
Ambulante Behandlung peripartaler psychiatrischer Erkrankungen
Autorin:
Dr. med. Andres Eisenhut
Gynäkopsychiatrische Sprechstunde
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
E-Mail: andrea.eisenhut@pukzh.ch
Die Gynäkopsychiatrie umfasst alle psychiatrischen Aspekte, die im Kontext von Gynäkologie und Geburtshilfe auftreten, sowie alle psychiatrischen Störungsbilder, die in engem Zusammenhang mit gynäkologischen oder geburtshilflichen Prozessen stehen.1 Der folgende Artikel gibt einen Überblick über die Relevanz peripartaler psychiatrischer Erkrankungen und deren Behandlungsmöglichkeiten im Rahmen einer gynäkopsychiatrischen Sprechstunde.
Keypoints
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Die Gynäkopsychiatrie widmet sich allen psychiatrischen Störungsbildern, die im Zusammenhang mit gynäkologischen oder geburtshilflichen Prozessen stehen.
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Die Gynäkopsychiatrische Sprechstunde der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich bietet Beratung und Behandlung bei psychischen Erkrankungen, die mit Schwangerschaft, Geburt oder unerfülltem Kinderwunsch in Verbindung stehen, an.
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Bei der peripartalen psychiatrischen Behandlung ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit allen in die Betreuung von Schwangeren und Eltern involvierten Fachpersonen zentral.
Prävalenzen und Folgen peripartaler psychiatrischer Störungen
Im Jahr 2023 fanden in der Schweiz 80358 Geburten statt.2 Konkrete Zahlen zur Häufigkeit peripartaler psychiatrischer Erkrankungen in der Schweiz liegen nicht vor. Berger et al. schätzten in einer Studie aus dem Jahr 2017 anhand von Versicherungsdaten eine schweizweite Prävalenz von 16,7%,3 wobei von höheren Zahlen auszugehen ist.
In der Fachliteratur wird die allgemeine Prävalenz für präpartale Depressionen mit 10–12% angegeben, für postpartale Depressionen mit 10–15%.4 Präpartale Angststörungen treten mit einer Häufigkeit von 15,2% auf, postpartal wird eine Prävalenz von 9,9% postuliert.5 Zwangsstörungen treten postpartal besonders häufig auf (16,9%).6 Eine geburtsbezogene posttraumatische Belastungsstörung nach traumatisch erlebter Geburt tritt bei ca. 4,7% der Frauen auf.7 Postpartale Psychosen sind mit einer Prävalenz von 0,1–0,2% zwar vergleichsweise selten,8,9 aufgrund des meist raschen Auftretens und des fulminanten Symptomverlaufs verdienen sie jedoch besondere Aufmerksamkeit.
In den letzten Jahren sind auch Väter im Zusammenhang mit peripartalen psychiatrischen Erkrankungen zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Studien zeigen Prävalenzen von 8,75% für postpartale Depressionen bei Männern.10 Unzureichend behandelte oder unbehandelte peripartale psychiatrische Erkrankungen bergen für die betroffenen Frauen u.a. ein erhöhtes Risiko für Schwangerschaftskomplikationen und Aborte,11 für eine allgemein verminderte Lebensqualität, für eine Chronifizierung der psychiatrischen Symptomatik und letztlich auch für Suizidalität.12 Aufseiten der ungeborenen Kinder kann es zu einem verminderten intrauterinen Wachstum, einem erhöhten Frühgeburtsrisiko und vermehrten Geburts- und neonatologischen Komplikationen kommen.13–15 Die (Mutter-Kind-)Bindung kann in Form von postpartalen Bindungsstörungen wie fehlender Zuneigung, Ablehnung, Vernachlässigung oder Feindseligkeit gegenüber dem Kind beeinträchtigt sein. Auch scheint ein erhöhtes Risiko für Bindungsstörungen bei Kindern von Müttern mit peripartalen psychiatrischen Störungen zu bestehen sowie für die Entwicklung emotionaler kindlicher Probleme.14 Ebenso können sich negative Auswirkungen auf das gesamte Familiensystem entwickeln, u.a. in Form von Belastungen des Partners oder der Partnerin und der Paarbeziehung sowie des weiteren sozialen Umfelds.
Die genannten Fakten unterstreichen die Wichtigkeit einer frühzeitigen Erkennung und Zuweisung der Betroffenen in eine spezialisierte Behandlung. Hierfür bedarf es ausreichender Information und Schulung der in die Betreuung von Schwangeren involvierten Fachpersonen sowie Aufklärung schwangerer Frauen und ihres Umfeldes über peripartale psychiatrische Erkrankungen, deren Frühwarnzeichen und Symptome. Im Rahmen der psychiatrischen Grundversorgung in der Schweiz haben sich in den letzten Jahren neben Kliniken mit stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Mutter-Kind-Behandlungsmöglichkeiten zunehmend spezifische ambulante gynäkopsychiatrische Sprechstunden sowie aufsuchende Dienste etabliert.
Ambulante Behandlung peripartaler psychiatrischer Erkrankungen
Die Gynäkopsychiatrische Sprechstunde des Zentrums für Soziale Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich bietet im Zusammenhang mit peripartalen Erkrankungen Abklärung, Beratung und psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung bei folgenden Indikationen an:
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psychischen Erkrankungen, die während der Schwangerschaft auftreten
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psychischen Erkrankungen, die nach der Geburt auftreten
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Kinderwunsch bei psychisch (vor-)erkrankten Frauen inkl. Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit (präkonzeptionelle Beratung)
Darüber hinaus werden Themen wie Schwangerschaftsambivalenz, traumatisches Geburtserleben, Fehl- und Totgeburten, Überforderung in der Mutterrolle und unerfüllter Kinderwunsch psychotherapeutisch bearbeitet.
Fallbeispiel postpartale Depression
Die Behandlung einer Patientin mit postpartaler Depression soll anhand des folgenden Fallbeispiels exemplarisch veranschaulicht werden.
Frau K. stellte sich einige Wochen nach der Geburt ihres zweiten Sohnes mit starken Ängsten und depressiven Symptomen vor. Aus der Vorgeschichte war bekannt, dass die Patientin bereits zwei Jahre zuvor nach der Geburt ihres ersten Sohnes eine postpartale Depression entwickelt hatte, die damals zu einer mehrwöchigen stationären Mutter-Kind-Behandlung geführt hatte. Ihr Wunsch war es, einen erneuten stationären Aufenthalt zu vermeiden.
Diagnostisch ordneten wir die Symptomatik gemäss Anamnese, Befund und Testdiagnostik (Edinburgh-Postnatal-Depressions-Skala, Hamilton-Depressionsskala und Beck-Depressions-Inventar) als mittelgradige Episode einer rezidivierenden depressiven Störung ICD-10 F33.1 ein. Eine komorbide Panikstörung ICD-10 F41.0 wurde anhand der Symptomatik ebenfalls diagnostiziert.
Es wurde eine wöchentliche ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung im Rahmen der Sprechstunde etabliert. Medikamentös wurde nach eingehender individueller Risiko-Nutzen-Abwägung in Absprache mit dem behandelnden Pädiater eine antidepressive Medikation mit Sertralin in initialer Dosis von 50mg, bei unzureichendem Ansprechen im Verlauf in einer Dosis von 100mg verordnet («off-label use» während der bestehenden Stillzeit). Sertralin geht zwar in die Muttermilch über, ist aber im Blut des gestillten Kindes nur in sehr geringen Konzentrationen oder gar nicht nachweisbar. Aufgrund der späteren Notwendigkeit der zusätzlichen Einnahme eines schlaffördernden Medikamentes erfolgte das Abstillen in Zusammenarbeit und mit Unterstützung der betreuenden Hebamme. Zur Entlastung im Alltag wurde eine Spitex verordnet und ein Kinderbetreuungsdienst organisiert.
Psychotherapeutisch erfolgte eine eingehende Psychoedukation betreffend die Erkrankungen, zentral waren hierbei der Umgang mit Ängsten und die Schlafhygiene. Vor dem Hintergrund eines hohen Verantwortungs- und Pflichtbewusstseins sowie Schuldgefühlen gegenüber den Kindern war es wesentlich, zu lernen, Unterstützung zu suchen und anzunehmen. Im weiteren Therapieverlauf wurden die eigenen Rollenansprüche und die Anpassung an die veränderte Lebenssituation reflektiert. Die Einzelsitzungen erfolgten vielfach in Anwesenheit des Säuglings, was eine detaillierte Beobachtung der Mutter-Kind-Interaktion erlaubte. Mehrfach wurde der Partner der Patientin im Rahmen von Paargesprächen einbezogen. Neben der Aufklärung über die Erkrankung und Behandlung der Patientin konnte so gemeinsam erarbeitet werden, welche Unterstützung er konkret im Alltag leisten kann, gleichzeitig wurde er für Hinweise auf mögliche eigene Belastungen und Überforderungen sensibilisiert. Auch bestehende partnerschaftliche Differenzen und Kommunikationsschwierigkeiten konnten ausführlich thematisiert werden.
Im Verlauf der Therapie zeigte sich graduell bei der Patientin schliesslich eine Abnahme der Ängste, eine Verbesserung der Schlafqualität und eine Stabilisierung der Stimmungslage. In der Folge konnte sie sich intensiver ihren Kindern zuwenden, die Zeit mit ihnen mehr geniessen und Vertrauen in ihre mütterlichen Kompetenzen gewinnen. Nach rund sechs Monaten konnte die Psychopharmakotherapie spiegelgesteuert auf eine niedrige Erhaltungsdosis reduziert werden. Auch die externe Unterstützung wurde letztlich problemlos «ausgeschlichen».
Vernetzung und Interdisziplinarität
Wie das Fallbeispiel illustriert, ist bei der Behandlung von Frauen bzw. Paaren mit peripartalen psychiatrischen Erkrankungen eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit von grosser Bedeutung. Ein kontinuierlicher Kontakt und Informationsaustausch mit allen involvierten Fachpersonen wie Gynäkolog:innen, Frauen- und Geburtskliniken, Pädiater:innen, Hausärzt:innen, Hebammen, Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen, Spitex, Familienbegleiter:innen, Mütter- und Väterberater:innen etc. sollte im Behandlungsverlauf aktiv gepflegt werden. Darüber hinaus ist der Einbezug des Partners oder der Partnerin und des erweiterten sozialen Unterstützungsnetzes von zentraler Bedeutung.
Fazit
Eine spezifische gynäkopsychiatrische Behandlung sollte den betroffenen Frauen einen möglichst niederschwelligen Zugang ermöglichen, mit frühzeitigem Therapiebeginn. Beratung und Therapie sollten individuell unter Berücksichtigung der persönlichen Krankheitsgeschichte, der aktuellen psychiatrischen sowie der psychosozialen Situation der betroffenen Frau bzw. der Familie gestaltet werden. Da insbesondere die Zeit unmittelbar nach der Geburt als vulnerabel gilt, die Erreichbarkeit von Hilfsangeboten dann aber durch die eingeschränkte Mobilität von Mutter und Kind erschwert sein kann, sollten in den ersten Wochen postpartum auch telemedizinische Angebote genutzt bzw. bei Bedarf aufsuchende Angebote (Spitex, Home Treatment) etabliert werden. Psychotherapeutisch sollte der Fokus auch auf die Bindungskompetenz der betroffenen Frau und ihre Transformation in die Mutterrolle gelegt werden. Die Aufklärung und Einbeziehung des Partners oder der Partnerin und des sozialen Umfeldes sind von zentraler Bedeutung. Bei der Behandlung peripartaler psychiatrischer Erkrankungen ist ein interdisziplinärer Ansatz mit einer guten Vernetzung des gesamten professionellen Hilfesystems anzustreben.
Literatur:
1 Anke Rohde, Almut Dorn: Gynäkologische Psychosomatik und Gynäkopsychiatrie, das Lehrbuch. Schattauer, 2007 2 Bundesamt für Statistik 2023. http://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/geburten-todesfaelle/geburten.html 3 Berger A et al.: Perinatal mental disorders in Switzerland: prevalence estimates and use of mental-health services. Swiss Med Wkly 2017; 147: w14417 4 O’Hara MW, McCabe JE: Postpartum depression: current status and future directions. Annu Rev Clin Psychol 2013; 9: 379-407 5 Dennis CL et al.: Prevalence of antenatal and postnatal anxiety: systematic review and meta-analysis. Br J Psychiatry 2017; 210(5): 315-23 6 Fairbrother N et al.: High prevalence and incidence of obsessive-compulsive disorder among women across pregnancy and the postpartum. J Clin Psychiatry 2021; 82(2): 20m13398 7 Heyne CS et al.: Prevalence and risk factors of birth-related posttraumatic stress among parents: A comparative systematic review and meta-analysis. Clin Psychol Rev 2022; 94: 102157 8 VanderKruik R et al.: The global prevalence of postpartum psychosis: A systematic review. BMC Psychiatry 2017; 17(1): 272 9 Jones I et al.: Bipolar disorder, affective psychosis, and schizophrenia in pregnancy and the post-partum period. Lancet 384(9956): 1789-99 10 Rao WW et al.: Prevalence of prenatal and postpartum depression in fathers: A comprehensive meta-analysis of observational surveys. J Affect Disord 2020; 263: 491-9 11 He YH et al.: Common mental disorders and risk of spontaneous abortion or recurrent spontaneous abortion: A two-sample Mendelian randomization study. J Affect Disord 2024; 354: 258-66 12 Orsolini L et al.: Suicide during perinatal period: epidemiology, risk factors, and clinical correlates. Front Psychiatry 2016; 7: 138 13 Ding XX et al.: Maternal anxiety during pregnancy and adverse birth outcomes: a systematic review and meta-analysis of prospective cohort studies. J Affect Disord 2014; 159: 103-10 14 Stein A et al.: Effects of perinatal mental disorders on the fetus and child. Lancet 2014; 384(9956): 1800-19 15 Jarde A et al.: Neonatal outcomes in women with untreated antenatal depression compared with women without depression: a systematic review and meta-analysis. JAMA Psychiatry 2016; 73(8): 826-37
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