
Befragung in psychiatrischen Kliniken zu Bestand und Bedarf
Autor:innen:
Dr. med. Kurt Albermann1,2
Alessandra Weber1
Prof. Dr. med. Erich Seifritz3
Christine Gäumann1
Dr. Brigitte Müller4
1 Institut Kinderseele Schweiz
2Sozialpädiatrisches Zentrum
Kantonsspital Winterthur
3Klinik für Psychiatrie Psychotherapie und Pychosomatik
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
4Institut Kinder- und Jugendhilfe
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
Korrespondierender Autor:
Dr. med. Kurt Albermann
E-Mail: kurt.albermann@kinderseele.ch
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Viele Patient:innen in psychiatrischen Kliniken sind Eltern minderjähriger Kinder. Die Entwicklungsrisiken dieser Kinder sind hinreichend bekannt, gleichzeitig beschränken sich Unterstützungs- und Beratungsangebote häufig auf den ambulanten Kontext. Mittels Online-Befragung wurde in einer Kooperation zwischen iks,* SMHC* und SVPC* in psychiatrischen Kliniken der Schweiz untersucht, inwieweit die Situation und die Bedürfnisse betroffener Kinder berücksichtigt werden und welche Angebote bestehen.
Keypoints
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Rund 60% der Fachpersonen in Kliniken der Erwachsenenpsychiatrie schätzen ihr Wissen zu Belastungen von Kindern psychisch erkrankter Eltern als gut oder eher gut ein, rund ein Drittel als gering.
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Mit 88% fand ein Grossteil der Teilnehmenden, dass das Thema in der Erwachsenenpsychiatrie stärker berücksichtigt werden sollte.
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Es braucht einen fachlichen Diskurs über orientierende Minimalstandards.
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Um dem Unterstützungsbedarf von Familien mit psychisch erkrankten Eltern in der Erwachsenenpsychiatrie vermehrt entgegenzukommen, braucht es spezifisches Fachwissen, familienorientierte Angebote und Strukturen sowie hinreichende zeitliche Ressourcen.
Risiken für Kinder mit psychisch erkranktem Elternteil
Nach internationalen Studien1 sind etwa ein Drittel der Patient:innen in erwachsenenpsychiatrischen Kliniken Eltern minderjähriger Kinder. Kinder psychisch erkrankter Eltern haben ein erhöhtes Risiko, emotionale, Verhaltens- und kognitive Störungen zu entwickeln. Diese können zu Nachteilen in Bezug auf Bildungsniveau, Arbeitsfähigkeit und sozioökonomischem Status führen und die Fähigkeit einschränken, funktionierende soziale Beziehungen aufzubauen.2,3 Bei betroffenen Kindern ist das Risiko um das 3- bis 7-fache erhöht, die gleiche Krankheit wie ihre Eltern oder andere psychische Erkrankungen zu entwickeln.4,5 Etwa bei einem Drittel aller betroffenen Kinder besteht das Risiko, im Erwachsenenalter selbst schwer psychisch zu erkranken.6,7
Thema für die Erwachsenenpsychiatrie?
Am Schweizer Psychiatriekongress (PSY-Kongress) 2016 wurde erstmals in der Schweiz unter grosser nationaler und internationaler Beteiligung die psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive und damit die gesamte Familie ins Zentrum gerückt.8 Bereits an dieser Veranstaltung bestand reges Interesse, der Situation und den Bedürfnissen von Kindern und Eltern in der erwachsenenpsychiatrischen Versorgung mehr Beachtung zu schenken. Es wurde deutlich, dass hier ein erhebliches Potenzial besteht, um familiäre Überbelastungen und entsprechenden Unterstützungsbedarf zu erkennen und bei der Vermittlung an weiterführende Angebote eine wichtige Funktion einzunehmen. Zwar ist seit einigen Jahren auch in der Erwachsenenpsychiatrie eine verstärkte Sensibilisierung für die Bedürfnisse und Belastungen von Kindern mit psychisch erkrankten Eltern festzustellen, jedoch stecken die Entwicklung und die Etablierung entsprechender Angebote in den Kliniken noch in den Anfängen. Bis anhin liegen wenige Daten dazu vor, wo die Kliniken in der Schweiz bezüglich der Thematik aktuell stehen.
Online-Befragung in psychiatrischen Kliniken in der Schweiz
Das Ziel der Befragung war es, zu untersuchen, wie die Situation und die Bedürfnisse von Kindern mit einem psychisch erkrankten Elternteil gegenwärtig in psychiatrischen Kliniken berücksichtigt und erfasst werden. Spezifische Angebote für Eltern und Kinder sollten erfragt werden, und ob bei den Klinikmitarbeitenden ein Bedarf an einem Ausbau entsprechender Angebote besteht. Ausgewählte Befragungsergebnisse werden hier vorgestellt, diskutiert und Schlussfolgerungen zum Entwicklungs- und Optimierungsbedarf abgeleitet.
Der Fragebogen wurde von den Autor:innen und Mitarbeitenden entwickelt, die Daten wurden von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW erhoben und ausgewertet. Der Feldzugang und der E-Mail-Versand (DE, FR, IT) erfolgten mit freundlicher Unterstützung von SMHC* und SVPC* am 7. Juni 2022 (Reminder am 1. Juli 2022) mit den Informationen zur Onlinebefragung an 59 Institutionen. Zudem erhielten die Teilnehmenden des PSY-Kongresses 2022 Informationen und Zugangsdaten zur Befragung als Beilage in der Tagungsmappe. Weitere Aufrufe zur Teilnahme an der Umfrage erfolgten am Kongress, durch einen erneuten Reminder per E-Mail nach der Tagung sowie durch persönliche Aufrufe bei Klinikleitenden in den Westschweizer Kliniken. Die Feldphase wurde dort bis Ende November 2022 verlängert. Die Daten wurden mittels deskriptiver Verfahren ausgewertet.9
Methodik
Drei Viertel der 172 Befragten füllten den Fragebogen auf Deutsch aus, ein Fünftel auf Französisch und 5% auf Italienisch (Tab. 1a). Von den Teilnehmenden gaben 39% (n=67) an, der Klinikleitung ihrer Einrichtung anzugehören. Je ein Viertel der Befragten gab an, der Management-/Leitungsanteil ihrer Tätigkeit betrüge weniger als 25% bzw. mehr als 75% (Tab. 1b).
32% der Befragten waren als Ärztin bzw. Arzt tätig, 27% als Psychologe bzw.Psychologin und 22% in der Pflege. Je 9% gaben an, im Sozialdienst oder einem anderen Bereich tätig zu sein (Abb. 1). Die Mehrheit der Teilnehmenden war in einer stationären Einrichtung/Abteilung tätig (40%) oder gab «mehrere» an (24%). 18% arbeiteten in einem ambulanten Setting, 17% auf der Akutabteilung.
Ergebnisse
Die Ergebnisse der Online-Befragung, an der ärztliches, psychologisches und pflegerisches Fachpersonal aus 27 Institutionen teilnahm, geben für die Schweiz einen ersten vertiefenden, wenn auch nicht umfassenden Überblick darüber, wie mit dem Thema «Kinder psychisch erkrankter Eltern» umgegangen wird, welche Vorgehensweisen, Strukturen und Angebote hierzu in den Einrichtungen bestehen und wie aus Sicht der Fachpersonen der Bedarf an Wissen, Angeboten und Ressourcen im Kontext des Themas eingeschätzt wird.
Sensibilisierung und Wissen
Die Befragung zeigt, dass die Fachpersonen ihr Wissen über mögliche Belastungen minderjähriger Kinder von Patient:innen als relativ gut einschätzen. Vor diesem Hintergrund kann von einer gewissen Sensibilisierung ausgegangen werden. Vorhandene Guidelines zum Umgang mit der Thematik, z.B. bei vermuteten Belastungen, können jedoch noch nicht als etablierter Standard gewertet werden, obwohl es bereits Kliniken gibt, die entsprechende Vorgehensweisen definiert haben, insbesondere im Kontext von vermuteten Kindeswohlgefährdungen. Im Behandlungspfad werden Kinder vor allem als Teil der Lebenssituation, sozusagen als «demografisches Merkmal», thematisiert (z.B. Anzahl Kinder, Betreuungssituation).
Einbezug und Angebote für Kinder und Familien
Fragen nach dem Befinden und allfälligen Belastungen der Kinder, nach dem familiären Umgang mit der Erkrankung sowie Gespräche mit der ganzen Familie oder mit Kindern als Teil der regulären Behandlung scheinen demgegenüber gemäss den Resultaten eher die Ausnahme zu sein. Auch bezüglich kindgerechter Infrastruktur und familienorientierter Angebote scheint das Thema unterschiedlich tief verankert. Verbreitet sind Besuchszimmer für Familien, Spielplätze, Mutter-Kind-Stationen für Mütter mit jungen Kindern und Angehörigenberatung für erwachsene Angehörige.
Angebote, die auf einen allfälligen Unterstützungs- und Gesprächsbedarf von Patient:innen in ihrer Elternrolle und Kindern ausgerichtet sind, werden von deutlich weniger als der Hälfte der Teilnehmenden genannt. Vereinzelte Einrichtungen haben aber bereits teilstandardisierte Programme zur Psychoedukation, Beratung und Begleitung von Familien mit psychisch erkrankten Eltern implementiert. Ebenso wurden punktuell familienorientierte Vorgehensweisen beschrieben, wie z.B. eine enge Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Sprechstunden mit Fachpersonen aus der Kinder- und Jugendhilfe oder der Einbezug des erweiterten Helfernetzes.
Familienorientierte Prozesse
Mit 88% ist ein Grossteil der Teilnehmenden der Meinung, dass das Thema minderjähriger Kinder von Patient:innen in der Erwachsenenpsychiatrie stärker berücksichtigt werden sollte. Als wünschenswert in Bezug auf die Implementierung von Standards und Angeboten werden am häufigsten Leitlinien zum Umgang mit dem Thema, Angehörigenberatung, die für Kinder und Jugendliche offen ist, direkte Gesprächskontakte mit der Familie und den Kindern sowie Mutter-Kind-Stationen genannt. Hier wird auch deutlich, dass die Fachpersonen für ein stärker familienorientiertes Vorgehen mehr zeitliche Ressourcen benötigen, als ihnen aus eigener Einschätzung aktuell zur Verfügung stehen. Als weitere wichtige Voraussetzung werden spezifisches Fachwissen und das Vorhandensein entsprechender Angebote und Strukturen genannt (Abb. 2).
Abb. 2: Bedarf an Ressourcen für ein stärker familienorientiertes Vorgehen in der Psychiatrie (n=172)
Die Befragungsergebnisse zeigen, dass kindliche und familiäre Belastungen im Kontext elterlicher psychischer Erkrankung zunehmend auch in der erwachsenenpsychiatrischen Versorgung zum Thema werden und die Fachpersonen dieses als wichtig erachten. Ein Teil der Einrichtungen hat entsprechende Leitlinien erarbeitet sowie Angebote entwickelt und implementiert. Vereinzelt wird zudem mit teilstandardisierten Programmen im Bereich Psychoedukation und Beratung gearbeitet oder ein im Kanton Thurgau gemeinsam mit iks* entwickeltes E-Learning-Tool eingesetzt. Gleichzeitig scheint es noch keinen orientierenden Standard zu geben, wie in erwachsenenpsychiatrischen Institutionen mit dem Thema umgegangen werden kann und was es hierzu an Angeboten, fachlichen und zeitlichen Ressourcen braucht. Um sich diesem Ziel zu nähern, wurde vom iks* das Projekt «Children and Adolescents in Adult Psychiatry» (CAPSY)10 lanciert.
Fachlicher Diskurs zu orientierenden Standards
Die Definition eines Standards setzt zunächst einen Fachdiskurs darüber voraus, was die Rolle erwachsenenpsychiatrischer Einrichtungen in diesem Kontext ist, sein kann und sollte. Im Hinblick auf Prävention und Frühintervention bei übermässigen Belastungen von Kindern mit psychisch erkrankten Eltern kommt der Psychiatrie eine erhebliche Bedeutung zu, wenn es gelingt, mit Grundlagenwissen zu den Belastungen, denen Kinder durch die elterliche psychische Erkrankung ausgesetzt sein können, und mithilfe eines Grundangebotes für Eltern, Kinder und Fachpersonen einen Beitrag zu einer angemessenen Versorgung zu leisten.
Gleichzeitig ist es wichtig, mit den Eltern Unsicherheiten in Bezug darauf zu thematisieren, ob und wie sie mit Kindern verschiedener Altersgruppen über die Erkrankung und die Hospitalisation sprechen können,11,12 und sich den elterlichen Sorgen um die Kinder, der Angst vor allfälligen Folgen von Klinikaufenthalten und fürsorgerischen Unterbringungen zu widmen.
Zusammenfassung
Praxisstandards für eine stärkere Fokussierung von Familien in der Erwachsenenpsychiatrie wurden bereits in anderen Ländern entwickelt und erprobt.13 Im Sinne der Nachhaltigkeit wäre zu fordern, dass diese in den klinischen Prozess eingebunden und kontinuierlich umgesetzt werden sowie zu anhaltendem Nutzen führen.14,15 Zwar steht eine systematisierte Evidenzbasierung des Nutzens und der Wirkungen entsprechender Standards noch aus, die Forschung zu Kindern psychisch erkrankter Eltern und ihren Entwicklungsrisiken belegt aber, dass die Belastungen der Kinder oft zu spät gesehen werden und sie mit Ängsten und Fragen häufig allein bleiben. Zusammenfassend kann davon ausgegangen werden, dass ein familienorientiertes Vorgehen in der erwachsenenpsychiatrischen Versorgung dazu beiträgt, familiäre Belastungen frühzeitig zu erkennen und geeignete Unterstützung zu organisieren.
*Abkürzungen:
iks: Institut Kinderseele Schweiz
SMHC: Swiss Mental Health Care
SVPC: Schweizerische Vereinigung Psychiatrischer Chefärztinnen und Chefärzte
Literatur:
1 Maybery D, Reupert AE: The number of parents who are patients attending adult psychiatric services. Curr Opin Psychiatry 2018; 31(4): 358-62 2 Hosman CMH et al.: Prevention of emotional problems and psychiatric risks in children of parents with a mental illness in the Netherlands: I. The scientific basis to a comprehensive approach. Adv Ment Health 2009; 8(3): 250-63 3 Reupert AE et al.: Children whose parents have a mental illness: prevalence, need and treatment. Med J Aust 2013; 199(3): 7-9 4 van Santvoort F et al.: The impact of various parental mental disorders on children’s diagnoses: a systematic review. Clin Child Fam Psychol Rev 2015; 18(4): 281-99 5 Beardslee WR et al.: Children of affectively ill parents: a review of the past 10 years. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 1998; 37(11): 1134-41 6 Rasic D et al.: Risk of mental illness in offspring of parents with schizophrenia, bipolar disorder, and major depressive disorder: a meta-analysis of family high-risk studies. Schizophr Bull 2014; 40(1): 28-38 7 Mattejat F, Remschmidt H: Kinder psychisch kranker Eltern. Dtsch Arztebl 2008; 105(23): 413-8 8 Albermann K et al.: Psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive. Schweizerisches Medizin-Forum 2017; 17(3): 85-90 9 Müller B: Angebote für Kinder psychiatrisch hospitalisierter Eltern: Online-Befragung in psychiatrischen Kliniken zu Bestand und Bedarf: 2023 online 10 Projekt «Children and Adolescents in Adult Psychiatry» (CAPSY) 2024 [available from: https://gesundheitsfoerderung.ch/praevention-in-der-gesundheitsversorgung/projektfoerderung/gefoerderte-projekte/projekt-capsy 11 Albermann K, Müller B: Unterstützung für Kinder psychisch kranker Eltern. Information und Vernetzung tragen zum Gelingen bei. Kinderarztl Prax 2018; 89(2): 102-10 12 Peter C et al.: Psychische Gesundheit – Erhebung Herbst 2022. Wie geht es der Bevölkerung in der Schweiz? Sucht sie sich bei psychischen Problemen Hilfe? Obsan Bericht 2023; 03: 4 13 Goodyear M et al.: Standards of practice for the adult mental health workforce: meeting the needs of families where a parent has a mental illness. Int J Ment Health Nurs 2015; 24(2): 169-80 14 Scheirer MA, Deiring JW: An agenda for research on the sustainability of public health programs. Am J Public Health 2011; 101(11): 2059-67 15 Allchin B et al.: Sustaining efforts to improve family well-being with parents with mental ill health and substance (mis)use. Front Psychiatry 2024 (submitted)