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Genitalchirurgie – prägt ärztliche Haltung Normen?
Jatros
Autor:
Dr.<sup>in</sup> Elia Bragagna
Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychosomatik<br> Psycho- und Sexualtherapeutin<br> 1190 Wien
30
Min. Lesezeit
22.03.2018
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<p class="article-intro">Frauen haben viele Gründe, warum sie intimchirurgische Maßnahmen in Anspruch nehmen. Funktionelle Gründe haben laut einer im Jahr 2016 durchgeführten Befragung Schweizer Gynäkologen und plastischer Chirurgen immer weniger Bedeutung, der Stellenwert ästhetischer Gründe nimmt zu, psychische Gründe scheinen auf einem niedrigen Niveau zu bleiben.<sup>1</sup> Ästhetische Normen unterliegen aber einem Wandel.</p>
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<p class="article-content"><p>Die Genitalregion galt lange Zeit als Tabuzone und blieb so von ästhetischen Ansprüchen verschont. Das hat sich mit leicht zugänglichen Informationen im Internet vollkommen verändert. Intimität und ihre Normen sind ein öffentliches Gut geworden. Schönheitsnormen gelten auch hier, ein Abweichen davon verunsichert verständlicherweise. Ärzte scheinen bei verunsicherten Betroffenen einen wichtigen Stellenwert als Korrekturfaktor einzunehmen. In einer 2016 durchgeführten Studie gaben 97 % der befragten Allgemeinmediziner an, von Frauen gefragt worden zu sein, was denn im „Genitalbereich normal sei“. 35 % der Ratsuchenden waren jünger als 18 Jahre alt.<sup>2</sup> Allgemeinmediziner gelten für 39 % der Frauen als Ansprechpartner für intime Fragen, für 47 % sind es die Gynäkologen.<sup>3</sup></p> <h2>Sind sich Gynäkologen und plastische Chirurgen einig, was „normal“ ist?</h2> <p>Während die einen finden, dass es sich bei Labien von 5cm oder mehr um eine Labienhypertrophie handelt,<sup>4</sup> finden andere „nicht die Maße der Labia minora für eine Operation ausschlaggebend, sondern den Leidensdruck; allerdings sollte 1cm nicht unterschritten werden“.<sup>5</sup> Was für eine Bandbreite! Wenn Frauen vermessen werden, die sich als „ normal“ definieren, welches Spektrum zeigt sich dann? Eine im Jahr 2005 in London durchgeführte Vermessung weiblicher Genitalien zeigte folgendes Spektrum:<sup>6</sup></p> <ul> <li>Länge der Klitoris: 5–35mm</li> <li>Breite der Klitoris: 3–10mm</li> <li>Länge der Labia minora: 20–100mm</li> <li>Breite der Labia minora: 7–50mm</li> <li>Länge der Labia majora: 70–120mm</li> <li>Länge der Vagina: 65–125mm</li> </ul> <p>Es zeigt sich also, dass Ärzte keine engen Vorgaben haben. Daher wäre es wichtig, die angegebenen Motive der Patientinnen zu hinterfragen. Was bewegt sie, den Ärzten diese Frage nach der Norm zu stellen? Bei diesem Dialog sollten sich Ärzte/Operateure ihrer pathologisierenden Sprache bewusst sein, appellierte bereits im Jahr 2010 Braun<sup>7</sup> in ihrem Artikel zur genitalen Schönheitschirurgie: Durch Definition eines Organs als pathologisch (nicht normal) erschiene nur die operative Anpassung als therapeutisch, Chirurgen brächten kulturell geprägte persönliche Meinungen und Vorlieben in ihre Berufsausübung, ohne die Spannbreite der Normalität zu berücksichtigen.<sup>7</sup> Diesen Eindruck bestätigen leider sehr viele Webseiten genitalchirurgisch tätiger Kollegen.<br /> Die Akzeptanz des eigenen Körpers in seiner Einmaligkeit bedarf einer ungestörten (psychosexuellen) Entwicklung. Gerade die Integration des sich verändernden Körperbildes in der Pubertät stellt eine große Herausforderung für Jugendliche dar. Der/die Jugendliche muss sich vom kindlichen Erscheinungsbild seines Genitale verabschieden und ein ihm fremdes annehmen. Die Genitalien haben nun eine ganz andere Funktion, nämlich eine sexuelle Lockfunktion, und die unterliegt nicht ästhetischen Normvorgaben. Es bedarf deswegen eines sehr achtsamen Umganges mit diesem Thema, nicht nur von den Eltern und den Medien, sondern auch von uns Ärzten. Je besser während dieser Phase die Integration des sich entwickelnden Erwachsenenkörpers in das bestehende Körperbild gelingt, desto größer ist die Akzeptanz des neuen Erscheinungsbildes und desto unwahrscheinlicher ist es, dass ästhetische Gründe der Anlass für operative Eingriffe sind. Unsicherheiten, die in dieser vulnerablen Phase entstanden sind, sollten daher durch sexualpädagogische und -therapeutische Begleitung ausgeglichen werden, denn sie haben zusätzlich negative Auswirkungen auf die Sexualität. Aus sexualmedizinischer Sicht ist neben den operativen Fertigkeiten auch eine achtsame ärztliche Haltung im Umgang mit Maßnahmen, die das Körperbild verändern, enorm wichtig. Jeder Eingriff im Genitalbereich sollte auf fundiertem sexualmedizinischem Wissen basieren.</p> <h2>Beispiele des sexualmedizinischen Zuganges</h2> <ul> <li>Wurde die Patientin, die Schmerzen beim Geschlechtsverkehr aufgrund von Labienhypertrophie angibt, gefragt, ob sie vor der Penetration so erregt ist, dass sich ihre Labien (durch die zunehmende Vasokongestion) entfalten und auseinanderweichen?</li> <li>Wurde die sexuelle Entwicklung der jungen Frau mit Schamgefühl wegen ihrer hervortretenden Labia minora erhoben? Ist eine körperliche/sexuelle Nachreifung angebracht?</li> <li>Wurde bei der Frau mit geringer vaginaler Empfindung eine sexualmedizinische Mikroanamnese erhoben, um zu erfahren, ob sie eine optimale Vasokongestion der kavernösen Strukturen und damit den Aufbau der orgastischen Manschette erlebt?</li> <li>Wurde bei Frauen mit dem Wunsch nach Vaginalstraffung durch eine genaue Sexualanamnese ihre Sexualität erfragt und vor allem die Sexualfunktion des Mannes? Frauen mit Erregungsstörungen und Männer mit Erektionsstörungen bringen sehr oft dieses Thema auf.</li> <li>Wurde die Patientin mit Wunsch nach einer Hymenrekonstruktion befragt, welche Umstände sie dazu drängen? Soll es das blutige Leintuch der Hochzeitsnacht sein oder die „Unberührtheit“ für den Partner? Beide be- dürfen keiner Hymenrekonstruktion. Dafür gibt es sehr günstige und von der Frau selbst einzuführende Jungfernhäutchen, die künstliches Blut abgeben.</li> <li>Wurden mit der Patientin, die sich beklagt, bei enger Kleidung die Labia minora als störend zu empfinden, andere Therapieoptionen besprochen?</li> <li>Wurde erfragt, ob Frauen die Bandbreite der Genitalnormen kennen, und haben sie gutes Aufklärungsmaterial dazu bekommen?</li> </ul> <h2>Conclusio</h2> <p>Jedes Anliegen der Patientinnen, aber auch die eigenen Lösungsangebote sollten danach hinterfragt werden, ob die angebotene Lösung die bequemste oder die passende ist. Nur Letztere rechtfertigt den operativen Eingriff.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Umbricht-Sprungli RE, Gsell M: Surgical Interventions on the external female genitalia in Switzerland. Geburtshilfe Frauenheilkd 2016; 76: 396-402 <strong>2</strong> Simonis M et al.: Female genital cosmetic surgery: a cross-sectional survey exploring knowledge, attitude and practice of general practitioners. BMJ Open 2016; 6: e013010 <strong>3</strong> Shifren JL et al.: Sexual problems and distress in United States women: prevalence and correlates. Obstet Gynecol 2008; 112: 970-8 <strong>4</strong> Maas SM, Hage JJ: Functional and aesthetic labia minora reduction. Plast Reconstr Surg 2000; 105: 1453-6 <strong>5</strong> Gress S: [Aesthetic and functional corrections of the female genital area]. Gynakol Geburtshilfliche Rundsch 2007; 47: 23-32 <strong>6</strong> Lloyd J et al: Female genital appearance: "normality" unfolds. Bjog 2005; 112: 643-6 <strong>7</strong> Braun V: Female genital cosmetic surgery: a critical review of current knowledge and contemporary debates. J Womens Health (Larchmt) 2010; 19: 1393-407</p>
</div>
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