doch schon alles in psychiatrischen Praxen und Psychiatriezentren behandelt werden kann? Sind wir Kinder- und Jugendpsychiater*innen eierlegende Wollmilchsäue oder ist die Spezialisierung notwendig?

In der modernen Schweiz haben wir alles, was wir brauchen. Wir sind auf dem neuesten Stand in Medizin, Umwelt, Digitalisierung und mit unserer Wirtschaft immer vorne mit dabei.

Versorgungssituation

Gilt dies auch für alle Menschen? Schauen wir uns die psychiatrische Versorgung an: Um bei psychiatrischen Auffälligkeiten professionelle Hilfe zu erhalten, müssen die betroffenen Personen in der Lage sein, sich bei einem/einer niedergelassenen Psychiater*in oder in einem Zentrum für Psychiatrie zu melden und ihren Bedarf entweder gegenüber dem Hausarzt/der Hausärztin oder direkt am Telefon glaubhaft zu machen. Auch der bürokratische Berg ist eine Herausforderung, besonders bei fehlenden sprachlichen Fertigkeiten. Sollten die Personen es geschafft haben, einen Termin zu erhalten, können der Weg dorthin und das Gespräch selbst noch eine grosse Herausforderung bieten. Denn nicht zuletzt muss es ihnen gelingen, in maximal 90 Minuten neben allen formellen Antworten eine Grundidee der aktuellen Lebensproblematik zu vermitteln, damit ihnen bestmöglich geholfen werden kann.

Der Knackpunkt

Unsere Patient*innen scheitern häufig bereits an den Eintrittsherausforderungen. Im Kanton St. Gallen leben ca. 514500 Einwohner*innen, bei 13,8% der schweizerischen Wohnbevölkerung besteht, laut schweizerischem Gesundheitsobservatorium Monitoring 2020, ein psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlungsbedarf aufgrund einer psychischen Erkrankung, wobei sich nur etwa 60% dieser Menschen Hilfe bei Fachpersonen holen. Des Weiteren liegt die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen 4- bis 5-mal höher als in der «Normalbevölkerung». Im Kanton St.Gallen gehen wir von ca. 1500 Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen aus. Dies bedeutet nun für den Kanton St. Gallen, dass wir mit insgesamt mehr als 42000 psychiatrisch erkrankten Menschen in der Behandlung rechnen müssen, von denen 526 Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigung sind. Gegenwärtig begleiten wir mehr als 150 Personen aus dieser Klientel.

Wir sind ein Team bestehend aus Heilpädagog*innen, Kinder- und Jugendpsychiater*innen und Psychiater*innen und gehen regelmässig in Einrichtungen, um gemeinsam mit den Teams vor Ort problematisches Verhalten mit psychiatrischen Auffälligkeiten oder Störungen zu analysieren, zu diagnostizieren und zu behandeln. Hinzu kommen viele weitere Beteiligte, wie z.B. Neurolog*innen, Hausärzt*innen, paramedizinische Therapeut*innen und natürlich die Familienangehörigen.

Bei allen Interventionen werden die beteiligten Personen im Umfeld der Patient*innen mit einbezogen. Dies ist im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich wohl bekannt, unter psychiatrischen Kolleg*innen bietet es jedoch häufig eine neuartige Herausforderung. Doch wer dieses Arbeiten einmal lieb gewonnen hat, wünscht es sich nicht mehr anders.

Da es eben nicht für alle Menschen selbstverständlich ist, die vorgegebenen Hürden bis zum Beginn einer Behandlung zu überwinden, bieten wir eine Brücke an, in dem wir aufsuchend diagnostizieren, therapieren und pädagogisch unterstützen.

Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung leiden manchmal auch an körperlichen Beeinträchtigungen, ihr Sprachverständnis kann deutlich beeinträchtigt sein und eine Kommunikation ist teils nur mit Unterstützung durch gewisse Techniken, wie unterstützte Kommunikation, TEACCH oder Talker, möglich. Dazu kommt eine teils tief sitzende Angst vor dem Unbekanntem, da sie neue Situationen teilweise nicht einordnen können. Dies kann sich auf Personen, Orte, Situationen oder auch Themen beziehen. Die vertrauten Begleitpersonen bieten einerseits etwas Schutz, andererseits erhöhen sie auch die Personenzahl im Raum und bringen damit unter Umständen noch mehr Unbehagen. Da Bezugspersonen eine besonders wichtige Rolle spielen, sind sie andererseits auch wieder nicht wegzudenken, also müssen wir den Stress an anderer Stelle reduzieren.

Daher gehen wir in die gewohnte Umgebung mit gewohnten Bezugspersonen und bieten somit nur zwei unbekannte Personen, die zur Herausforderung werden können. Manchmal gelingt es sogar im Erstgespräch, eine zarte erste Beziehungsebene zu schaffen. Die UN-Menschenrechtskonvention (13. Dezember 2006), deren Ratifizierung (15. April 2014) und ihr Inkrafttreten am 15. Mai 2014 sind hinlänglich bekannt und bieten die Grundlage unsers Handelns. Unser aufsuchendes Angebot wird seit drei Jahren nach einer zweijährigen Projektphase immer weiter ausgebaut. Aktuell arbeiten wir mit 25 Institutionen im Kanton St. Gallen zusammen. So haben wir die Hindernisfaktoren der bisherigen Rahmenbedingungen teilweise aufgehoben. Wir arbeiten auf der Basis einer soliden Abklärung und Behandlung nach aktuellen AWMF-Leitlinien und der S2k-Praxisleitlinie vom 3. Juni 2021 mit Gültigkeit bis zum 2. Juni 2026.

Unsere Tätigkeit macht unsagbar viel Freude, denn sie fordert unseren gesamten Verstand, alles psychiatrische und humangenetische Wissen, um auf allen Kanälen der Kommunikation unser Bestes zu geben. Wir erarbeiten in teils hochkomplexen Systemen Muster und Unterschiede heraus, die wir von Beginn an aus zwei unterschiedlichen professionellen und vielen individuellen Blickwinkeln betrachten. Der pädagogische Ansatz wird durch Spezialwissen in medikamentöser Therapie und Psychotherapie ergänzt, wobei die Priorisierung der einzelnen Richtungen auf dem aktuellen Entwicklungsstand und den Bedürfnissen des Patienten oder der Patientin ruht.

Hierbei ist es besonders wichtig, die unterschiedlichen Entwicklungsbereiche genauer zu betrachten. So zeigt die körperliche Entwicklung häufig eine auffällige Diskrepanz zur logisch-mathematischen Intelligenz. Weniger auffällig ist die Abweichung der sprachlichen Fähigkeiten, auch die Schrift und das Leseverständnis sind oft ein Handicap. Meist völlig ausser Acht gelassen wird die emotionale Entwicklung, zu welchen besonders PD Dr. med. Tanja Sappok wissenschaftliche Grundlagen geschaffen hat (siehe Tab. 1).

Tab. 1: Entwicklungsphasen, -alter, -schritte und -ziele

Ihre Forschung ist zu unserer Grundlage im Umgang mit unseren Patient*innen und auch für die Schulungen der Bezugspersonen geworden. Wenn wir z.B. einen Patienten begleiten, der in Phase 3 gefestigt ist, wobei deutliche Anteile von Phase 2 und 4 vorhanden sind (siehe Tab. 1, Entwicklungsphasen; aus: T. Sappok, S. Zepperitz: Alter der Gefühle, Seite 43: Entwicklungsphasen, -alter, -schritte, -ziele), ist es von grosser Bedeutung, in einzelnen Situationen zu bedenken, dass die Entwicklung der allgemeinen emotionalen Entwicklung entweder noch etwas hinterherhinkt oder dieser voraus ist. Hierbei muss unser Handeln nicht nur auf die Gesamtentwicklung fokussiert sein, sondern auch situativ angepasst werden. Die emotionale Diagnostik unterscheidet hierfür 8 Domänen: diese umfassen den Umgang mit dem eigenen Körper, den Umgang mit Bezugspersonen, den Umgang mit Umgebungsveränderung/Objektpermanenz, die Emotionsdifferenzierung, den Umgang mit Peers, den Umgang mit der materiellen Welt, die Kommunikation und die Affektregulation (siehe auch: Tanja Sappok, Sabine Zepperitz, Brian Fergus Barrett, Anton Došen: SEED, Skala der emotionalen Entwicklung – Diagnostik).

Wie die Praxis aussieht

Wir erheben den aktuellen Stand der emotionalen Entwicklung, bezogen auf einen festgelegten Zeitraum, und erarbeiten dann gemeinsam mit den Begleitpersonen die auf den Patienten/die Patientin und die Situationen zugeschnittenen Massnahmen. Hieraus ergibt sich eine ganz neue Spielbreite und die Hilflosigkeit, welche häufig vorherrschend ist, wird durch Handlungsmöglichkeiten abgelöst. Je kontinuierlicher nun auch noch das gesamte Team der Wohngruppe bzw. des Beschäftigungsbereichs mit einbezogen wird, umso stabiler werden die Rahmenbedingungen. Damit ist eine Grundlage für die Verhaltensveränderung gegeben. Dazu ist eine breite Kenntnis über Situationen und Anamnese notwendig. Daher erheben wir ausführliche Fremdanamnesen und holen die bisherigen Zeugnisse, Befunde und alle verfügbaren Berichte ein. Zudem hospitieren die Heilpädagog*innen wenn möglich gemeinsam mit den Ärzt*innen. Die hieraus generierten Erkenntnisse werden dann nach der Erhebung des SEED mit praktischen Handlungsansätzen gefüllt. Der Entwicklungsweg zu einer stabilen Persönlichkeit ist dann wiederum die Basis für eine gute Entwicklung der sozialen Intelligenz. Diese Entwicklung zu fördern und ein Bewusstsein bei den beteiligten Systemen dafür zu schaffen ist für uns als aufsuchender Dienst abseits aller Herausforderungen immer wieder eine grosse Bereicherung und wird allseits sehr geschätzt. Meist kann mit diesen Erkenntnissen und daraus resultierenden Massnahmen sowie einer leitlinienkonformen medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung ein wiederholter stationärer Aufenthalt verhindert werden. Des Weiteren scheint durch die gemeinsame Betrachtungsweise eine erhebliche Reduktion der Medikamente möglich.

Trotz aller Reduktion von Herausforderungen für unsere Patient*innen schaffen wir damit leider auch wieder Herausforderungen für uns Behandler*innen, denn es werden zum einen die Fahrtkosten der Heilpädagog*innen nicht durch die Krankenkassen getragen, und zum anderen ist die Leistung in Abwesenheit des Patienten/der Patientin in Gestalt der vielen zu treffenden Absprachen mit Begleitpersonen sowie der Anamneseerhebungen nur begrenzt verrechenbar. Dies bietet leider schlechte Voraussetzungen, um ein aufsuchendes Angebot in dieser Form flächendeckend auch unter Einbezug der niedergelassenen Kolleg*innen zu etablieren.

Auch gibt es nach wie vor Kolleg*innen, welche der Meinung sind, dass dieser Dienst durch jede*n Psychiater*in im allgemeinpsychiatrischen Angebot übernommen werden kann. Dies ist bestimmt möglich bei ausreichender Verbreitung des Spezialwissens und einer grossen Portion von persönlichem Engagement. Es bedarf noch eines langen Atems, bis wir allen Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen die gleiche Qualität der Behandlung zukommen lassen können.

Gute Versorgung für alle

Dies führt uns wieder zum Anfang: Ja, es braucht aufsuchende Dienste mit Kinder- und Jugendpsychiater*innen, Psychiater*innen und Heilpädagog*innen, denn so wird durch Spezialisierung und Weitblick unsere kleine Welt für alle bunt.

bei den Verfasserinnen

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