
„Alle Menschen sind verzaubertes Essen“
Autorin:
Dr. Jolana Wagner-Skacel
Universitätsklinik für Medizinische Psychologie LKH Univ.-Klinikum Graz
Wie wir uns ernähren, gewinnt immer mehr an Bedeutung, nicht nur in medizinischer und sozialpolitischer Hinsicht, sondern insbesondere auch in Bezug auf unsere Identität. Mensch sein bedeutet, vom Baum der Erkenntnis gekostet zu haben. Essen birgt eine antidepressive Haltung in sich, ein essendes Subjekt bejaht die Welt, indem es sie in sich aufnimmt. Wir wollen in diesem Beitrag sowohl philosophische als auch psychodynamische, interpersonelle, humanistische und verhaltenstherapeutische Aspekte von „Nutritional Psychiatry“- Ernährungsmedizin in der Psychiatrie erläutern.
Keypoints
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Nahrung ist die Grundlage für die verkörperte Subjektivität des Menschen.
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Geschmackspräferenzen bilden einen individuellen Zugang zur wahrgenommenen Welt.
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Essen kann psychotherapeutisch als Bejahung der Welt gesehen werden.
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Nutritional Psychiatry soll als basaler Bestandteil eines zirkulären biopsychosozialen Modells in die Behandlung von psychischen Krankheiten aufgenommen werden.
Der Mensch ist, was er isst
Im klassischen Feuerbach’schen Sinne ist der Mensch, was er isst. Seine Kritik galt allerdings damals der traditionellen platonisch-christlichen Überhöhung der Seele gegenüber dem Körper, die zu einem dualistischen Körperbild geführt hat. Feuerbach wehrte sich gegen die rationalistische Vorstellung, wonach sich die menschliche Wirklichkeit allein im Geiste abspiele. Er kommt zu dem Schluss: „Der Leib ist die Existenz des Menschen, den Leib nehmen heißt die Existenz nehmen.“ Diese dualistische Haltung der Aufklärung wird für den zeitgenössischen Menschen kaum mehr von Bedeutung sein, denn die biopsychosoziale Medizin hat nicht nur durch die Psychosomatik Einzug in unsere Haltung genommen, sondern auch durch zeitgenössische soziokulturelle Strömungen, in denen der Mensch aus mehreren Perspektiven betrachtet wird. Die dem Menschen mögliche Selbstdistanzierung hebt sein verkörpertes „In-der-Welt-Sein“ nicht auf. Wir bewohnen unseren Körper und durch ihn die Welt. Insbesondere durch Merleau-Ponty ist diese grundlegende Beziehung zur Welt als leibliche Subjektivität durch das Medium des Leibes aufgefasst worden. Alles bewusste Erleben ist nicht nur an den physiologischen Körper als seine biologische Basis gebunden, sondern auch an den subjektiven Leib. Der Leib ist der Ort eines basalen Lebensgefühls, der Vitalität, des Behagens und Unbehagens, der Müdigkeit, des Hungers, er ist der Resonanzraum für Stimmungen und Gefühle, zugleich aber auch das Zentrum unserer Wahrnehmungen, Handlungen und Gedanken. Selbst wenn sich unsere Gedanken frei durch Raum und Zeit bewegen können, sind sie an leibliches Selbstempfinden gebunden. Unsere Denkweisen sind auch soziokulturell mit ethischen Fragen, der Selbstfürsorge und spirituellen Dimensionen verwoben. Die individuelle Ernährungsweise ist mittlerweile Ausdruck unserer persönlichen ethischen, medizinischen Vorstellung und darüber hinaus ein individuelles Selbstverständnis.
Besonders im Veganismus ist die Essenswahl ein politisches und systemkritisches Statement geworden. Das Verhältnis der Ernährung zur Identität ist aus entwicklungspsychologischer Sicht zu verstehen.
Ursprung unserer Wahrnehmung
Nicht nur die Verwurzelung der Nahrungsaufnahme in der evolutionsbiologischen triebhaften Natur ist ausschlaggebend für den „Hunger auf die Welt“, sondern auch die von frühen Bezugspersonen aufgenommene und übernommene Wahrnehmung der Welt. Was uns schmeckt, wovor es uns ekelt, all dies ist fundamental für unseren Zugang zur wahrgenommenen Welt. Die frühe Entscheidung „Was nehme ich in mir auf, was will ich ausspucken?“ ist die Grundlage der Entscheidung für unser späteres „Das mag ich“ und „Das mag ich nicht“. Freud zufolge wird aus dem ursprünglich kindlichen Lust-Ich ein erwachsenes Real-Ich mit einer beständigen Realitätsprüfung, die auch noch zusätzlich einem Ideal-Ich oder Ich-Ideal unterliegt. Dieses entscheidet: „Das will ich essen.“ Symbolisch handelt es sich dann nicht mehr nur um die Vorstellung, ob etwas Wahrgenommenes ins Ich aufgenommen wird, sondern ob etwas im Ich als Vorstellung Vorhandenes auch in der Wahrnehmung wiedergefunden wird.
Essen als Bejahung der Welt
Wir treten mit der Welt in Kontakt, wenn wir diese in uns aufnehmen. Ein essender Mensch bejaht durch die Nahrungsaufnahme die Welt, die ihn umgibt. Unser essendes Dasein zeigt uns die Verbindung, die Fluidität, die fließenden Übergänge zwischen den materiellen Dingen, den Teilen der Welt und unseren körperlichen zellulären Vorgängen bis zu unseren Gedanken. Wir sind hergestellt aus Teilen der Welt, die wir aufgenommen und verwandelt haben.
Eine Umkehr dieser Bejahung sehen wir, wenn wir mit psychisch kranken Menschen bezogen auf ihre Ernährung arbeiten. Sie äußert sich entweder durch ein wahlloses Essen oder durch eine ausgeprägte Appetitlosigkeit.
Das Wesen der Melancholie und der Trauer ist der Verlust. Freud beschreibt die Trauer als Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Freiheit, Ideal, Vorstellung etc. Depression wird somit als schmerzliche Verstimmung mit der Aufhebung des Interesses an der Außenwelt gesehen. Diese Außenwelt wird somit nicht mehr in uns aufgenommen und damit nicht mehr bejaht. Der Verlust der Liebesfähigkeit und Arbeitsfähigkeit führt gemeinsam mit einer Hemmung und Herabsetzung des Selbstgefühls zu einer Ich-Verarmung.
Essen als Antidepressivum
Das In-sich-Aufnehmen eines Objektes verändert das Verhältnis zu sich selbst und somit zum Selbstwertgefühl. Die Störung des Selbstwertgefühls erfährt durch das achtsame In-sich-Aufnehmen von Nahrung, von Teilen der Welt, eine schrittweise Veränderung der Haltung zu sich selber. Wir sind ganz wesentlich daran gebunden, für wen oder was wir uns halten, und verändern uns im Lichte der Bilder, die wir uns von uns selbst machen. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Haltung einiger psychotherapeutischer Schulen zum Thema Ernährung. Kognitive pessimistische Grundkonzepte können durch Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in Bezug auf sich selbst über Ernährung verändert werden. Diese neu zu erlernende veränderte Zuwendung sich selbst gegenüber wird zu einer Therapie durch eine schrittweise kognitive Korrektur. Die Selbstwirksamkeit tritt in den Vordergrund und bildet somit einen wichtigen Kontrapunkt zur erlernten Hilflosigkeit.
Durch neue subjektive Erfahrungen lassen sich auch die ungünstigen Wahrnehmungen und Reaktionsmuster verändern. Therapeutisch ist es somit das Ziel, PatientInnen zu Selbsterkenntnis und Selbstkongruenz zu verhelfen und an ihre Freiheit und Verantwortung für ihr Leben zu appellieren. Dabei geht es nicht um bloße Symptomreduktion, sondern um die Entwicklung der Person in der Auseinandersetzung mit der Erkrankung. Diese gelingt durch die schrittweise somatopsychische oder psychosomatische Annäherung an die zirkulären biopsychosoziale Subjektivität.
Die neurophysiologischen Veränderungen gewinnen erst ätiologische Bedeutung, wenn sie in die übergreifenden zirkulären Prozesse des Organismus-Umwelt-Systems mit den wichtigen interpersonellen Beziehungen eingebettet sind. Die integrale Betrachtung psychischer Krankheiten als Beziehungsstörungen ist die Voraussetzung für ihre Behandlung und somit auch ein wichtiger Grundsatz in Nutritional Psychiatry. Der Komplexität der Prozesse entspricht keine bloße Summation von Ansätzen, sondern eine polyperspektivische Sichtweise. Dabei ist es besonders wichtig, somato- und psychotherapeutische Ansätze im Sinne einer zirkulären Kausalität zusammenwirken zu lassen.
Beim neuen Bauchgefühl geht es um Ethik und um Selbstfürsorge. Durch die Veränderung des Verhältnisses zu sich selbst und zu übergeordneten Werten entwickeln die Patienten neue Haltungen, die therapeutisch wirksam sind. Ein Hunger auf die Welt hat nicht nur tief in uns verwurzelte entwicklungspsychologische Aspekte, sondern kann auch als Ursprung unserer Wahrnehmung und unseres Denkens aufgefasst werden. Durch zirkuläre Kausalität wird aus einzelnen Elementen ein Ganzes, welches wiederum auf die Einzelteile wirkt. Durch die Aufnahme von Nahrungsbestandteilen werden nicht nur Formen und Funktionen unserer Botenstoffe und Zellvorgänge mitbestimmt, sondern auch unsere Haltung zu uns selbst mit unseren Kognitionen, Bildern und Vorstellungen von uns selbst wird verändert.
Literatur:
• Demmel R: Motivational interviewing. In Psychologie in der medizinischen Rehabilitation; pp. 105-13. Heidelberg, Berlin: Springer, 2016 • Dreyfus HL: The current relevance of Merleau-Ponty’s phenomenology of embodiment. The Electronic Journal of Analytic Philosophy 1996; 4(4): 1-16 • Engels F: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. BoD–Books on Demand. 2013 • Freud S. (1917). Trauer und Melancholie – Mourning and Melancholia. • Freud, S. (1975). Die Verneinung (1925). Psychologie des Unbewußten; 371-7. • Fuchs T: The phenomenology of body memory. Body memory, metaphor and movement 2012; 84: 9-22 • Fuchs T: Phenomenology and psychopathology. In: Handbook of phenomenology and cognitive science; pp. 546-73. Dordrecht: Springer, 2010 • Fuchs T: Ecology of the brain: The phenomenology and biology of the embodied mind. Oxford University Press, 2017 • Martin S et al.: Kognitive Verhaltenstherapie bei Typ-2-Diabetes: Ergebnisse einer Pilotstudie mit dem strukturierten Programm Da Vinci Diabetes®. Diabetologie und Stoffwechsel 2009; 4(06): 370-3 • Michal M et al.: Psychodynamische Psychotherapie, Lebensstil und Prävention. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 2014; 60(4): 350-67 • Mentzos S: Depression und Manie: Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen. Vandenhoeck & Ruprecht, 2011 • Newmark C: Die Kraft in allem. Philosophie Magazin, Sonderausgabe 2015; 5: 36-7 • Newmark C: From moving the soul to moving into the soul: on interiorization in the philosophy of the passions. Rethinking emotion: Interiority and exteriority in premodern, modern, and contemporary thought 2014; 21-35 • Selvini MP: Die Bildung des Körperbewußtseins: Die Ernährung des Kindes als Lernprozeß. Psychotherapy and Psychosomatics 1967; 293-312
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