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APA-Kaleidoskop
Jatros
Autor:
Dr. Wolfgang Schuhmayr
Quelle:<br/> Post-APA-Meeting, 19. Juni 2015, Wien
30
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10.09.2015
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<p class="article-intro">Mitte Juni lud Janssen Pharmaceuticals, Inc., zu einer lockeren Nachlese des diesjährigen APA-Meetings in Toronto, Kanada. Die American Psychiatric Association (www.psychiatry.org) gilt weltweit als therapeutischer Trendsetter in der Psychiatrie.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Was die Referenten an Schlaglichtern mitgebracht hatten, reichte von Kurio­­sa bis hin zur Bestätigung bekannter Tatsachen, wie etwa jener, dass in der Behandlung von Angst, Depression und posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) die nicht medikamen­-töse Behandlungsachse nicht nur un­umgänglich ist, sondern hinsichtlich der Behandlungserfolge sogar valider. „Golden standard“ könnte man daraus ableiten – gänzlich unbekannt allerdings im österreichischen Sozialversicherungssystem und kein wesentlicher Punkt in der Agenda heimischer Gesundheitsexperten. Schade, denn diese Patienten haben leider keine Lobby, die ihnen den Zugang zu einer kunstgerechten Therapie ermöglicht. Die „Kinder der Depression“ können keine dramatischen, medienträchtigen Hautexfoliationen vorweisen. Sie sitzen still in Ecken und schweigen.</p> <h2>Craving – the French Revolution?</h2> <p>Dass Fortbildung durchaus Elemente des Infotainments enthalten kann, stellte Dr. Kurosch Yazdi, Primararzt der psychiatrischen Abteilung 5 (Zentrum für Suchtmedizin) der Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz, unter Beweis. Pädagogisch nachahmenswert, denn sein packender Vortrag wird den Zuhörerinnen und Zuhörern sicherlich lange in Erinnerung bleiben.<br /> Wenig gnädig kommentierte er einen französischen Trend in der Behandlung von Craving bei Alkoholsucht mit Bac­lofen, einem Arzneistoff aus der Gruppe der Muskelrelaxanzien, der zur Spasmolyse bei Rückenmarkverletzungen und Multipler Sklerose eingesetzt wird. Öffentliche Bekanntheit erlangte Bac­lofen 2009 durch ein Buch von Olivier Ameisen, in dem dieser behauptete, seine Alkoholkrankheit durch eine ex­trem hoch dosierte Therapie mit dieser Substanz besiegt zu haben. Dem zitierten Vortrag des französischen Psychiaters Renaud de Beaurepaire (APA 2015) folgend, fällt auf, dass Studien mit einer Dosierung von 30 bis 60mg/d wenig erfolgreich waren. Positive Ergebnisse zeigten sich erst bei Dosierungen von 300 bis 400mg, also rund dem Zehnfachen der üblichen Dosis. Der Hintergrund dieser Hochdosistherapie ist dadurch gegeben, dass Baclofen nur in sehr geringem Ausmaß die Blut-Hirn-Schranke überwindet und zentrale Wirkungen daher extremer Dosen bedürfen. Als Regime wird eine Titrierung auf etwa 300mg (Verschwinden des Cravings) empfohlen, die dann 6 Monate gehalten werden sollen. Während der folgenden zwei bis fünf Jahre soll allmählich wieder auf null reduziert werden: Et voilà, c’est tout! Ohne jede Respektlosigkeit gegenüber diesem neuen „French paradox“ muss – Yazdis Kommentar folgend – angemerkt werden, dass Baclofen ein GABA-B-Agonist ist, der trotz der „langsamen“ Wirkung über den B-Rezeptor ebenfalls über ein entsprechendes Suchtpotenzial verfügt, sodass es sich eher um eine Substitutionsbehandlung als um Anticraving handeln dürfte. Daher ist zumindest aus dieser Warte Vorsicht angebracht, denn die vorliegenden französischen Daten über ein bis zwei Jahre reichen bei Weitem nicht aus, um Aussagen zu einer allfälligen Baclofen-Abhängigkeit zu treffen. Ganz abgesehen von den zu erwartenden massiven Nebenwirkungen der angegebenen Dosierungen, die von Müdigkeit bis zur Bewusstseinstrübung reichen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2015_Jatros_Neuro_1504_Weblinks_Seite59neu.jpg" alt="" width="532" height="352" /></p> <h2>Canabissimo</h2> <p>Anders liegen die Erkenntnisse da schon bei Cannabis und dem zugehörigen Suchtpotenzial (Abb. 1). 9 % der Verwender werden süchtig, bei Anwendung in der Jugend sind es sogar 17 % . Den Topwert erreicht Nikotin mit 32 % , gefolgt von Heroin mit 23 und Kokain bzw. Alkohol mit 17 bzw. 15 % .<sup>1</sup><br /> <br /> Eines ist sicher: Cannabis wird weiterhin ein polarisierendes Thema bleiben. So auch in den USA. Die Beurteilung in den einzelnen Bundesstaaten reicht von Medizinalisierung (Einsatz in der Medizin) über Dekriminalisierung (in bestimmten Situationen nicht verboten) bis hin zur freien Abgabe in vier Bundesstaaten (Legalisierung).<br /> Ein Problem bleibt die sogenannte „THC-Demenz“, die bei langfristigem Cannabis-Konsum auftreten kann. Bewiesen ist nicht nur die psychogene Wirkung von THC durch eine übermäßig gesteigerte Dopaminausschüttung bei manifesten Schizophreniepatienten, sondern auch bei deren medizinisch unauffälligen Verwandten, und zwar durch entsprechende PET-Studien wie jene von Küpper<sup>2</sup> 2013. Es handelt sich offenbar um eine Art genetischer Disposition zur Psychose, die – so sie auftritt – nicht passager, sondern bleibend ist.<br /> Interessant ist auch das Phänomen, dass der Konsum umgekehrt proportional zur Risikoeinschätzung auftritt. Das heißt, in Perioden oder Regionen geringer eingestuften Risikos ist er höher und umgekehrt; heute also wieder deutlich mehr als noch vor zehn Jahren, da die „medizinischen“ Wirkungen in der Diskussion im Vordergrund stehen. Weniger bekannt sind die desaströsen Wirkungen von THC auf die fötale Entwicklung.<br /> Dennoch ist Cannabis „big business“, denn die Hanfpflanzen enthalten heute zehnmal mehr Wirkstoff als noch vor zehn Jahren. Ähnliches gilt übrigens auch für andere Drogen wie Ecstasy, das während der letzten Dekade pro Gramm etwa dreifach stärker geworden ist.<br /> Klar die Position der FDA: Sie bestätigt zwei Indikationen, nämlich die Zytostatika-induzierte Übelkeit und die (mittlerweile extrem selten gewordene) Kachexie, etwa infolge von Aids. Völlig verwirrt hingegen die Politik in den USA, die zum Thema Cannabis völlig frei zu fabulieren scheint. Sie findet Cannabis in zahlreichen „neuen“ Indikationen nützlich, so bei Krebs ganz allgemein, Glaukom, Hepatitis C, ALS (amyothrophe Lateralsklerose), M. Crohn, Parkinson, Multipler Sklerose oder einfach „ganz allgemein je nach individueller Entscheidung des Hausarztes“. Politiker zitieren dabei 2-Monats-Mengen von 10 Unzen – das sind 283g. Geht man für diesen Zeitraum bei Personen, die Cannabis aus medizinischen Gründen konsumieren, von durchschnittlich gemessenen 56g aus, verbleiben alle 2 Monate „ungenutzte“ 227g Cannabis mit einem Marktwert von insgesamt 19.200 US-Dollar (16.860 Euro) im Jahr. In den USA gibt es daher derzeit einen industriellen Run auf die Zucht hochpotenter Hanfpflanzen, um möglichst hochkonzentrierte Ernten einfahren zu können.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2015_Jatros_Neuro_1504_Weblinks_Seite61neu.jpg" alt="" width="624" height="477" /></p> <h2>The Social Media Curse</h2> <p>Segen oder Plage: Medizin muss – und soll in seriöser Form natürlich auch – im Internet vorkommen. Daran kommt selbst die Psychiatrie nicht vorbei, wenngleich hier die Rahmenbedingungen doch deutlich anders liegen mögen als in anderen Fächern. Die Ordi-Homepage im Sinne der Patienteninformation ist weiter nichts Besonderes – mit oder ohne parallele Präsentation von Büchern als zusätzlichen Informationsmedien. Wer fleißig war, weist das eben vor. Deutlich nachdrücklicher sind schon gut portionierte YouTube-Videos mit kundigen Ausführungen zu einzelnen Krankheitsbildern als belebte Beweise für sympathisches Auftreten, patientengerechte Kommunikation und Fachkompetenz. Topshot in diesem Kontext sind sicherlich Homepages mit teilweise ausführlichen Filmbeiträgen in Form von Interviews, die direkt auf Facebook stehen.<br /> All diese sind natürlich völlig legale Marketinginstrumente, ohne die es auf einem freien Ärztemarkt wie dem US-amerikanischen gar nicht geht. Hierzu eine Zahl aus der Wirtschaft: Die Werbeausgaben für einen Betrieb in den USA liegen beim 15- bis 30-Fachen dessen, was derselbe Betrieb in Österreich aufwenden müsste, um erfolgreich zu sein. Das sind Betriebsausgaben, die auch wieder „eingespielt“ werden müssen. Eine Entwicklung, die auch hierzulande mit Sicherheit fortschreiten wird. Insbesondere bei medizinischen Dienstleistungen, die von Betroffenen privat zu bezahlen sind. Ehe man darüber also den Kopf schüttelt, sollte man bedenken, dass es die „Kassenpraxis“ in den USA nicht gibt. <br /> Deutlich unkomfortabler wird es, wenn man in diesem Kontext die Patientenseite beleuchtet. Gut, manches kennen wir. Patientenforen, in denen sich Betroffene austauschen. Andere, bei denen sich Menschen über Erkrankungen und Therapien informieren können. Hier fällt in den USA auf – und das ist bei deutschsprachigen Foren nicht anders –, dass Neben- oder Wechselwirkungen von Substanzen überproportional im Vordergrund stehen. <br /> Aber nun kommt der sozialmediale Spießrutenlauf: Ärzte können auch bewertet werden. Konkret macht sich APA-Referent Dr. John Luo, Director of Psychiatric Residency Training, University of California, auf die Suche nach seinen eigenen Spuren im Internet. Mit folgendem Ergebnis:</p> <ol> <li>Getürkte Bewertungen: Wenn man nicht vorkommt, kann man jederzeit unter einem oder mehreren Pseudonymen selbst dafür sorgen, dass zur eigenen Person mehrheitlich positive Meinungen aufscheinen.</li> <li>Bezahlte Bewertungen: Das ist etwas, das es auch bei uns längst gibt, von illustrierten Medien bis ins Internet. Nur wissen es manche nicht. In den USA geht das eben noch etwas weiter. Neben der eigenen Bewertung poppt dann nämlich ein buntes Insert auf, das den Kollegen „XYZ“ in der gleichen geografischen Region empfiehlt. Pech gehabt, zu wenig bezahlt.</li> <li>Private Datensätze: Das ist sicherlich die „Social-Media-Gruselshow“. Eigene Datenscouts und ihre Mo­nitoringprogramme sorgen dafür, dass im Internet selbst private und sogar geheime Daten wie die Privatadresse, die Adresse des Wochenendhauses, Namen von Familienmitgliedern, frühere Arbeitsstätten, Telefonnummern und dergleichen mehr gelistet sind. Selbst für einen US-Referenten wie Dr. Luo ganz offenbar starker Tobak in Sachen Datensicherheit, die es selbstverständlich nicht gibt. Sobald wir im Internet unterwegs sind, jagen Dutzende Programme hinter uns her, um unser Verhalten, unsere Präferenzen etc. zu analysieren, zu verarbeiten und weiterzuverkaufen. Die Privatsphäre ist ein romantisches Residuum aus dem 20. Jahrhundert.</li> </ol> <h2>Der Milieu-Officer</h2> <p>Die Vorstellung an sich mag prima vista seltsam anmuten, aber in Akutstationen vielleicht doch entsprechende Sehnsüchte auslösen. Milieu-Officer (MO) sind lebende, paramedizinisch geschulte Versatzstücke, die in Stationen einfach nur da sind, um als potenziell verfügbare Kommunikationspartner zu dienen. Sie involvieren sich nur ungern beim Fixieren von Patienten, sind uninformiert und haben Football-Spieler-Format. Also eine Art „big buddy“, der immer Zeit hat, freundlich zuhört, „Freund und Grabstein der Patienten“ ist, aber keine sonstigen Aufgaben hat. Das mag sofort kritische Reaktionen hervorrufen, denn gehört es nicht zum Selbstverständnis des ärztlichen oder Pflegepersonals, mit den Patienten auch zu sprechen? Möglicherweise eine ebenfalls romantisierende Erinnerung an die Zeit vor der Überadministrierung ärztlicher Tätigkeit. Und die hat in den USA eine völlig andere Dimension, denn, so das Zitat der Referentin Dr. Ursula Goedl: „… it keeps the lawyer away!“ Wenn was passiert, dann beginnt die finanzträchtige Jagd auf die „Verantwortlichen“, die sich bei Gericht nur mit artig Geschriebenem zur Wehr setzen können.</p> <h2>Telefon-Consulting</h2> <p>Irgendwann im 20. Jahrhundert gab es in den USA noch 340 „akute Psychiatrie-Betten“ pro 100.000 Einwohner, 2005 dann nur mehr 17, Trend sinkend. Mit dem Ergebnis, dass Akutfälle in die berühmten TV-trächtigen ERs („emergency rooms“) gebracht wurden. Dort stand zunächst Beobach­tung auf dem Programm, ehe binnen eines Zeitraums von zehn Stunden bis zu drei Tagen 24,8 % der Patienten stationär aufgenommen wurden. Ein fehleranfälliges System, das den Ruf nach speziellen Psy-ER laut werden ließ. Faktum ist, dass die akutpsychiatrische Versorgung auf einem derartigen Niveau recht dürftig ist, sodass akutpsychiatrische Callcenter telefonische Konsiliardienste umsetzen müssen. Eine Vorstellung, die in unseren Breiten trotz sinkender Budgetmittel hoffentlich nicht die Zukunft darstellt. Selbst wenn die besten Checklisten der Welt aus den USA importiert würden, so lösten sie essenzielle Fragen wie etwa die Beurteilung von Selbstmordgefährdung sicher nicht.</p> <h2>Angst – Depression – PTSD</h2> <p>Neuigkeiten hinsichtlich verbesserter Pharmakotherapien wurden in diesem Kontext von Univ.-Prof. Dr. Michael Bach nicht berichtet, lediglich eine bereits bekannte Tatsache unterstrichen: Nicht pharmakologische Therapien etwa in Form verschiedener Psychotherapietechniken sind der medikamentösen Versorgung qualitativ überlegen. Speziell im Zusammenhang mit der diesbezüglich völlig unzulänglichen Versorgungssituation in Österreich eine klare Botschaft an die Gesundheitspolitik und die Sozialversicherer, die mit der konsequenten Verweigerung dieser Behandlungsachse fortgesetzt zu längerer Krankheitsdauer und Chronifizierung mit der entsprechenden Mehrbelastung in Form von Arbeitsausfall oder höheren Behandlungs- bzw. Rehakosten beitragen. Aber das ist natürlich eine andere Geschichte …</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle:<br/>
Post-APA-Meeting,
19. Juni 2015, Wien
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<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p>• Anthony JC et al: Comparative epidemiology of depen­dence on tobacco, alcohol, controlled substances, and inhalants: basic findings from the National Comorbidity Survey. Exp Clin Psychopharmacol 1994; 2: 244-268 <br />• Kuepper R et al: Delta-9-tetrahydrocannabinol-indu­ced dopamine release as a function of psychosis risk: 18F-fallypride positron emission tomography study. PLoS One 2013; 8(7): e70378. doi: 10.1371/journal.pone.0070378. Print 2013</p>
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