
©
Getty Images/iStockphoto
Trainingstherapie bei gebrechlichen alterstraumatologischen Patienten
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Gregor Freystätter
Autor:
Prof. Dr. med. Robert Theiler
Klinik für Geriatrie, Universitätsspital Zürich<br> E-Mail: robert.theiler@usz.ch
Autor:
Prof. Dr. med. Heike Bischoff-Ferrari
Klinik für Geriatrie, Universitätsspital Zürich
30
Min. Lesezeit
27.09.2018
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Seit 10 Jahren wird die Trainingstherapie als eine Methode der Sekundärprävention bei Senioren und gebrechlichen Patienten propagiert. Der Slogan lautet: «Exercise is medicine.» Die meisten alterstraumatologischen Patienten haben einen Sturz erlitten und sich eine osteoporotische Fraktur («fragility fracture») zugezogen. Wie stark ist die Evidenz heute, dass eine gezielte Trainingstherapie weitere Stürze und damit auch Frakturen verhindern kann?</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Aus zwei Metaanalysen ergeben sich Hinweise, dass die Zahl sturzbedingter Frakturen durch eine spezifische Trainingstherapie reduziert werden kann.<sup>1, 2</sup> Die Daten zu Wirbelfrakturen sind jedoch unklar. Eine Limitation der beiden Metaanalysen besteht darin, dass die einzelnen zusammengefassten Studien sehr klein und das Patientenkollektiv heterogen waren. Wichtig wäre zudem eine getrennte Betrachtung von relativ robusten, leicht gebrechlichen («prefrail agers») und gebrechlichen («frail») älteren Patienten. Dieser Unterschied ist wichtig, da das Ausmass der Gebrechlichkeit ein wesentlicher Risikofaktor für erneute Sturzereignisse sowie deren Folgen darstellt.</p> <h2>Studien</h2> <p>In der Zürcher Hüftbruchstudie zu 173 mehrheitlich gebrechlichen Patienten mit akutem Hüftbruch und einem Durchschnittsalter von 84 Jahren (79 % Frauen) konnten durch ein im Akutspital instruiertes einfaches Heimprogramm, das über ein Jahr zu Hause weitergeführt wurde, eine Sturzreduktion von 25 % (signifikant) und eine Frakturreduktion von 56 % (p=0,08) erreicht werden.<sup>3</sup> Das Programm bestand aus einfachen Kräftigungsübungen für Beine (Hüft- und Kniestrecker sowie Abduktoren), Arme und Schultermuskeln mit Theraband und einer statischen Gleichgewichtsübung (Abb. 1).<br /><br /> In einer finnischen Studie mit 407 zu Hause lebenden Frauen im Alter von 70 bis 80 Jahren, die im Jahr zuvor einen Sturz erlitten hatten, wurde ebenfalls ein Heimprogramm mit Kräftigungs- und Gleichgewichtsübungen untersucht.<sup>4</sup> Die Teilnehmer nahmen neben dem Heimprogramm im ersten Jahr zweimal pro Woche und im 2. Jahr einmal pro Woche an einer Gruppentherapie teil. Bei der Auswertung nach 2 Jahren liess sich zwar kein Unterschied zwischen der Anzahl an Sturzereignissen feststellen, allerdings hatte die Trainingsgruppe 55 % (signifikant) weniger Stürze, die zu schweren Verletzungen oder Hospitalisationen führten.<sup>4</sup> Die Trainingsgruppe zeigte zudem, verglichen mit der Kontrollgruppe, eine signifikante Verbesserung bezüglich Beinkraft, Ganggeschwindigkeit und «repeated chair stands», was möglicherweise erklärt, warum es bei den Personen in der Trainingsgruppe zu weniger Verletzungen kam.<br /><br /> In einer grossen französischen Studie mit 706 Teilnehmerinnen im Alter von 75 bis 85 Jahren konnte ebenfalls ein Effekt eines gezielten Gleichgewichts- und Kräftigungstrainingsprogramms nachgewiesen werden.<sup>5</sup> Bei dieser Studie wurden zu Hause lebende Sturzrisikopatientinnen eingeschlossen (Personen mit verminderter Ganggeschwindigkeit und eingeschränktem Gleichgewicht). Nach 2 Jahren Trainingsintervention verbesserten sich die Patientinnen der Trainingsgruppe signifikant in allen Funktionstests und hatten 19 % (signifikant) weniger Stürze mit Verletzungen, verglichen mit der Kontrollgruppe. In der LIFE-Studie mit 1635 zu Hause lebenden Senioren im Alter von 70 bis 89 Jahren, die mindestens 400 Meter in 15 Minuten gehen konnten, wurde ein kombiniertes moderates Trainingsprogramm durchgeführt. Die Teilnehmer sollten jede Woche mindestens 150 Minuten gehen (dynamisches Gleichgewichtstraining) und zweimal pro Woche ein leichtes Kräftigungsprogramm der unteren Extremitäten und ein einfaches statisches Gleichgewichtsprogramm durchführen. Die Autoren konnten zeigen, dass sich die Trainingsgruppe in den funktionellen Tests wie «Short Physical Performance Battery» (SPPB) und «sit-to-stand» leicht verbesserte. Allerdings hatte das Trainingsprogramm keinen Effekt auf die Inzidenz von Gebrechlichkeit («Frailty», gemäss SOF-Definition).<sup>6</sup> Ausserdem zeigte sich in der Trainingsgruppe über 2,6 Jahre Follow-up eine 10 % ige Verminderung der Anzahl an Stürzen mit schweren Verletzungen.<sup>7</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1803_Weblinks_s70_abb1.jpg" alt="" width="700" height="515" /></p> <h2>Diskussion</h2> <p>Aufgrund der heutigen Datenlage muss das Trainingsprogramm für leicht gebrechliche und gebrechliche Patienten individuell angepasst werden. Sinnvollerweise besteht es aus einem aeroben Trainingsprogramm wie Laufen sowie gezielten Kräftigungsübungen der oberen und unteren Extremitäten, wie Stärkung der Hüftstrecker/Rotatoren und Abduktoren. Bei den Kräftigungsübungen sind spezifische Übungen zur Stärkung der vorderen, hinteren und seitlichen Rumpfmuskulatur extrem wichtig. Die Stärkung der Rumpfmuskulatur ist wesentlich, weil sich beim osteoporotischen Patienten die Statik der Wirbelsäule stark verändert und sich der Schwerpunkt meistens nach vorne verlagert. Diese Veränderung begünstigt – neben den anderen Faktoren wie gestörtem Gleichgewichtssinn, eingeschränktem Visus und reduziertem Gesichtsfeld – die Falltendenz.<br /> Die Rumpfkräftigungsübungen können nach einem akuten Trauma auch im Sitzen durchgeführt werden. Mattenübungen am Boden sind meistens nicht durchführbar. Zudem sollte das Training im Verlauf mit statischen und dynamischen Gleichgewichtsübungen kombiniert werden.<sup>8</sup><br /> Gemäss Datenlage ist eine Kombination von Heimübungen mit einer Gruppentherapie sinnvoll. Die Gruppentherapie dürfte auch einen wesentlichen Faktor zur sozialen Interaktion darstellen. Nach einem Trauma wird in der Regel eine Einzeltherapie durchgeführt. Im Verlauf werden der Schweregrad der Übungen und die Intensität gesteigert. Allerdings sollten erfahrene Therapeuten in den Behandlungsprozess involviert sein, da multimorbide Patienten häufig bereits voroperiert sind und mehrere Implantate tragen. Zudem wurden bei vielen Patienten auch Wirbelsäuleneingriffe mit Spondylodesen durchgeführt. Diese Voroperationen können das Therapiespektrum ebenfalls einschränken.<br /> Die Kombination von dynamischem Gleichgewichtstraining mit Koordinationsübungen ist ebenfalls sinnvoll. Bei stark sturzgefährdeten Patienten kann dieses Training nur mit einer Hilfsperson durchgeführt werden. In den letzten Jahren werden zunehmend Tanzgruppen für Senioren angeboten, welche die spezifische Dalcroze-Therapie mit Begleitmusik durchführen.<sup>9, 10</sup> Dies ist eine Kombination von dynamischem Gleichgewichtstraining, Koordinationstraining und kognitivem Training. Es ist heute noch nicht klar, ob diese Therapie vorwiegend sequenziell oder kombiniert durchgeführt werden soll.<br /> Die Indikationsstellung für eine gezielte Trainingstherapie sollte nach geriatrischer Abklärung in einem Kompetenzzentrum erfolgen. Zur einfachen Evaluation des Sturzrisikos in der Hausarztpraxis können der Tandemstand und der 6-Meter- Gehtest genutzt werden.</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Gillespie LD et al.: Interventions for preventing falls in older people living in the community. Cochrane Database Syst Rev 2012; (9): CD007146 <strong>2</strong> Kemmler W, Haberle L, von Stengel S: Effects of exercise on fracture reduction in older adults: a systematic review and meta-analysis. Osteoporos Int 2013; 24(7): 1937-50 <strong>3</strong> Bischoff-Ferrari HA et al.: Effect of high-dosage cholecalciferol and extended physiotherapy on complications after hip fracture: a randomized controlled trial. Arch Intern Med 2010; 170(9): 813-20 <strong>4</strong> Patil R et al.: Effects of a multimodal exercise program on physical function, falls, and injuries in older women: a 2-year community-based, randomized controlled trial. J Am Geriatr Soc 2015; 63(7): 1306-13 <strong>5</strong> El- Khoury F et al.: Effectiveness of two year balance training programme on prevention of fall induced injuries in at risk women aged 75-85 living in community: Ossébo randomised controlled trial. BMJ 2015; 351: h3830 <strong>6</strong> Trombetti A et al.: Effect of physical activity on frailty: secondary analysis of a randomized controlled trial. Ann Intern Med 2018; 168(5): 309-16 <strong>7</strong> Gill TM et al.: Effect of structured physical activity on prevention of serious fall injuries in adults aged 70-89: randomized clinical trial (LIFE Study). BMJ 2016; 352: i245 <strong>8</strong> Gschwind YJ et al.: A best practice fall prevention exercise program to improve balance, strength / power, and psychosocial health in older adults: study protocol for a randomized controlled trial. BMC Geriatr 2013; 13: 105 <strong>9</strong> Kressig RW, Allali G, Beauchet O: Long-term practice of Jaques-Dalcroze eurhythmics prevents age-related increase of gait variability under a dual task. J Am Geriatr Soc 2005; 53(4): 728-9 <strong>10</strong> Trombetti A et al.: ["Jaques-Dalcroze eurhythmics" improves gait and prevents falls in the elderly]. Rev Med Suisse 2011; 7(299): 1305-8, 1310</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
«Auch Patienten mit Demenz profitieren von einer chirurgischen Stabilisierung»
Patienten mit Hüftfraktur und einer leichten, mittelschweren oder schweren Demenz haben ein geringeres Risiko zu sterben, wenn sie operiert werden – vor allem wenn es sich um Kopf-Hals- ...
Management periprothetischer Frakturen am Kniegelenk
Mit steigenden Versorgungszahlen der Knieendoprothetik und dem höheren Lebensalter entsprechend der Alterspyramide nimmt auch die Zahl der periprothetischen Frakturen zu und stellt die ...
Patellofemorale Instabilität
In diesem Übersichtsartikel möchten wir ein Update über die aktuelle Diagnostik und die konservativen wie auch operativen Behandlungsmöglichkeiten der patellofemoralen Instabilität geben.