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Der Thoraxschmerz aus Sicht der Osteopathie
Jatros
Autor:
Dr. Reinhard Waldmann
Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation KH Barmherzige Schwestern, Linz
30
Min. Lesezeit
14.07.2016
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<p class="article-intro">Osteopathische Medizin ergänzt und erweitert das etablierte Medizinsystem im Kontext einer integrierten Patientenversorgung, die sowohl evidenzbasiert als auch patientenzentriert arbeitet. Sie beinhaltet insbesondere eine umfassende manuelle Untersuchung, Diagnostik, Therapie und Prävention von Funktionsstörungen – somatischen Dysfunktionen – im muskuloskelettalen System (parietal), den viszeralen Organen (viszeral) und dem peripheren und zentralen Nervensystem (kraniosakral). </p>
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<p class="article-content"><h2>Interdisziplinäres Netzwerk</h2> <p>Im Verständnis ganzheitlicher Schmerz­medizin ist es unabdingbar, den Thoraxschmerz im interdisziplinären Netzwerk in enger Abstimmung mit Fachkollegen aus den Gebieten innere Medizin/Kardiologie, Pulmologie, Allgemeinmedizin, Neurologie, Rheumatologie und bei Bedarf auch Herz-/Thoraxchirurgie und Wirbelsäulenchirurgie zu diagnostizieren und zu behandeln. Gerade im niedergelassenen Bereich bedarf es des Aufbaus eines suffizienten Facharztnetzwerkes, um für größtmögliche Patientenzufriedenheit und Patientensicherheit zu sorgen.</p> <h2>Grundlagen</h2> <p>In den Hinterhorn-Laminae des Rückenmarkes kommt es bei Afferenzen aus der Peripherie (C-Fasern, A-beta- und A-delta-Fasern) zu einer Konvergenz von Neuronen aus verschiedenen Organen sowie aus mehreren Rückenmarksegmenten. Hierbei spielen sog. „Wide dynamic range“(WDR)-Neurone eine wesentliche Rolle. Durch räumliche und zeitliche Summation kann es zudem zu einer verstärkten afferenten Weiterleitung im ZNS kommen (EPSP – exzitatorische postsynaptische Potenziale). Weiters kommt es auch zu einer Verschaltung auf efferente Fasern (Alpha-Motoneurone und autonom sympathische Neurone). Diese führen zu typischen Gewebsveränderungen, welche in der osteopathischen Medizin als somatische Dysfunktion beschrieben werden: TART („Tissue texture change – asymmetry – restriction – tenderness“). <br />Beim Thoraxschmerz spielen diese afferent-efferenten Regelkreise viszerosomatisch und somatoviszeral eine wesentliche Rolle. So kann es z.B. durch eine längerfristige Pathologie am Herzen zu einem segmentalen Hypertonus der tiefen kurzen WS-Muskulatur und Dysfunktion des 2.–4. BWK kommen. Dieses Phänomen wird „Fazilitation“ genannt und dient in der Osteopathie zur Diagnostik und Behandlung von Dysfunktionen. <br />In der Diagnostik ist es von Bedeutung, kardiale und vertebragene Erkrankungen, ggf. durch interdisziplinäre Zusammenarbeit, zu erkennen und zu bewerten, um inadäquate invasive Diagnostik oder insuffiziente manuelle Behandlung zu vermeiden.</p> <h2>Thoraxschmerz</h2> <p>In der physikalisch-osteopathischen Facharztpraxis werden Patienten meist mit subakutem bis chronischem Thoraxschmerz vorstellig, akute Symptomatiken sind die Ausnahme. <br />Die von den Patienten geäußerten Beschwerden reichen von einem stechenden über ziehenden, brennenden bis drückenden Schmerz, welcher dauerhaft oder nur gelegentlich auftritt und teilweise bewegungs- oder atemabhängig ist. Der Schmerz ist im Bereich des Sternums, der Synchondrose der Rippen, entlang der Rippen sowie der Rippenzwischenräume und der BWS lokalisiert. Begleitsymptomatiken wie Unwohlsein, vermehrtes Schwitzen, Blutdruckerhöhung, erhöhter Ruhepuls und Atemnot werden häufig geäußert.</p> <h2>Diagnostik</h2> <p>Zu unterscheiden ist, ob der Patient beim ärztlichen Osteopathen primär zur Vorstellung kommt oder ob er von einem Kollegen, z.B. vom Kardiologen, überwiesen wurde. <br />Bei Überweisung sollten zuerst sämtliche vorliegenden medizinischen Befunde gesichtet werden. Eventuell wurde bereits im Vorfeld mit dem Fachkollegen Kontakt aufgenommen und der Fall interdisziplinär erörtert. In diesem Fall kann gleich mit der osteopathischen Diagnostik einschließlich einer ausführlichen Schmerzanamnese begonnen werden. Kommt der Patient jedoch ohne vorhergehende fachärztliche Abklärung, so richtet sich die Anamnese zuerst auf Symptomatiken des Herzens, der Gefäße und der Lunge sowie auf Medikamenten- und Familienanamnese. Daran schließt sich eine orientierende Untersuchung des Herzens, der Gefäße und der Lunge sowie ein 12-Kanal-Ruhe-EKG. Sollten hierbei Auffälligkeiten bestehen, wird der Patient zum entsprechenden Facharztkollegen oder Allgemeinmediziner zur weiteren Abklärung überwiesen. <br />Bei unauffälligem Befund erfolgt nun eine Untersuchung der gesamten Wirbelsäule und der Extremitäten. Hier ist insbesondere auf Fehlhaltungen, Bewegungseinschränkungen und Angabe von Schmerz zu achten. In Bezug auf den Bewegungsapparat sollten insbesondere Hinweise auf Wirbelkörpereinbrüche, rheumatische Erkrankungen, ossäre Metastasierungen oder Primärtumoren genauestens erfasst werden. Anschließend erfolgt noch eine neurologische Untersuchung, v.a. gilt es, eine Myelopathie oder radikuläre Symptomatiken thorakal auszuschließen. <br />Wenn dieser „allgemeine“ Teil der Untersuchung abgeschlossen ist, erfolgt eine ausführliche manuelle osteopathische Diagnostik von somatischen Dysfunktionen nach den TART-Kriterien an der Brustwirbelsäule („Blockierungen“), den Kostotransversalgelenken (CTG), dem Sternum mit den Synchondrosen, der Interkostalmuskulatur und der Rückenmuskulatur. Danach erfolgt die viszeral-osteopathische Untersuchung (nach denselben Kriterien wie parietal-thorakal) von Herz, Lunge, Mediastinum, Zwerchfell, Magen, Leber und ggf. auch Nieren, Dünn- und Dickdarm. <br />Die gesamten erhobenen Befunde ergeben nun in Zusammenschau mit der Anamnese ein Bild der Schmerzursache. Die Diagnostik wird in den meisten Fällen durch ein konventionelles Röntgen der BWS in 2 Ebenen im Stehen ergänzt. Eine weiterführende Bildgebung mittels CT/MRT ist nur in Ausnahmefällen bei konkretem Verdacht auf intraossäre oder neurologische Symptomatiken notwendig. Gegebenenfalls erfolgt auch eine Blutabnahme. <br />Osteopathisch finden sich häufig Hypomobilitäten TH2–4 in Steilstellung und eine verminderte Kyphose mit CTG-Dysfunktionen der entsprechenden Rippen auf der schmerzdominanten Seite. Dabei kommt es auch meist zu einem Druckschmerz an der zugehörigen Synchondrose. Sind Dysfunktionen Th4–6 zu finden, zeigen sich auch fast immer schmerzhafte viszerale Dysfunktionen in Epigastrium/Magen/Leber. Bei Patienten nach kardialen/mediastinalen Operationen kann eine erhöhte Spannung der mediastinalen Strukturen diagnostiziert werden und ggf. dabei der Schmerz unmittelbar ausgelöst werden. <br />Auch auf Veränderungen der Haut (Schwitzen, Unreinheit) wird genauestens geachtet. Entsprechende Reflexzonen nach Jarricot geben Hinweise auf Störungen innerer Organe, ebenso Chapman-Reflexpunkte, welche thorakal-ventral, nahe am Sternum in den Interkostalräumen, aufgefunden werden. <br />Abschließend werden die erhobenen Befunde mit dem Patienten ausführlich besprochen und das weitere Behandlungsregime wird festgelegt. In Summe sind für die gesamte Diagnostik min­des­tens 45 Minuten einzuplanen. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Pneumo_1603_Weblinks_Seite32.jpg" alt="" width="687" height="966" /></p> <h2>Osteopathische Therapie</h2> <p>Der Umfang und die Häufigkeit der Behandlung richten sich nach der Schwere der Befunde, der Dauer der Symptomatik und dem individuellen Ansprechen des Patienten auf die Behandlung. Erfahrungsgemäß sind 3 Behandlungen à 45 Minuten im Abstand von 1 Woche und 3 weitere Behandlungen alle 3–4 Wochen sinnvoll. Zudem erhält der Patient ein individuelles Eigenübungsprogramm, v.a. zur Mobilisation der BWS, sowie eine Anleitung zur adäquaten WS-Haltung. Bei Bedarf werden physikalische Therapien, wie z.B. myofasziale Stoßwelle, Elektrotherapie, Wärmeanwendungen sowie Neuraltherapie o.Ä., verordnet. <br />Die osteopathische Medizin bietet eine Vielzahl an verschiedenen Behandlungstechniken, von manipulativer HVLA („high velocity low amplitude“) über MFR („myofascial release“), MET (Muskelenergietechniken), BLT („balanced ligamentous tension“) bis zu sanften Techniken im Viscerum, den Gefäßen und Nerven. Eine umfangreiche Ausbildung ermöglicht es dem Osteopathen, die einzelnen Techniken dem Patienten anzupassen und ein bestmögliches Behandlungsergebnis zu erzielen. <br />Die Erfahrung hat gezeigt, dass eine rasche Besserung bei primärer Behandlung der BWS mit myofaszialen und manipulativen Techniken zu erzielen ist. Anschließend werden die CTG behandelt. Weiters erfolgt die Behandlung dysfunktioneller innerer Organe und des Zwerchfells. Abschließend werden noch detonisierende myofasziale Techniken und Techniken zur Behandlung des thorakalen Sympathikus angewendet. Bei sehr irritierbaren, schmerzgeplagten Patienten muss in den ersten Sitzungen oft auf manipulative Techniken gänzlich verzichtet werden. <br />Dieser Behandlungsablauf hat sich in den letzten Jahren bei vielen Thoraxschmerzpatienten bewährt. Der Behandlungsablauf und die verwendeten Techniken unterscheiden sich jedoch von Therapeut zu Therapeut entsprechend der individuellen Ausbildung und Erfahrung. Wichtig ist, dass der Patient ein adä­qua­tes Eigenübungsprogramm selbstständig langfristig durchführt, um Rezidive zu vermeiden. <br />Eine regelmäßige, dauerhafte Behandlung über einen längeren Zeitraum ist nur in Ausnahmefällen notwendig. Eine „Abhängigkeit“ des Patienten von „seinem“ Osteopathen ist unbedingt zu vermeiden. Osteopathische Behandlungsserien im Intervall, nach entsprechenden Pausen der Behandlung mit Eigenmanagement durch den Patienten, sind bei chronischen Beschwerden einer regelmäßigen Dauerbehandlung vorzuziehen.</p></p>
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