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Kinder- und Jugendpsychiatrie

«Die Tarife können nicht als der einzige Grund für die Lücken in der Versorgung gesehen werden»

Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung in der Schweiz geriet in den vergangenen Jahren wiederholt in die Kritik. Im Frühjahr hat nun der Bundesrat eine Tarifreform beschlossen und sich des Themas angenommen. Leading Opinions Neurologie & Psychiatrie sprach dazu mit Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch, dem Co-Präsidenten der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) und Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Luzern.

Herr Dr. Bilke-Hentsch, wie äussern sich die Herausforderungen in der Versorgungssituation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Alltag am meisten?

O. Bilke-Hentsch: Klar ist zu sagen, dass in jeder Region die Notfallversorgung bei Suizidalität, schwerer Selbstverletzung und erheblichen psychiatrischen Krisen 24 Stunden täglich und 365 Tage im Jahr gesichert ist. Problematisch sind Fälle, die zügige Diagnostik oder Therapie brauchen, aber kein echter Notfall sind. Hier sehen wir je nach Region drei- bis sechsmonatige Wartezeiten, bei bestimmten spezifischen Störungsbildern wie dem Autismusspektrum sind diese länger.

Ein Problem ist, dass viele Familien und Zuweiser Fälle relativ spät im Verlauf anmelden, in der Hoffnung, eine Intervention zu vermeiden. Es wäre hilfreicher, z.B. Fälle mit Komorbidität frühzeitig anzumelden, sodass die Wartezeit gut genutzt werden kann, um z.B. somatische oder schulpsychologische Vorabklärungen zu machen.

Herausfordernd sind saisonale Schwankungen vor den Zeugnissen, nach den Schulferien, die herbstliche Novemberzeit und teilweise der Mai. Diese erfordern planerische Massnahmen durch gezielten Personaleinsatz. Zeitnahe Interventionen sind ebenso wichtig für Säuglinge und Kleinkinder, da hier scheinbar einfache Kurzinterventionen die familiäre Situation deutlich entspannen. Eine weitere Risikogruppe sind Jugendliche, die durch jahrelangen Cannabis- oder Medienkonsum ihre psychiatrische Erkrankung verschleiern bzw. anfänglich «selbst behandeln».

In der aktuellen Versorgungssituation 2025–2030 sind Kooperation und Vernetzung konsequent interdisziplinär und überkantonal auszubauen. Evidenzbasierten Therapieformen mit grosser und schneller Wirkung ist der Vorzug zu geben. Es findet im Fach ein Umdenken hin zu noch stärkerer Sozialpsychiatrie und Verbindung mit anderen Disziplinen statt. Hierzu trägt sicherlich bei, dass die psychotherapeutische Versorgungslage sich langsam, aber stetig – allerdings je nach Region unterschiedlich – verbessert.

Wo sehen Sie die Ursachen der Probleme in der Versorgungssituation der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Schweiz?

O. Bilke-Hentsch: Grundsätzlich bilden wir in der Schweiz weniger Medizinstudent:innen aus, als wir benötigen. Das ist eine alte Grundsatzentscheidung mit dem Gedanken «Wir decken den Bedarf durch Zuwanderung». Das funktioniert zwar bis zu einem gewissen Grad, aber die Strategie stösst klar an ihre Grenzen.

Zudem stellt sich die Frage: Wer entscheidet sich am Ende des Medizinstudiums überhaupt für eine ärztliche Tätigkeit und dann für Psychiatrie und Psychotherapie? Das ist ein Doppelfacharzt mit zwei Ausbildungen, die parallel laufen und viel Zeit erfordern; man hat in der Ausbildung hohe Weiterbildungskosten und im Medizinstudium selbst lernt man meist zu wenig, was man direkt in der Psychiatrie oder Psychotherapie anwenden kann. Eine reine Steigerung der Studienplatzzahlen würde wenig bewirken, wenn sich nicht auch die anderen Rahmenbedingungen, z.B. der Tarife und Gehälter, ändern.

Wo stösst denn der Zugang, den Bedarf an Psychiater:innen durch Zuwanderung zu decken, an seine Grenzen?

O. Bilke-Hentsch: In der Schweiz haben 40% der Ärzte einen ausländischen Pass. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind es 70%. Wenn ein Kind einem ausländischen Therapeuten erst einmal Selbstverständliches wie das Schulsystem erklären muss, fördert das nicht den therapeutischen Prozess. Man wird keinen Rätoromanisch sprechenden Kinderpsychiater mehr finden, aber der Anspruch sollte sein, dass alle Patient:innen auch sprachlich passende Psychiater:innen haben, denen sie sich anvertrauen können.

Inwiefern unterscheidet sich die Versorgungssituation zwischen Stadt und Land?

O. Bilke-Hentsch: Wir sehen, dass die Bereitschaft, sich in der Peripherie niederzulassen, niedriger ist als in den grossen Zentren. Das ist verständlich, denn die Therapeutin will an einem Ort arbeiten, an dem die Patient:innen leicht zu ihr kommen können und sie Kolleg:innen in der Nähe hat, mit denen sie sich austauschen kann. Aber das verstärkt die Lücken in der Versorgungssituation.

Wie sieht es demografisch bei den hiesigen Psychiater:innen aus?

O. Bilke-Hentsch: Es gibt einen hohen Frauenanteil in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und damit eine hohe Nachfrage nach Teilzeitstellen. Dadurch wird die Weiterbildung länger, weil mit weniger Prozent gestartet wird und später von diesen 80% auf 60% reduziert wird, wenn Familie ein Thema wird. Darüber hinaus sehen wir eine erhebliche Überalterung im Fach. Ein Viertel der arbeitenden Kinderpsychiater:innen sind über 65 und ein weiteres Viertel über 55 Jahre alt. Somit sehen wir eine hohe Pensionierungswelle bis 2035.

Inwiefern hat sich die Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie durch den medizinischen Fortschritt verändert?

O. Bilke-Hentsch: Im Bereich der störungsspezifischen Psychotherapie schaut man mittlerweile ganz genau, was man z.B. bei einer Angststörung oder Zwangsstörung braucht. Die Psychotherapien sind wesentlich spezifischer, schneller und effektiver geworden. In den letzten Jahrzehnten sind hunderte nützliche Manuale entstanden und die Leitlinienentwicklung ist in vollem Gange. Der pharmakologische Fortschritt ist jedoch langsam und die Pharmafirmen investieren leider zu wenig in die Forschung an neuen Psychopharmaka für Kinder und Jugendliche. Oft beschränken sich die Fortschritte auf das Nebenwirkungsprofil, das sich in den letzten Jahren verbessert hat. Hoffnungen ruhen ebenfalls auf transkranieller Magnetstimulation und anderen Verfahren aus diesem Bereich. Was den Einsatz von digitalen Medien angeht, so ist die anfängliche Euphorie der 2010er-Jahre einer wissenschaftlich-kritischen Bewertung gewichen, denn ähnlich wie bei Medikamenten und Psychotherapien sind Compliance und Therapieadhärenz wichtige Themen. Der heute mögliche Methodenmix ist allerdings für viele Patient:innen ein Segen.

Oft werden im Zusammenhang mit der Versorgungssituation in der Psychiatrie auch die Tarife genannt. Wie sehen Sie das Thema Tarife?

O. Bilke-Hentsch: Tarife können nicht als der einzige Grund für die Lücken in der Versorgung gesehen werden. Doch wenn man sich die Löhne und Tarife anschaut, erkennt man, dass diese in psychiatrischen Fächern wesentlich geringer sind als in somatischen Fächern. Das heisst, in den Einkommensstatistiken sind die Kinder- und Jugendpsychiater:innen ganz unten, unter den Psychiater:innen und Pädiater:innen und mit etwas 60% z.B. eines Gastroenterologen oder Orthopäden. Das sind Hard Facts, bei denen ein junger Mediziner oder eine junge Medizinerin sich bei der Berufswahl selbstverständlich überlegt, ob er oder sie diese akzeptieren kann.

Dennoch hat sich der Bundesrat kürzlich genau mit den Tarifen und der Kinder- und Jugendpsychiatrie auseinandergesetzt. Könnten Sie die Vorgänge genauer einordnen?

O. Bilke-Hentsch: Eigentlich ist die konkrete Ausgestaltung der Versorgung kantonale Aufgabe, wobei sich bereits auch Kooperationen kleiner Kantone wie zum Beispiel Obwalden, Nidwalden, Uri, Schwyz und Zug oder in der Ostschweiz ergeben haben. Der Bund sagt normalerweise: «Wir können koordinieren, erfassen, Leitlinien empfehlen, aber die konkrete Umsetzung ist die Sache der Kantone.» Im Falle der Hausarztmedizin und der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat er sich aber explizit eingeschaltet und gesagt, dass die Patient:innenversorgung bessere Tarife braucht. Das ist politisch eine wichtige Botschaft, denn es ist ganz unüblich, dass das Parlament ein einzelnes medizinisches Fach herausnimmt. Entscheidend ist aber, was die Krankenkassen und die Kantone jetzt konkret verantwortlich daraus machen. Wenn keine Verbesserung der Tarife stattfindet, hilft eine parlamentarische Empfehlung nicht viel.

Wie setzt sich die SGKJPP hier für ihre Mitglieder ein?

O. Bilke-Hentsch: Die SGKJPP hat aktuell einen Höchststand an Mitgliedern, darunter sind sowohl niedergelassene Kolleg:innen, die etwa 55% der Mitglieder ausmachen, als auch institutionell tätige. Chefärzt:innen, leitende Ärzte, Oberärzte und Assistent:innen machen 45% der Mitglieder aus. Im letzten Jahr ist es uns gelungen, fast 100 neue jüngere Mitglieder anzuwerben. Es mag auch dazu beigetragen haben, dass sich die Weiterbildungszeit unseres Doppelfacharztes jetzt auch auf fünf Jahre wie in anderen Ländern verkürzen liess. Niederlassungswilligen Kolleg:innen empfiehlt die SGKJPP, sich in Regionen niederzulassen, in denen ein Versorgungsmangel besteht. In Anbetracht der auch in den Zentren grossen Versorgungsnot ist aber jede einzelne Niederlassung wertvoll. Als Teil der Foederatio Medicorum Psychiatricorum et Psychotherapeuticorum (FMPP) versucht die SGKJPP, auf der Ebene der Tarife und Vergütungen das zu erreichen, was in der heutigen gesundheitspolitischen Lage angemessen ist.

Es gibt seit Jahren eine «Parlamentarier:innengruppe Kindermedizin», in der sich über 40 Parlamentarier:innen regelmässig mit der Kindermedizin beschäftigen und die Kinder- und Jugendpsychiatrie auch stark vertreten ist; hier tut sich einiges. Wir müssen kontinuierlich dranbleiben und versuchen, eine kluge abgestimmte Mischung aus verschiedenen Ansätzen zu verfolgen, um auf den unterschiedlichen regionalen, kantonalen und nationalen Ebenen die Themen der Patient:innen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie voranzubringen. Dies ist ein langwieriges Unterfangen, das Konstanz und Zähigkeit erfordert, aber in unserem Team des SGKJPP-Vorstandes sehr gut gelingt. KJPP ist stets Teamwork, mal mit Familien, mal in Gremien, mal mit Kolleg:innen, immer fürs Kind!

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