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Antipsychotika und Benzodiazepine in der Geriatrie
Jatros
Autor:
Dr. Ulrike Sommeregger
Internistin mit Additivfach Geriatrie<br> ehem. Vorstand der Abteilung für Akutgeriatrie<br> Donauspital, Wien
30
Min. Lesezeit
28.06.2018
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<p class="article-intro">Mit zunehmendem Lebensalter steigt die Inzidenz chronischer Krankheiten – bei Menschen über 70 Jahre finden wir durchschnittlich sechs relevante Diagnosen. Dementsprechend erhalten sie in der Regel mehrere Dauerverordnungen von Medikamenten zur Kontrolle der vorliegenden Symptome bzw. zur Sekundärprophylaxe von Ereignissen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall. Dauerverordnungen sollten jedoch gerade bei Älteren wegen des erhöhten Risikos für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Arzneimittelinteraktionen immer wieder kritisch hinterfragt werden.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Sowohl Benzodiazepine als auch Antipsychotika werden älteren Patienten sehr häufig verschrieben, obwohl sie sehr oft ernste Nebenwirkungen haben.</li> <li>Daher ist oberste Maxime bei der Verschreibung, auf strenge und kritische Indikationsstellung zu achten und auch auf deren Aktualität!</li> <li>Durch Aufklärung von Patienten und deren betreuenden Angehörigen muss auch ein zumindest basales Problembewusstsein geweckt werden.</li> </ul> </div> <p>Neben den altersphysiologischen Veränderungen tragen diese chronischen Krankheiten zu einer zunehmenden Vulnerabilität der Betroffenen bei, deren erkennbare Anzeichen</p> <ul> <li>ein langsamer Gang (= <0,8 m/Sek., d.h. für das Gehen über eine Strecke von 4 m dürfen maximal 5 Sekunden gebraucht werden) und</li> <li>eine reduzierte Handkraft sind.</li> </ul> <p>Diese ist messbar, was aber in nicht spezialisierten Praxen nicht üblich ist. Wenn Patienten darauf angewiesen sind, zum Aufstehen aus dem Sitzen die Hände zur Hilfe zu nehmen, so ist dies ebenfalls ein Hinweis auf eine reduzierte Muskelkraft in den Oberschenkeln. Zu dieser erhöhten Vulnerabilität gehören auch veränderte (milde bis atypische) Krankheitspräsentation, nachlassende Immunabwehr, verlängerte Rekonvaleszenzdauer, veränderte Pharmakokinetik und -dynamik und dadurch steigende Empfindlichkeit für Medikamenten- Nebenwirkungen, geringere Kompensationsfähigkeit gegenüber Belastungen der Homöostase (z.B. Elektrolyte), sinkende cholinerge Reservekapazität des ZNS sowie auch eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Störungen. Dies sind vor allem Depressionen und Angststörungen – häufig im Kontext einer Anpassungsstörung – und das häufigste Symptom, auf dessen Linderung Patienten drängen, sind Schlafstörungen.</p> <h2>Benzodiazepine (BZD)</h2> <p>Benzodiazepine sind in dieser Situation die am häufigsten verordneten Medikamente und erfüllen – vor allem anfangs – auch meistens die Erwartungen. Messungen haben gezeigt, dass der objektive Beitrag zur Schlafdauer nur ca. eine halbe Stunde beträgt und die Wachphasen um durchschnittlich 0,6-mal reduziert werden.<br /> Dagegen sind die subjektiv in aller Regel kaum registrierten Nebenwirkungen bei geriatrischen Patienten aber durchaus ein guter Grund, bei der Verordnung und vor allem bei der Weiterverordnung vorsichtig und äußerst kritisch vorzugehen.<br /> Benzodiazepine führen zu signifikanter Konzentrationseinbuße, Tagesschläfrigkeit, kognitiven Nebenwirkungen, Schwindel und Balancestörungen. Dazu kann sich die unterschiedlich ausgeprägte muskelrelaxierende Wirkung bei sarkopenischen, schlecht konditionierten Personen zusätzlich negativ auswirken.<br /> Die schwerwiegendste negative Folge ist eine erhöhte Sturzneigung, weil das Gehen in fortgeschrittenem Alter bereits physiologischerweise durch Zunehmen der Körperschwankungen und verringerte Reaktionsgeschwindigkeit bei den Kompensationsbewegungen deutlich mehr Konzentration erfordert als in jüngeren Jahren.<br /> Stürze haben nicht nur häufig schwere Verletzungen wie Oberarm- oder Hüftfraktur zur Folge, die fast regelhaft eine einschneidende Verschlechterung der alltagspraktischen Fähigkeiten nach sich ziehen, sondern führen – auch ohne schwere Verletzungsfolgen – zu oft sehr ausgeprägter Sturzangst mit konsekutiver Einschränkung des Bewegungsradius und damit zu einer signifikanten Reduktion der sozialen Teilhabe und in weiterer Folge auch der Funktionalität.<br /> Funktionalitätseinbußen beginnen immer mit messbaren, subjektiv aber oft noch nicht registrierten Verschlechterungen der Mobilität wie reduzierter Ganggeschwindigkeit und zunehmender Gangunsicherheit und führen in der Folge zu Einschränkungen in den IADL (instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens), die dann bereits zu einer Abhängigkeit von Betreuungsleistungen führen. Die BADL (basale Aktivitäten des täglichen Lebens) sind in der Regel erst sehr spät betroffen.<br /> Bei der Behandlung von Schlafstörungen älterer Menschen gelten daher nicht medikamentöse Maßnahmen wie die kognitive Verhaltensänderung als Mittel der ersten Wahl und der Einsatz von Medikamenten sollte nur wenn unbedingt nötig für den Anfang herangezogen werden. Hier zeigen die „Z-drugs“ (z.B. Zolpidem) ein etwas günstigeres Nebenwirkungsprofil als die BZD.<br /> Antidepressiva sollten nur dann zum Einsatz kommen, wenn bei dem Betroffenen auch depressive Symptome erhebbar sind.</p> <p>SSRI sind auch bei der Behandlung von starker Sturzangst indiziert – eine begleitende Physiotherapie zum Training der Gangsicherheit ist allerdings obligat.<br /> Bei der Verordnung – und vor allem der Weiterverordnung – von BZD für ältere Patienten sind neben der sorgfältigen Erhebung, welche Störung den beklagten Beschwerden tatsächlich zugrunde liegt, folgende Punkte wichtig:</p> <ol> <li>Aufklärung über die physiologischen Veränderungen des Schlafes mit zunehmendem Alter (Tab. 1)</li> <li>Beratung über nicht medikamentöse Maßnahmen zur Schlafverbesserung (Tab. 2)</li> <li>Genaue Erklärung der Vor- und Nachteile/ Risiken der möglichen medikamentösen Therapie – der Patient sollte unbedingt ein Risikobewusstsein entwickeln.</li> <li>Auch als Nichtgeriater auf Frailty-Zeichen achten (Tab. 3)!</li> <li>Sozialen und räumlichen Bewegungsradius und IADL-Status erheben!</li> </ol> <h2>Antipsychotika</h2> <p>Erstaunlich häufig finden sich im täglichen „Tablettenmenü“ betagter Patienten Antipsychotika, für die es keine klare aktuelle Indikation gibt.<br /> Die vermutlich häufigste Ursache dafür ist die unkritische Weiterverordnung nach einer deliranten Episode im Rahmen eines Spitalsaufenthalts. Leider ist es nach wie vor schlechte gängige Praxis, diese deliranten Episoden weder in den Diagnosen noch in der Epikrise zumindest als „Durchgangssyndrom“ zu erwähnen, während ein einmal zu Hilfe genommenes Neuroleptikum kommentarlos in die Liste der sonstigen Dauerverordnungen übernommen wird.<br /> Eine andere Indikation, die aber ebenfalls eine Dauerverordnung nicht ohne Weiteres rechtfertigt, ist der Einsatz von neueren Antipsychotika zur Behandlung von BPSD (Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia) im Rahmen einer Demenzerkrankung. Auch hier stellt sich oft die Frage, ob es sich tatsächlich um BPSD gehandelt hat oder doch um Symptome eines Delirs im Rahmen eines Infekts oder bei zu geringer Flüssigkeitsaufnahme. Dafür sind demenzkranke Personen in besonders hohem Maße anfällig.<br /> Da die Nebenwirkungen dieser Substanzen neben Dämpfung (Sturzgefahr!), weiterer Reduktion der kognitiven Fähigkeiten und unterschiedlichen Graden an anticholinergen Symptomen auch eine deutliche Steigerung der Schlaganfallinzidenz sowie eine Verlängerung der QT-Zeit, die bei prädisponierten Menschen (Tab. 4) zu malignen Herzrhythmusstörungen führen kann (Torsade de Pointes), umfassen, ist dieser Übergebrauch äußerst kritisch zu sehen. Bei Delirepisoden ist der Einsatz unbedingt mit den sehr gut wirksamen nicht medikamentösen Maßnahmen zu kombinieren und auf die niedrigstmöglichen Dosierungen und die kürzeste nötige Dauer zu beschränken.<br /> Bei demenzkranken Personen ist bei allen psychotischen Symptomen IMMER zuerst an die Möglichkeit eines Delirs zu denken und dementsprechend sind die möglichen Ursachen dafür zu suchen und zu behandeln.<br /> Jedenfalls wird aufgrund der sehr ernsten Folgekrankheiten (Insult, Torsade) empfohlen, bei notwendig scheinender länger dauernder Verordnung in regelmäßigen Abständen (ca. 3 Monate) dokumentierte Reduktions- und Absetzversuche zu machen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1803_Weblinks_jatros_neuro_1803_s37_tab1+3+4.jpg" alt="" width="2102" height="896" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1803_Weblinks_jatros_neuro_1803_s38_tab2.jpg" alt="" width="1417" height="2176" /></p> <div id="fazit"> <h2>Beachten Sie:</h2> <p>Das Verhältnis von NNT („number needed to treat“) vs. NNH („number needed to harm“) ist für Benzodiazepine in der Geriatrie ungünstig: NNT 13 : NNH 6.</p> </div> <p><br /><strong>Weitere Informationen:</strong><br /> www.akdae.de (Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft)<br /> www.clinicalpharmacology.com<br /> www.dosing.de (Universität Heidelberg)<br /> www.drug-interactions.com<br /> www.mediq.ch<br /> www.torsades.org</p></p>
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